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Der Schatten ihres Hündchens
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eBook234 Seiten3 Stunden

Der Schatten ihres Hündchens

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Über dieses E-Book

Michael Weinmeister, Mitte 30, ist Werbetexter, fährt einen Alfa Romeo und hasst Radfahrer. Er arbeitet viel, verdient gut und kompensiert die Tatsache, dass er das, was er da tut, durchaus nicht als unproblematisch empfindet, mit Ironie und Sarkasmus. Auch seine Frau Christine, literarische Übersetzerin, steht der Konsumgesellschaft eher kritisch gegenüber und findet außerdem, dass Micha sich mit seinem in ihren Augen übertriebenen beruflichen Engagement kaputt macht. Eines Tages verlässt sie ihn.

Micha ist nicht bereit, die Trennung als definitiv zu akzeptieren. Er hofft auf eine Rückkehr Christines. Daher kommt es für ihn auch nicht in Frage, die gemeinsame Wohnung aufzugeben, obwohl die Miete hoch ist und ihm auch das Haus nicht sonderlich zusagt, zu dessen übrigen Bewohnern er keinerlei Kontakt hat. Seinen Job in der Werbeagentur könnte er unter diesen Umständen selbst dann nicht hinschmeißen, wenn er es wollte. Er braucht das Geld.

Auch mehr als ein Jahr nach Christines Auszug hat sich an der Situation der Beiden nicht allzu viel geändert. Man sieht sich alle paar Wochen – zu häufigeren Treffen ist Christine nicht bereit -, geht dabei durchaus freundschaftlich miteinander um, isst und trinkt zusammen, unterhält sich über die kleinen Begebenheiten des Alltags und wahrt ansonsten – vor allem körperlich – Distanz, weil Christine dies so möchte. Micha hat seine Hoffnungen zwar immer noch nicht begraben – nicht zuletzt, weil ihm scheint, dass Christine noch keine neue Beziehung eingegangen ist – aber er weiß auch nicht, wie er sie dazu bringen könnte, es noch einmal mit ihm zu versuchen.
In dieser festgefahrenen Lage – zumindest ist sie das aus der Sicht des Mannes – erhält Micha eines Tages unangekündigten Besuch. Und nun kommt mit einem Mal ziemlich viel Bewegung in das Leben aller Beteiligten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Feb. 2014
ISBN9783847677338
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    Buchvorschau

    Der Schatten ihres Hündchens - Martin Frech

    1.

    Ich hätte einfach nur irgendwann einmal akzeptieren müssen, dass ich ein paar Wochen lang aussehe wie frisch geohrfeigt. Nach einiger Zeit hätte sich meine Gesichtshaut ganz sicher an den neuen Apparat gewöhnt gehabt, und alles wäre gut gewesen. Ich hätte beim Rasieren endlich nicht mehr dieses rasenmäherähnliche Knattern im Ohr gehabt, sondern nur noch ein kaum hörbares, sanftes Summen und wäre während der allmorgendlichen Prozedur nicht mehr akustisch von meiner Umwelt abgeschnitten gewesen. Dann hätte ich auch das Telefonklingeln gehört am späten Morgen des Tages, an dem Christine aus Paris zurückkehrte. Ich hätte Jeremy gesagt, dass ich abends leider nicht mehr in Berlin sein würde, dass in zwei Stunden – oder in drei oder vier – meine Maschine nach Mailand starte – oder nach Sankt Petersburg oder Kuala Lumpur – und dass ich erst wieder in einem Monat zurückkäme. Ich hätte lebhaft bedauert, ihn nicht treffen und kennenlernen zu können, aber die Termine stünden schon seit langem fest, und eine Änderung sei jetzt, in allerletzter Minute sozusagen, niemandem zuzumuten, was er ja sicher verstehen werde. Er hätte es verstanden, und ich hätte abends dann ganz in Ruhe mit Christine den Hahn gegessen, den ich tags zuvor auf dem Markt gekauft hatte. Wir hätten uns gut unterhalten, diskutiert wie in den alten Zeiten, und wie der Abend dann geendet hätte, das wissen die Götter. (Wahrscheinlich nicht viel anders, als er tatsächlich geendet hat. Wahrscheinlich. Fast sicher. Aber eben nur fast.)

    Mit meinem alten Rasierer, an den sich meine Haut schon lange gewöhnt hat und auf dem sie sozusagen besteht, hatte ich keine Chance.

    Ich hatte mir extra frei genommen an diesem Tag, hatte ausgeschlafen, um etwas weniger abgehalftert auszusehen, hatte die Wohnung in Ordnung gebracht und alles vorbereitet. Ich hatte später auch den Radfahrer Martin-Luther- Ecke Hohenstaufenstraße nicht umgefahren, obwohl er das offensichtlich angestrebt hatte, so, wie er sich vor den Kühler meines Alfa schob, und obwohl ich ihm sehr gerne den Gefallen getan hätte. Ich mochte damals Radfahrer noch nicht besonders, und ich hatte auch nie das Gefühl, dass einer von ihnen mich mochte. Aber ich wollte rechtzeitig am Flughafen sein, und ich war rechtzeitig am Flughafen.

    Christine sah wunderbar aus, als sie in die Halle herauskam. Sie wusste nicht, dass ich sie abholte, sah mich zunächst auch nicht, und ich ließ sie einige Schritte gehen und folgte ihr mit den Augen. Sie wirkte überhaupt nicht müde und bewegte sich sofort zielstrebig auf den Ausgang zu. Ich habe ihr immer gerne beim Gehen zugeschaut. Besonders, wenn sie etwas schneller geht, schwingen ihre Arme auf eine Art nach hinten aus, die sie sehr weiblich und sehr begehrenswert macht. In diesem Moment vollführte allerdings nur der linke Arm diese Bewegung, und so beeilte ich mich schließlich doch, ein paar Schritte auf sie zu zu machen, um ihre Rechte von dem Koffer zu befreien. Der Moment war schön, als sie mich bemerkte, die Überraschung und auch die Freude, die sie zeigte. Sie freute sich wirklich. Sie blieb abrupt stehen, einen Moment lang stand ihr Mund offen, ohne dass ein Wort herauskam, dann sagte sie nur meinen Namen, dann fiel ihr Blick auf die Rosen, die ich in der Hand hatte – zugegeben ein ziemlich dicker Strauß, ich hatte alle genommen, die der Händler von dieser Sorte da gehabt hatte, weil ich wusste, dass sie sie mochte – schließlich schaute sie wieder mich an, lächelte und schüttelte leicht den Kopf. Sie sei doch gerade einmal zwei Wochen weg gewesen, sagte sie, und ich verbesserte sie und sagte, es seien zweieinhalb gewesen. Als wir im Freien waren, stöhnte sie, es sei ja noch genau so heiß wie bei ihrer Abreise, und ich fragte, ob es denn in Paris angenehmer gewesen sei und öffnete das Verdeck. Im Gegenteil, sagte sie, es sei noch schlimmer gewesen als hier, weil es ja kaum Bäume gebe in den Straßen. Sogar Raymond habe über die Hitze geklagt, obwohl für ihn als Katalanen ja diese Sommertemperaturen von Kindheit an Normalität gewesen seien. Er habe nur noch in den Jardin du Luxembourg gehen wollen, wenn sie zwischendurch einmal einen kleinen Spaziergang gemacht hätten, das sei der einzige Ort, habe er gesagt, wo man noch die Chance habe, ein bisschen Wind um die Nase zu bekommen.

    „Raymond?", sagte ich.

    „Raymond, ja. Sie schaute mich forschend an. „Bist du gerade ein bisschen geistesabwesend?

    Ich spürte, wie sich schlagartig in meiner Magengrube Ärger entwickelte und hochstieg. Ich hasste dieses Sich-ahnungslos-Stellen von ihr, und sie wusste es und tat es immer wieder. Wenn ich dann nachfragte, ganz direkt, und ihr keine Ausweichmöglichkeit mehr ließ, war sie es, die wütend wurde. Ich verkniff es mir also, eine Bemerkung dazu zu machen, dass sie und dieser Pellotier sich jetzt offensichtlich duzten und sagte etwas, was auf jeden Fall nicht besser war: „Und was habt ihr sonst noch so gemacht?"

    „Gearbeitet." Ihre Stimme klang mit einem Mal ziemlich kühl.

    Ich schwieg und fuhr los. Sie schwieg auch. Wir fuhren den Saatwinkler Damm hinunter, Richtung Moabit. Es hätte so schön sein können. In den Kleingärten zu unserer Rechten blühten Hortensien, Dahlien und Gladiolen, und in der zittrigen Luft über dem Grasstreifen zwischen Straße und Hohenzollernkanal schwankten Kohlweißlinge und Zitronenfalter. Wir aber schwiegen. Ich merkte, wie Christine mich von der Seite anschaute.

    „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig!?"

    Ich sagte, dazu hätte ich ja wohl kein Recht.

    Sie fuhr fort, mich anzuschauen. Ich schaute auf die Straße.

    „Raymond ist 72", sagte sie schließlich, in einem Ton, als würde das jede weitere Erklärung überflüssig machen.

    Ich sagte: „Goethe hat mit 73 noch Ulrike von Levetzow angebaggert. Da war sie gerade mal 18."

    „Er hat sie aber nicht gekriegt."

    Wir hatten vor ziemlich langer Zeit einmal beide an einem Hauptseminar mit dem Titel „Goethes Frauen in Leben und Werk" teilgenommen. Davon zehrten wir heute noch. Im Übrigen klang Christines letzte Bemerkung so, als sei dieses Thema damit für sie beendet. Für mich war es das keineswegs.

    „Und Raymond?", fragte ich weiter und wusste im selben Moment, dass dies eine Frage zu viel gewesen war. Ich hätte viel dafür gegeben, sie wieder zurücknehmen, auslöschen zu können, so, wie ich auch immer wieder Worte und Sätze auf dem Bildschirm auslösche, aber was gesagt ist, ist gesagt, und was gehört ist, ist gehört, und jetzt würde alles umsonst gewesen sein: der freigenommene Tag, die Aufräumaktion zu Hause, der Hahn, die sorgfältige Rasur, das Hetzen zum Flughafen im Berufsverkehr, alles. Christine würde jetzt schreien, toben, explodieren, würde mich sofort anhalten lassen und ihren Koffer aus dem Kofferraum zerren, und den Rest des Tages würde ich dann nach Belieben verbringen können, aber auf jeden Fall ohne sie. Dies alles wurde mir im selben Moment klar. Und letztlich ging diese Reaktion ja auch in Ordnung. Ich hatte nicht das Recht, sie nach solchen Dingen zu fragen oder sogar irgendwelche Geständnisse von ihr zu fordern. Wir waren getrennt, schon seit mehr als einem Jahr, und keiner hatte Ansprüche an den andern zu haben, und ich hatte ja auch keine. Aber ich hatte Wünsche und Sehnsüchte und Hoffnungen, ich war voller Begehren und auch voller Gier danach, sie zu sehen, sie zu berühren – was ich nicht durfte –, sie zu besitzen – was natürlich vollkommen unmöglich war. Ich war dumm, keinen Schlussstrich zu ziehen, ich war dumm, etwas immer noch für möglich zu halten, was schon lange nicht mehr möglich war, und ich war dumm, sie nicht ernst zu nehmen, wenn sie mir genau das sagte.

    Der erwartete Ausbruch kam nicht. Nichts kam, kein Wort. Ich drehte mich zu ihr hin, und sie lächelte mir direkt ins Gesicht. In ihrem Lächeln lag Enttäuschung und Verachtung und Überdruss.

    „Dafür hast du mich also abgeholt, sagte sie endlich mit ganz ruhiger Stimme, „um mich zu verhören. Dann wandte sie sich ab, ihr Lächeln verschwand allmählich, und sie schaute nur noch vor sich hin. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Kurz vor der Schleuse brach es dann endlich aus ihr heraus, laut und roh: „Ich will mich aber nicht verhören lassen! Und deinen Rosenbusch will ich auch nicht!" Sie drehte sich um, packte den Strauß, der mich immerhin an die hundert Euro gekostet hatte, und stieß ihn auf die Straße.

    Noch bevor sie mich auffordern konnte, auf der Stelle anzuhalten und sie aussteigen zu lassen, trat ich auf die Bremse, gab aber sofort wieder Gas, weil fast im selben Moment die Reifen meines Hintermannes quietschten und seine Hupe die Sommerluft zerschnitt, schlüpfte etwa zwanzig Meter weiter in eine Lücke auf der Parkspur, stürzte aus dem Auto und rannte zurück zu dem Blumenstrauß, der mitten auf der Gegenfahrbahn lag. Das heißt, ich wollte zurückrennen. Ich hatte höchstens zwei oder drei Schritte gemacht, als ein Lastwagen mit Anhänger das Bouquet überrollte, es in ein Knäuel aus zerbrochenen Stielen, zerfetzten Blättern und zerquetschten Blüten verwandelte – und damit die Situation rettete. Denn was hätte ich getan mit dem Busch, wie Christine den Strauß zu nennen beliebte, wenn ich zu seiner Rettung nicht mindestens mein Leben riskiert gehabt hätte? Wie ein Trottel hätte ich damit vor ihr gestanden und hätte nichts geerntet als Verachtung. So aber taten ihr die grausam zugerichteten Rosen leid, und das kleine Sträußchen aus Schafgarbe, Taubnesseln und Hirtentäschel, das ich ihr als Ersatz geistesgegenwärtig auf dem Grünstreifen neben dem Kanal pflückte, rührte sie, und sie holte ihren Koffer nicht aus dem Kofferraum, sondern entschuldigte sich sogar und lächelte mich wieder an, ein bisschen jedenfalls, und ich durfte sie vollends nach Hause fahren.

    Sogar meine Einladung zum Essen am Abend nahm sie an!

    2.

    „Ich bin ausgezogen. Christine."

    Der Zettel, ein Blatt unseres Tagesabreißkalenders, auf dessen rechten Rand die wenigen Worte gekritzelt waren, lag auf meinem Bett und enthielt keine weiteren Mitteilungen. Ich betrachtete mir kurz das Bild darauf, ein Gemälde von Camille Pissaro, das eine Ansicht des Pont-Neuf in Paris zeigte, dann zog ich mich aus und legte mich hin. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob Christine nur einfach einen Spaß hatte machen wollen oder ob sie wirklich verärgert war. Es war mir egal. Wir hatten zwei Tage später eine Präsentation, an der auch eine große Hamburger und eine Düsseldorfer Agentur teilnahmen, es war ein lohnender Etat, und wir mussten einfach etwas tun, wenn wir eine Chance haben wollten. Sie wusste das, und wenn sie trotzdem der Meinung war, mir zeigen zu müssen, dass sie mit meinem späten Nachhausekommen nicht einverstanden war: bitte! Ich stellte den Radiowecker auf elf Uhr, überlegte es mir aber noch einmal anders, drückte erneut auf das Einstellknöpfchen und machte aus der zweiten Eins eine Zwei. Fünf Stunden Schlaf hatte ich mir verdient nach fast zwanzig Stunden Arbeit.

    Pünktlich um zwölf, mit dem letzten Ton des Zeitzeichens, schaltete sich das Radio ein, und die Mittagsnachrichten verscheuchten ziemlich schnell das Gefühl der Bedrückung, das ich unmittelbar nach dem Aufwachen noch empfunden hatte. Nicht, dass mich die Meldungen über einen Flugzeugabsturz vor der Westküste Afrikas, die Stolpersteine, die der Irak UN-Rüstungsinspektoren in den Weg legte oder die in bestimmten Teilen der SPD geführten Diskussionen über die Anhebung des Spitzensteuersatzes in besonders gute Stimmung versetzt hätten. Aber sie waren immer noch viel besser – oder sagen wir: ein bisschen besser – als der Alptraum, den ich wieder einmal gehabt haben musste und an dessen Einzelheiten ich mich, wie meistens, nicht mehr erinnern konnte. Christine sagte immer, ich sei gut im Verdrängen, und das sagte sie so, als ob das ein Makel wäre oder doch zumindest eine Schwäche, die man bestrebt sein müsse, so schnell und so gut wie möglich zu beheben. Ich hatte ihr einmal geantwortet, dass die Fähigkeit zu verdrängen von der Natur in uns angelegt worden sei, um die Welt besser ertragen zu können, und dass es jede Menge Dinge gebe, die man besser nicht dauernd mit sich herumschleppe, aber sie behauptete, dass einen die Monster dann eben im Schlaf überfielen, wie die Tatsache, dass ich ständig von Alpträumen heimgesucht würde, ja beweise. Wir diskutierten oft so lange, bis Christine sagte, wir seien eben sehr verschieden und passten eigentlich gar nicht zusammen, und irgendwann würden wir uns wohl doch trennen müssen. Ich sagte dann, sich zu trennen, weil der eine Alpträume habe und der andere sich beim Aufwachen nicht mehr erinnere, selbst auch welche gehabt zu haben – „ich habe keine", pflegte Christine mich an dieser Stelle zu unterbrechen – sei doch ziemlich originell, und Christine giftete zurück, ich wisse genau, dass es nicht das sei, sondern meine Art, mit Dingen umzugehen, die ich selber als falsch und schädlich erkannt hätte und trotzdem täte, weil es nun einmal das Bequemste für mich sei, und ich würde einfach den Gedanken an das Falsche und Schädliche meines Tuns beiseiteschieben und fröhlich weitermachen. Dabei war ich im allgemeinen gar nicht sehr fröhlich, wenn ich an meinem Mac saß und sogenannte Fließtexte für Folder und Broschüren fabrizierte – denn das meinte sie mit dem „falschen und „schädlichen Treiben, das sie mir vorwarf. Ich galt in unserer Agentur als Spezialist für Texte, die aus mehr als zwei kurzen Sätzen bestanden und in denen womöglich sogar noch hier und da ein Komma oder, ganz exotisch, ein Strichpunkt unterzubringen war: Fließtexte eben. Günter und Robert, die beiden anderen Texter, die in schöner Regelmäßigkeit darauf verwiesen, dass sie eher fürs Creative zuständig seien, nämlich für Slogans und Headlines, Günter und Robert schoben mir so oft wie möglich die entsprechenden Jobs zu. Ich war im Übrigen beim Abfassen meiner Texte auch nicht unfröhlich, obwohl ich vielleicht ab und zu so aussah, sondern einfach konzentriert, weil es nun einmal ein gewisses Maß an Konzentration erfordert, die beworbenen Produkte so zu präsentieren, als wären sie mindestens perfekt, ohne dabei den Eindruck zu machen, zu dick aufzutragen oder gar zu lügen. Womit wir wieder bei Christines Vorwurf wären, ich würde die Leute „verarschen – auch das ein Wort aus ihrem Mund –, dies auch eigentlich nicht gut finden, aber des Geldes wegen damit weitermachen. Mit anderen Worten: ich würde mich verkaufen, weswegen sie sich auch dazu berechtigt fühlte, von meiner Arbeit als einem „Hurenjob zu sprechen. Dass auch sie jahrelang von meinem Hurenlohn lebte, weil sie mit ihren tatsächlich in keinerlei Hinsicht zu beanstandenden Literaturübersetzungen einfach nicht genug verdiente, um ohne Magenknurren die Zeit zwischen einer Honorarzahlung und der nächsten zu überstehen – von anderen Annehmlichkeiten wie Auto, gut gestalteten Möbeln oder Urlaubsreisen ganz zu schweigen – schien sie dagegen kaum anzufechten. Als sie mich eines Tages in Zusammenhang mit meiner Arbeit als Werbetexter mit dem guten alten Satz konfrontierte, es gebe kein richtiges Leben im falschen, gab ich ihr genau dies zu bedenken: dass, wer sein eigenes Leben auf dasjenige von jemandem stütze, der seines „falsch – was auch immer das bedeuten möge – führe oder organisiere oder gestalte, dass dieser Mensch auch selbst kaum als jemand bezeichnet werden könne, der seinerseits ein „richtiges Leben führe, ganz gleich, wie gut und schön und tadellos – natürlich alles Begriffe, die hinterfragt und definiert werden müssten – dieses Leben auch aussehe oder letztlich sogar tatsächlich „sei". Erstens. Und zweitens – denn schließlich lag es nicht in meiner Absicht, sie von meiner Seite oder gar aus meinem Leben zu vertreiben, und schon von daher musste es diesen zweiten Punkt geben, aber natürlich auch und zuallererst aus Gründen der Logik – zweitens also könne man den Satz auch noch ein bisschen erweitern und sagen, es gebe kein richtiges Leben in der falschen Gesellschaft, und dann werde es wirklich problematisch. Denn einerseits müsse man wohl nicht lange erläutern, dass unsere Gesellschaft der Konsumgeilheit – „für die du mitverantwortlich bist!, warf Christine sofort ein, was ich in diesem Moment keine große Lust hatte zu bestätigen, weshalb ich einfach mit meiner Aufzählung fortfuhr –, der Kinderpornos, der Berge von Verkehrstoten und der gnadenlosen Verdummung durch die Medien nicht die „richtige sein könne. Doch andererseits: Solle man deswegen weggehen und wenn ja, wohin bitte? Wo hielten wir es denn überhaupt aus, so, wie wir zu leben gewohnt seien? In welcher ganz anderen Umgebung – und ganz anders müsse sie schon sein, wenn sie nicht ganz so falsch sein solle wie diejenige, in der wir lebten – in welcher ganz anders gearteten und organisierten Umgebung würden wir denn nicht sofort zugrunde gehen oder jedenfalls binnen kürzester Zeit? Und „nicht ganz so falsch sei ja noch nicht einmal ausreichend – „richtig müsse sie sein! Wo gebe es sie denn, diese Gesellschaft? Wo? Wir einigten uns schließlich auf das, was wir ohnehin schon gewusst hatten, nämlich dass ein solches Gemeinwesen nicht existiere und man daher genauso gut hier bleiben könne, um sich hier schuldig zu machen. Wir einigten uns weiterhin darauf, dass alles relativ sei – was uns ebenfalls schon bekannt gewesen war -, dass man also auch nur ein relativ richtiges Leben führen könne, was Christine auch tue, dass ich hingegen ein relativ falsches Leben führte, aber immerhin kein ganz falsches, da ich ihr ja mit meinem relativ falschen Leben ihr relativ richtiges ermöglichte. „Du bist also kein ganz großes Schwein, sondern nur ein mittleres", schloss Christine unsere Diskussion ab, und da ich spürte, dass mehr für mich an diesem Tag nicht drin war, ließ ich den Satz so stehen. Erschöpft von den Auseinandersetzungen begaben wir uns ins Schlafzimmer, wo wir uns jedoch schon bald wieder auf der neuen Umgebung angemessene Art gegenseitig provozierten, gemeinsam außer Atem kamen und endlich ermattet und befriedigt den Tag beschlossen.

    Schon seit längerer Zeit diskutierten wir nicht mehr so oft, in den letzten

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