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Künstliche Aussichten
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eBook163 Seiten2 Stunden

Künstliche Aussichten

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Über dieses E-Book

Der Liebe seines Lebens begegnet man höchstens einmal - wenn überhaupt. Stimmt diese These? Und wenn sie stimmen sollte, kann man danach überhaupt noch Kompromisse schließen?
Daniel begegnet Viola und verliebt sich sofort in sie. Zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt ist er nun mit dem Phänomen Liebe konfrontiert. Doch kann sie sich für ihn erfüllen? Ist das überhaupt erstrebenswert? Mit zunehmender Zeit wird das Ganze für ihn jedoch illusorisch. Erst, als überraschend eine alte Bekannte aus frühen Studientagen wieder auftaucht, scheint es für ihn die Chance einer Klärung seiner Situation sowie eines Neubeginns zu geben.
Der Autor stellt mehrere Beziehungskonszepte vor, anhand derer er die gelegentliche Unerfüllbarkeit der Sehnsucht nach großen Gefühlen angesichts der sie umgebenden Realitäten aufzeigt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2015
ISBN9783738038217
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    Buchvorschau

    Künstliche Aussichten - Roger Diehl

    Kapitel 1: Schuljahre

    Du hieltest mich fest und fern

    von dir ging ich beinah leicht

    Ulla Hahn

    Was immer erahnt wird oder gar zu der Hoffnung auf Erfüllung Anlass gibt, wenn man sich dem Reiz einer Person ausgesetzt sieht, es kann Sehnsüchte wecken, die schon weit ins Unterbewusstsein verlagert oder fast vergessen sind durch Verdrängungsprozesse, durch lange währende Vorläufe. Einst zaghaft angedachte Lebensentwürfe, die im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen oder gar beschädigt wurden, schieben sich plötzlich zumindest in Gedanken wieder in den Vordergrund, in den Bereich des Machbaren, und es stellt sich dasselbe Gefühl ein, von dem man beispielsweise bei dem Betrachten alter Zeugnisse, die man gelegentlich verschämt aus einem alten Ordner hervorholt, heimgesucht wird. Vielleicht gibt es tatsächlich noch eine Möglichkeit hin zu dem, was man etwa mit dem grauenhaften Begriff »Selbstverwirklichung« umschreiben könnte.

    Es ist einer jener Abende am Wochenende, an denen er alleine unterwegs ist. Tanzen kann er nicht, also muss ihn seine Unbestimmtheit, die er vor sich selbst in vorzüglicher Weise sogleich als Couragiertheit verbucht, in diese Diskothek gespült haben. Sie sitzt an einem der leicht erhöht stehenden, kleinen Tische, die durch eine Balustrade von der Tanzfläche getrennt sind, und unterhält sich mit einer wesentlich jüngeren Frau, als er sie zum ersten Mal wahrnimmt. Sie sieht etwas allzu beiläufig in seine Richtung mit einer Art von Selbstverständlichkeit, mit der er nicht umgehen kann - als ob sie sich schon seit Jahren kennen würden. Gewiss, die scharfkantigen, prüfenden, was seinen Fall betrifft auch gelegentlich missbilligenden Musterungen reifer Frauen haben Daniel immer schon gehemmt, aber hier - das ist etwas gänzlich Anderes, Neues. In ihrem Blick ist wesentlich mehr, als er ertragen kann. Eine in sich ruhende, kühle Mahnung zum Bekenntnis. Er hat das Gefühl, dass sie mehr über ihn weiß als er selbst; alles in allem eine ganz entschieden zu indiskret gewirkte Attitude, die ihn vermutlich an jedem anderen Menschen stören würde, die scheinbar genau dort hingreift, wo er am wehrlosesten ist, dort, wo seine Lebenslügen versteckt sind. Er versucht noch verzweifelt, sie systematisch zu übersehen, doch er merkt gleich, wie angestrengt lächerlich und gleichermaßen vergeblich dieses Unterfangen angesichts ihres Habitus wirken muss. Sie nötigen sich noch ein kurzes, qualvolles Lächeln ab, dann spürt er, dass er weg muss, weg aus ihrem Kraftfeld, an eine andere, möglichst weit entfernte Stelle, besser noch in einen anderen Raum dieses Riesentanzschuppens. Doch dazu müsste er zurück und damit zwangsläufig ihren Tisch passieren, da die übrigen Gänge der überfüllten Diskothek nahezu blockiert sind.

    »Bei uns ist noch ein Platz frei«, signalisiert ihm die Jüngere mit erfrischender Unbefangenheit, als er sich bei ihnen vorbeistehlen will.

    »Hier neben meiner Schwester.«

    »Einen anderen Platz werden sie nicht mehr finden, es wäre sinnlos.«

    Es war der erste Satz überhaupt, den er aus Violas Mund hörte.

    »Danke, angenommen, sie haben mich gerettet, mein Name ist Daniel.«

    »Meine Schwester Marion ist manchmal etwas ungestüm, sehen sie ihr die vorlaute Art bitte nach. Sie hat die Unbekümmertheit, die uns beiden fehlt. Ich heiße übrigens Viola.«

    »Könnten wir nicht das steife Sie für den Rest des Abends verbannen, es passt nicht zu diesen Räumen«, fragt Marion, nachdem sie sich ebenfalls vorgestellt hat.

    »Dafür umso besser zu uns beiden, nicht wahr, Daniel«, bemerkt Viola daraufhin süffisant und blickt ins Leere.

    »Das befürchte ich auch«, erwidert Daniel mit einer Mischung aus Stolz und Befriedigung, die er sich nicht erklären kann.

    Irgendwie hat er das Gefühl, dass seine durchaus gelegentlich mit Zügen von Trash behaftete Träumerexistenz gerade einer äußersten Überprüfung unterzogen wird. Der Preis für die Unbestechlichkeit von Gefühlen scheint Beklemmung zu heißen, steigt in ihm leise die Vorahnung auf.

    In der Folge versucht Daniel, wie meist, wenn er gehemmt ist, künstlich ein Gespräch in Gang zu setzen, stellt Fragen, die keine sind, will Antworten geben auf Fragen, die niemand gestellt hat. In solchen Momenten hasst er sich, dann hat er sich selbst in Verdacht, einer jener Spießbürger zu sein, vor denen er sonst stets auf der Hut sein will. Doch diese Umschreibung ist in Bezug auf seine Befindlichkeiten, was solche Situationen betrifft, noch nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit liegt das ganze Szenario, mit dem er momentan konfrontiert ist, zu nahe, zu greifbar vor ihm, als dass er es aufnehmen könnte. Vielmehr ist es so, dass seine stets präsente Hirnakrobatik, seine vor allem, was Frauen betrifft, oftmals von klischeehaften oder gelegentlich gar fetischisierten Vorstellungen durchdrungene Phantasie keine unmittelbaren Schlussfolgerungen und schon gar keine Gefühlswallungen zulässt. Noch bis vor wenigen Jahren glaubte er beispielsweise allen Ernstes, die Tatsache, dass Apothekerinnen oder entsprechende Mitarbeiterinnen oftmals einen Halsschal tragen, sei einer gewissen Art von vornehmer Zurückgenommenheit geschuldet; dass dies ganz handfeste praktische Gründe hat, die mit den Befindlichkeiten der Kundschaft zusammenhängen, dämmerte ihm erst langsam. Direkte Wege sieht er zwar, aber er kann sie nicht gehen. Als versierter Jongleur seiner Ahnungen muss sein geistiges Auge zuerst das Tableau sämtlicher möglichen Fort - und Rückschritte begutachtet haben, bevor der erste überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Das ist nicht nur mühsam, sondern in den letzten Jahren auch mit einer sanften Zunahme an Zwangsneurosen befrachtet, was ihn schon seit geraumer Zeit beunruhigt. So hatte es ihm vor nicht allzu langer Zeit einmal eine Ingenieurin schwer angetan, die er zufällig kennengelernt hatte, die er auf den ersten Blick von ihrem ganzen Wesen her für eine Krankenschwester gehalten hätte. Aber sie war eben keine, und enttäuscht über seine Fehlannahme wollte sich in seinem Kopf kein belastbares Bild mehr runden. Auf diese Weise hat er in der Vergangenheit schon etliche Chancen verpasst.

    »Wofür sind wir eigentlich hier, Daniel?«

    »Zum Tanzen natürlich, wozu sonst«, hört er sich mit einem Anflug gespielter Euphorie widerwillig aufsagen.

    »Na?«

    »Ich bin nicht gerade ein guter Tänzer.«

    »Solange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren.«

    So überwindet sich Daniel und fordert Viola zum Tanz auf; man sollte wohl eher sagen: Er begibt sich in ihre Hände. Und sie nimmt ihn mit - was gar nicht mehr nötig gewesen wäre, schließlich hat sie ihn zu diesem Zeitpunkt doch schon längst. Sie wirken beide seltsam deplatziert hier in diesen Räumen. Viola eigentlich nicht so sehr durch ihr Äußeres - sie trägt eine dünne, von seriöser Geschmackssicherheit zeugende, dezente Bluse, welche jedoch in Kombination mit dem eine Spur zu lasziv arrangierten BH, der von hautfarbenen Plastikträgern zusammengehalten wird, offensichtlich mehr erahnen lassen soll, als zu ihr passen würde, und somit ihre Gesamterscheinung eher konterkariert, geradezu so, als ob sie ihrer äußeren Wirkung nicht trauen würde, und eine enge, abgetragene Jeanshose, die oben sorgfältig in den Schritt gezogen ist - als vielmehr durch ihre Aura. Sie strahlt auf ihn etwas aus, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht entziffern kann, etwas, was ihn gleichwohl reizt bis zum Äußersten. Viola ist nicht viel kleiner als er, und zusammen mit ihren daher unnötig hohen, etwas altmodisch anmutenden Stöckelschuhen, die wie emailliert aussehen, überragt sie ihn sogar leicht, muss das Ganze auf Außenstehende so wirken, als ob sie ihn, den Verzagten, mittels raumgreifender Schritte an sicherer Hand über das Parkett ziehen würde. Das zähnebleckende Lächeln, das sie ihm dabei gelegentlich zukommen lässt, kann dabei nur heißen: Du bist zwar der schlechteste Tänzer, der mir je untergekommen ist, aber, vorausgesetzt, du begibst dich ab sofort in meine Hände, so könnte selbstverständlich auch in diesem Punkt Abhilfe geschaffen werden.

    Doch jenseits ihres saloppen Gehabes wird auch noch etwas anderes für ihn spürbar, schimmert - für Bruchteile von Sekunden zwar nur, aber dennoch sichtbar - eine wohl leicht zu verletzende und wahrscheinlich auch schon verletzte Note durch ihren Blick, die aus ihrem Innersten zu kommen scheint, die dann in eine Form von Ernsthaftigkeit mündet, die von nichts anderem mehr als Vollkommenheit künden kann, die ihn so sehr anspricht und für sie einnimmt, dass sie ihm sämtliche Auswege versperrt - gut überspielt immerhin mittels einer eisernen Maskerade, aber nicht gut genug für ihn; denn, wenn er wirklich etwas gelernt hat in diesem Leben, dann besteht es wohl mit Sicherheit darin, die entscheidenden Informationen stets zwischen den Zeilen zu suchen, das Ungesagte, das durch die Tonlage mitschwingt, zu deuten. Der Gestus sowie die Körpersprache in als unbeobachtet angenommenen Momenten sagen ihm meist mehr oder etwas anderes über jemanden, als dieser darzustellen beabsichtigt. Ebenso charakterisiert für ihn die Art der Sprache, weniger, was konkret gesagt wird, oftmals sein Gegenüber, wobei er gerade in diesem Punkt immer häufiger eine sich verstetigende Unmäßigkeit, die sich darin ergeht, aus wirklich allem etwas herauslesen zu wollen, an sich festzustellen glaubt, die von seiner Umgebung zuweilen als Impertinenz oder gar einen Hang zur Indiskretion wahrgenommen zu werden scheint, und die nicht selten auch ihn selbst zu Fehlannahmen verleitet, die er dann oftmals nur mit viel Mühe und gemessener zeitlicher Distanz an sich heranlässt. Das liest er jedenfalls gelegentlich aus ihm gegenüber verstört wirkenden Gesichtern ab.

    Was er zum Ausgang des Abends zu seiner Überraschung noch in Erfahrung bringt, ist, dass Viola aus Ostdeutschland stammt und in Österreich aufwuchs, nachdem sich ihre Mutter bei einer internationalen Sportveranstaltung abgesetzt hatte und eine erneute Ehe mit einem Mann eingegangen war, der in Graz lebte. Dort ist dann ihre wesentlich jüngere Halbschwester Marion geboren, mit der sie momentan zusammenwohnt. Viola arbeitet schon seit langem an der hiesigen Universitätsbibliothek.

    Als sie das Tanzlokal gemeinsam verlassen, unternimmt er noch einen kläglichen Versuch, mit Viola zu flirten zu wollen, was er nicht nur nicht kann sondern auch seinem Naturell völlig zuwiderläuft, was sie selbstverständlich durchschaut und ihn daraufhin schroff am Arm zur Seite zieht.

    »Marion und ich sind gemeinsam mit nur einem Auto da; sie hat immerhin den Kontakt zwischen uns hergestellt; sollen wir sie zum Dank allein nach Hause schicken? Also lass gefälligst das Geplänkel, es passt überdies nicht zu uns beiden! Wir haben schon zu viel zusammen versäumt, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wenn du mir etwas zu sagen hast, hier ist meine Telefonnummer. Überlege gut, aber überlege nicht zu lange! Danke für den Abend. Mach's gut, Daniel.«

    Daniel hatte bereits eine langjährige Beziehung zu diesem Zeitpunkt zu einer Russin namens Tamara, die für ihn alles zu erbringen schien, was er zu benötigen meinte. Diese lernte er erst mit Mitte dreißig kennen. Sie hat ihm sogar eine schon erwachsene Tochter überantwortet, die ihn bis heute ohne innere Not Vater nennt und ihm im übertragenen Sinne auch schon zwei Enkelkinder geschenkt hat. Ja, »im übertragenen Sinne«: Es gibt wohl kaum einen Ausdruck, der seine Befindlichkeiten, seinen Zugang zur Realität oder vielmehr das, was er dafür hält, besser charakterisiert. Denn wirkliche Bindungen hat er keine zu seiner Umgebung, ganz zu schweigen von Freundschaften.

    Natürlich wohnt man nicht zusammen, das wäre für ihn entschieden zu viel aufgebürdeter Lebenspraxis, vor allem aber wäre es eine empfindliche Beeinträchtigung seines gedanklichen, meist zu nichts führenden Pseudoperfektionismus, den er niemandem zumuten will, der ihm wenigstens halbwegs nahezustehen glaubt.

    Er machte ihre Bekanntschaft während seines letzten Ganges zur Universität, als er sein Zeugnis abholte - zeitlich die perfekte Nachzeichnung eines Neubeginns, zusammenfallend mit der Beendigung eines lange andauernden, strapaziösen Irrlaufes, der ihn fast die Existenz gekostet hätte und ihn zumindest materiell noch nachhaltig behindern würde, fehlte zu diesem Zeitpunkt doch bereits eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Rentenbeitragsjahren. Zum Glück haben ihn materielle Szenarios weder im Guten noch im Schlechten jemals ernsthaft berührt. Das ist wohl einem jener Effekte der ihm angediehenen Erziehung geschuldet, die seine Mutter gegen sämtliche Widerstände durchsetzen konnte.

    Schon der Beginn seines schulischen Werdegangs in Richtung Gymnasium eingangs der siebziger Jahre war aus seiner heutigen Sicht weniger der Intention der Eltern, ihn einmal finanziell oder materiell besser gestellt zu sehen als vielmehr dem Drang nach Aufbruch und, was seine Mutter betrifft, Ausbruch aus ihrer inneren Bedrängnis, geschuldet, wofür sie in seiner vermeintlich vorzeichenbarer und vor allem konstruierbarer Entwicklung das geeignete Instrument wähnte.

    Seine Eltern waren zwei Menschen, die sich wohl besser übersehen hätten, aber das war kaum möglich, denn sie entstammten Nachbarshäusern innerhalb einer Bergarbeitersiedlung, in denen dennoch die innerfamiliären Ausprägungen unterschiedlich in fast jeder denkbaren Beziehung waren. Sein Vater war zu jener Zeit jemand, der über Meisterbrief bei gleichzeitigem Hausbau sowie Weiterbildung zum Techniker zäh seine Lebensbahn zog, der auch schon eine gewisse kühle Modernität ausstrahlte, die zu der Hoffnung gereichte, zum immer noch allgegenwärtigen Muff der Fünfziger zumindest auf

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