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Jungens sind Jungens: Bube sind Bube
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eBook330 Seiten4 Stunden

Jungens sind Jungens: Bube sind Bube

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Über dieses E-Book

Dieses ist die Geschichte einer Kindheit und Jugend in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Es ist zugleich die Geschichte eines Jungen, der sich auf die Suche nach seinem Ursprung macht. Er bemerkt, dass die Welt der Großen voller Lüge ist und alle ihm etwas verheimlichen. Gut und Böse sind nicht immer klar zu unterscheiden. Worte haben oft mehrere Bedeutungen und lenken ihn auf falsche Spuren. Die Schule vermittelt etwas Wissen, aber er sucht mehr. Die Religion und das Wort Sünde verkompliziert die Suche noch mehr. Mit seinem Freund Max entdeckt er erschreckende Geheimnisse.
Doch die Wahrheit ist noch viel schlimmer. Aber auch von einer unerwarteten Herrlichkeit! All die gefundenen Fäden führen langsam zusammen und verflechten sich zu einem Leben, dem seinigen…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Apr. 2017
ISBN9783742792372
Jungens sind Jungens: Bube sind Bube
Autor

Wolfgang Bendick

Geboren 1948 im Münsterland, verbringe ich meine Kindheit am Halterner See. 1959 zieht die Familie nach Bayern. 1964 mache eine Ausbildung auf See bis zum Matrosen. Von 1967 bis 1971 mache ich das humanistische Abitur. Nachdem ich ‚Hair‘ und ‚Woodstock‘ gesehen habe, ist klar: auf nach Osten! Auf dem Hippie-Trail bis Indien, Australien und halb Amerika. Folgen erneute Reisen, dann Zivildienst, eine Gärtnerlehre, die ersten 2 Kinder. 1980 siedeln wir nach Frankreich, um Bio-Bergbauer zu werden.

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    Buchvorschau

    Jungens sind Jungens - Wolfgang Bendick

    Impressum

    Text: © Copyright by Wolfgang Bendick

    Umschlag: © Copyright by Lucia Bendick

    Webseite: wolfgangbendick.com

    Erstmals erschienen im April 2017

    Zweite Auflage (Taschenbuch), September 2019

    Überarbeitete Auflage, August 2023

    Umschlagfotos : Pamir 2, zwei Brüder

    Widmung

    Sunt pueri pueri, pueri puerilia tranctant

    ( Bube bleibet Bube )

    *

    Für meinen Bruder

    *

    Wir hatten zwar die gleichen Eltern

    wurden aber zu zwei verschiedenen Wesen

    Der Irrtum des Klapperstorchs

    Ich erblickte an einem 2. Januar 1948 um neun Uhr morgens das Licht der Welt. Auf einem Strohsack. Nicht in einer Krippe, dazu waren wir zu arm. Die erste Erinnerung an mein Erdendasein waren die Worte: „Willst‘ n Titi? Das muss mein Vater gewesen sein, und die Antwort meiner Mutter: „Vati, der ist doch jetzt zu groß dazu. Erinnere ihn doch nicht daran! Eine weitere Erinnerung ist die, aus dem Dunkel zum Licht zu steigen. Aber das kann genauso gut auch später gewesen sein. Denn wir wohnten an einem See und wie oft fiel ich vom Steg ins Wasser! Und genausooft zog mich jemand wieder hinaus. War das schön, den glänzenden Spiegel über mir zu durchbrechen und wieder die Lungen mit Luft zu füllen! Doch irgendwie war es da unten auch schön. Das Wasser übte immer eine große Anziehung auf mich aus, wie eine Kerze auf die Motten. Doch ebenso hatte alles andere Verbotene eine große Faszination für mich. Nach so einem kalten Bad zog man mir die festklebenden Kleider vom Leib, riss mir dabei halb den Kopf und die Ohren ab. Dann rieb man mich heftig mit einem rauen Handtuch, vielleicht, dass ich mir merken sollte, was mir das nächste Mal bevorsteht. „Wenn du das nochmal machst, kriegst du ‘ne ‚Abreibung‘!" Das war nur eine Umschreibung für eine ‚Tracht Prügel‘, oder ‚Wucht‘, man ‚versohlte‘ mich, ‚gab mir den Hintern voll‘. Es gab viele Worte für diese seit Menschengedenken angewandte Erziehungsmethode, deren Erfolg zu widerlegen ich mir schon früh als Aufgabe gestellt hatte.

    Eigentlich hätte ich ein Mädchen sein sollen. So hörte ich meine Mutter oft zu anderen sagen. „Wie gerne hätte ich als zweites Kind ein Mädchen gehabt! Das hätte ein schönes Pärchen gegeben. Na ja, ein Junge ist auch nicht so schlecht. Da kann er wenigstens die Kleider vom Großen auftragen!" Manchmal zog sie mich aber trotzdem wie ein Mädchen an und drehte mich im Kreis. Bisweilen machte mir das ein schlechtes Gewissen, dass ich die Mutter so enttäuscht hatte. Ich wusste aber nicht, wie ich das hätte anstellen sollen, ein Mädchen zu werden. Was war überhaupt der Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen? Dass die einen in Lederhosen stecken, die anderen in Kleidern? Dass wir eine hässliche ‚Topffrisur‘ haben, die Mädchen schöne Zöpfe, an denen man aber nicht ziehen durfte? Wie hätte ich auch mehr wissen sollen, hatte ich doch nur einen Bruder als Vergleich! Und auch in der Nachbarschaft gab’s nur Jungens.

    Eigentlich hätte ich schon am Vortag zur Welt kommen sollen. Denn für ‚Glückskinder‘ gab es eine Prämie. Die hätten wir bitter notwendig gehabt! Aber es lag damals schon in meiner Art, die Wünsche meiner Eltern zu durchkreuzen. Man nannte mich Wolfgang. Ein Name der mir nie gefiel; aber er deutete an, welche Erwartungen man an mich stellte: mindesten so zu werden wie Goethe oder Mozart, am besten noch besser als beide zusammen!

    Seit dem ‚Titi-Entzug‘ war meine Hauptbeschäftigung, an meinem Daumen zu saugen. Das ersparte meinen armen Eltern wenigstens den Kauf von Schnullern. „Daumenlutscher nannte mich mein Bruder verächtlich. Wenn der wüsste, wie gut der schmeckte! Manchmal war er so wund gesaugt, vor allem als ich die Zähne bekam, dass ich eine Weile meinen Ersatzdaumen, den linken, saugen musste. Doch dieser schmeckte eigenartigerweise ganz anders. Was hatten die Eltern alles versucht, um mich davon abzubringen und zu einem normalen Kind zu machen! Die Mutter las mir aus dem ‚Struwwelpeter‘ vor, bis ich das ganze Buch auswendig kannte. „…weh, jetzt geht es klipp und klapp, mit der Scher‘ die Daumen ab! Doch ich lachte nur darüber. Obwohl ich anfangs schon ziemliche Angst hatte. Ich war überhaupt ein Angsthase. Nur gelang es mir, das gut zu verbergen. Lutschte ich später aus Trotz? Auf jeden Fall gab es mir ein Gefühl der Geborgenheit und ich brauchte keinen Schnuller. Jemand riet meiner Mutter, es mit Senf zu versuchen. Meine gespitzten Ohren hatten das natürlich mitgekriegt. „Euch werd‘ ich’s zeigen! sagte ich mir. Als meine Mutter dann mit dem Senfglas erschien, und meinen Daumen da reintauchte, steckte ich ihn gleich in den Mund, und obwohl es ziemlich brannte, leckte ihn ab und verlangte nach mehr. Am Abend dann erzählte sie alles dem Vater: „Stell dir vor, das hilft auch nicht! Er hat das halbe Glas leergegessen. Ich habe Angst, dass er sich den Magen verdirbt. Ich glaube, ich muss das Glas verstecken!

    Ich wollte alles wissen. Zerlegte mein Spielzeug um zu sehen, was da drinnen ist. Das Wort ‚warum?‘ war mein meistgebrauchtes Wort. Sehr zum Schrecken meiner Eltern! „Warum soll ich schon ins Bett? Warum ist es schon Zeit? Warum müssen Kinder schlafen? Manchmal sagte ich das Wort warum und wusste noch gar nicht, was ich eigentlich fragen wollte. Meine Eltern waren ziemlich am Ende, wussten keine Antworten mehr, oder gaben alberne. Ich nahm diese wie ernste, und stellte ebenfalls alberne, heute würde man sagen, absurde Fragen. „Warum ist die Banane krumm? antwortete mir mein Vater einmal. Darauf versuchten wir dann zusammen eine Antwort zu finden. Es wurde ein lustiger Abend! „Warte nur, bis du in die Schule kommst! Da kannst du alles erlernen!" Doch als es dann, später, soweit war, waren es die Lehrer, die uns die Fragen stellten…

    Ich hatte einen Bruder, der war etwas älter als ich und auch etwas grösser. Daran würde ich nie im Leben etwas ändern können. Ich blieb der Kleine. Damit fand ich mich früh genug ab. Auch, dass er der Stärkere war. An Weihnachten merkte ich, dass es Geschenke für Jungen gab und welche für Mädchen. Wir hatten zusammen mit den Eltern einen Wunschzettel aufgestellt. Ich wünschte mir eine Negerpuppe, mein Bruder ein Auto. Das Christkind legte beides unter den Weihnachtsbaum. Mein Bruder machte sich über mich lustig. „Der spielt mit Puppen! Jeder von uns zweien hatte einen Teddybären. Das war wohl ein Spielzeug für alle… Ein anderes Mal lag da ein Märklin-Baukasten, mit einer Menge Schrauben und bunten Blechen. Der war bestimmt für meinen Bruder. Der kleine Küchenherd daneben war für mich! Dieser wurde mit kleinen weißen Würfeln beheizt, die einen für uns Kinder anziehenden Geruch verbreiteten. Darauf kochte ich dann in winzigen Töpfen Suppe und Puddings. Wenn diese nicht anbrannten, waren sie einfach lecker, und ich kochte auch für alle Anderen. Dafür wurde ich gelobt. Das war was Besseres, als die Metallteile des Baukastens, die mein Bruder zwar auch in den Mund steckte, aber dafür Tadel bekam! Ich beobachtete die Eltern genau. Sie aßen meine Puddings wirklich! Machten es nicht wie bei meinen Sandkuchen, wo sie dran nibbelten „mhhh, ist das gut! sagten, und dann heimlich wegwarfen.

    Weihnachten darauf bekam ich eine Puppenstube, mein Bruder eine Dampfmaschine. Sie wurde mit dem gleichen Brennstoff beheizt wie mein Küchenherd. Diese durfte ich nur anschauen, wenn mein Bruder dabei war. Sie spuckte Dampf und Hitze und das Schwungrad setzte sich irgendwann in wahnsinnige Bewegung, ähnlich den Lokomotiven, denen wir von weitem respektvoll zuschauten. Klar, dass ich sie später auch mal anfassen durfte und mir dabei die Finger verbrannte! Am meisten gefiel mir die kleine Pfeife auf dem Kessel. Wenn ich sie öffnete, kamen erst ein paar Wassertropfen raus, dann ein schrilles Pfeifen. Schnell machte mein Bruder sie wieder zu, denn schon begann das Schwungrad sich langsamer zu drehen. Aber auch meine Puppenstube hatte einen Wasserhahn, eine Badewanne und ein Klo. Das Wasser wurde in einen kleinen Behälter hinten dran gefüllt. Gar zu gerne hätte ich eine Dampfheizung eingebaut!

    Weihnachten darauf bekam der Bruder Zubehör für die Dampfmaschine. Ich einen Puppenwagen. Langsam wurde ich dem Christkind böse. Ich war doch ein Junge! Und Jungenspielzeug fand ich inzwischen viel interessanter! Meine Mutter meinte, das Christkind hätte an Weihnachten so viel zu tun, da hätte es wohl etwas verwechselt. Es musste ja überall gleichzeitig sein! Sie hatte recht. Ich bemitleidete das arme Christkind. Anfangs kam es in der Nacht. Am Weihnachtsmorgen lagen dann die Geschenke unterm Weihnachtsbaum. Zum Glück hatten die Eltern vergessen gehabt, die Tür zuzusperren! Denn wir hatten gehört, dass es woanders durch den Kamin gekommen war. Wie muss das nachher ausgesehen haben! Und bei uns war nur das dünne Ofenrohr, und der Küchenherd daran. Eine Zumutung!

    Später gingen wir zwei mit dem Vater am Nachmittag des Heiligen Abends spazieren. Wir statteten dem Schrankenwärter in seinem Blechhäuschen einen Besuch ab. Gleich dahinter hatte er ein kleines Steinhäuschen, mit viel Blumen rundum, wo er und seine Frau und ihre zwei Ziegen wohnten. Manchmal klingelte das Telefon. Dann drehte er mit einer Kurbel die rot/weiß gestrichenen Schranken herunter. Eine Glocke machte „Pling, Pling, Pling! Langsam spreizten sich die beweglich hängenden Stäbe ab und bildeten eine Art Gittervorhang, der vom Schrankenrohr fast bis auf den Boden reichte. Wohl um zu verhindern, dass Kinder und Tiere da drunter durchschlüpften. Kurz darauf brauste die Rauch und Dampf speiende Lokomotive in einer Lärm- und Hitzewelle an uns vorüber und warf uns regelrecht zurück. Im Vorbeifahren zog der Lokführer kurz die Dampfpfeife, was uns einen weiteren Schreck einjagte. Dann folgten die Wagen in einem ohrenbetäubenden, an- und abschwellenden Lärm. Und plötzlich war der Spuk vorbei und alles verschwand rauschend in der Ferne. Wir halfen dem Bahnwärter beim Hochkurbeln der Schranken. Nur der Rauchgeruch schwebte noch in der Luft. So nahe waren wir einem Zug noch nie gewesen! „Nie ohne zu schauen über die Gleise gehen! mahnte er uns, „es könnte ja ein Zug von der anderen Seite kommen!"

    Was hatten die Erwachsenen nur alles zu besprechen! Das nahm kein Ende! Wir zogen den Vater an den Händen; „Komm, sonst versäumen wir noch das Christkind! drängten wir. „Das eilt nicht! Das kommt noch lange nicht! Und er trank noch ein Schnäpsken mit dem Bahnwärter, der ab und zu zum schrillenden Telefon ging oder die Schranken betätigte. So konnten mein Bruder und ich noch mehrere Züge von nah bestaunen. Auch eine orangefarbene Diesellok, eine V 200. „Ich werde mal Lokführer! erklärte mein Bruder stolz dem Vater! „Komm du erst mal in die Schule! war dessen Antwort. Und immer noch hatten die sich was zu erzählen! Bis wir dann endlich nach Hause kamen, war es natürlich zu spät.

    Das Christkind war schon da gewesen, und wir hatten es wieder nicht gesehen! Doch beim Anblick der Geschenke vergaßen wir das schnell. Wir sangen „Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Sohn ‚Owi‘ lacht." Und ich dachte, Gottes Sohn heißt Jesus! Und dann noch ‚oh du fröhliche, oh du selige, knabenbringende Weihnachtszeit!‘, was sich ewig hinzog. (Ich ging noch nicht zur Schule; meine kindliche Seele hatte noch nicht durch den Religionsunterricht ihre Unschuld verloren. Von Gnade hatte ich nie gehört.) Außerdem war ich ja ein Knabe und auch in der Weihnachtszeit geboren! Hätten meine Eltern ein Mädchen haben wollen, hätten sie mich für Ostern oder so bestellen müssen. Was kann ich dafür, dass ich kein Mädchen bin! Ich war gespannt, ob sich das Christkind diesmal wieder vertan hatte. Dann durften wir uns auf unsere Geschenke stürzen. Mein Bruder hatte ein batteriegetriebenes Auto, ich eine Achterbahn zum Aufziehen. Ich glaube, jetzt war es bis zum Himmel durchgedrungen, dass ich ein Junge war!

    Da waren wir zwei eine Weile beschäftigt. Doch blieb mir genügend Zeit, um über die knabenbringende Weihnachtszeit nachzudenken. Denn eigentlich hätte da eher mein Bruder ein Mädchen sein müssen, denn er war im August geboren, also weit von der knabenbringenden Weihnachtszeit entfernt! Auch sagten die Leute, wenn sie ihn sahen, „ganz die Mutter, die Augen, diese schwarzen Haare. Und bei mir „ganz der Vater, diese blonden Haare, dieser Dickschädel! Doch wo kommen die Kinder her? Man sagte uns, der Klapperstorch hatte uns gebracht. Aber ich wäre etwas schlecht verpackt gewesen. Darum hatte ich auch das kleine Loch vorne im Bauch. Transportschaden. Doch das war ja zum Glück zugeheilt, und man brauchte mich nicht umzutauschen. Mein Bruder hatte aber auch so ein Loch. Der Storch schien mir gar nicht so sicher als Transportmittel. Zum Glück hatte er mich nicht fallen gelassen!

    Manchmal kam die ‚Pötterstante‘, die Hebamme, wie meine Mutter sie nannte, zu Besuch. Dann tranken sie zusammen ein, meistens zwei Gläschen ‚Datisnixfürdich‘ und tuschelten aufgeregt miteinander. Meine Mutter sagte, diese hatte mich in Empfang genommen, ‚aufgehoben‘, als mich der Storch abgelegt hatte. Das hätte meine Mutter bestimmt auch alleine hingekriegt! dachte ich mir. Denn wenn der Postbote Pakete brachte, so wie letztens das große mit den Lebkuchen, was bestimmt schwerer war als ich damals, ruft sie ja auch nicht die Tante Pötter zu Hilfe! Unbemerkt krabbelte ich unter den Tisch. „Hast du aber noch schöne Beine! hörte ich die Tante sagen, „Andere Frauen haben nach ein paar Kindern schon Wasser darin! Ich schaute mich um. Ich sah die meiner Mutter und die der Besucherin. Demnach müsste diese viele Kinder haben, denn sie schimmerten leicht bläulich! „Ich hab ja nur zwei! hörte ich Mami sagen. „Ich kann nicht verstehen, dass andere so viele haben. Bestimmt haben die nicht aufgepasst! Sie sprach in Rätseln. Was sollte das heißen, nicht aufgepasst? Wenn ich hingefallen war, hieß es „pass doch auf! Sollte ein Mädchen, das hinfällt, ein Kind geliefert bekommen? Sie fingen an zu tuscheln. Vielleicht aus Rücksicht auf meine empfindlichen Ohren. Ich bekam nicht alles mit. Aber es ging um Monate und anstehende Lieferungen des Klapperstorches. Nach einer Weile stand die Tante Pötter auf. „Wölfi! Komm und sag der Tante auf Wiedersehen! Ich rührte mich nicht. Sie begleitete den Besuch hinaus. Schnell schlüpfte ich aus meinem Versteck, krabbelte in mein Eck und wühlte in der Spielzeugkiste. „Ja wo warst du denn? „Immer in der Küche! „Ich hab‘ dich gar nicht bemerkt. Muss wohl von dem dritten Gläschen kommen…"

    Dass mein Geburtstag so kurz hinter Weihnachten lag, passte mir gar nicht. Ich hatte den Eindruck, dass meine Geschenke halbiert wurden, so dass ich an beiden Festen weniger bekam. Eigentlich müsste das ja ‚Liefertag‘ oder so heißen. Irgendwie kam mir die Welt der Erwachsenen wie ein Rätsel vor. Oder sie versteckten, verheimlichten uns etwas. ‚Geboren werden!‘ Was heißt das eigentlich? „Na ja, zur Welt kommen! „Klar, mit dem Storch. Aber vorher, wo holte der einen her? „Das verstehst du noch nicht, werde erst mal groß!" Ich fand, ich war groß genug. Und selbst mein Bruder, der grösser war, bekam dieselbe Antwort. Und ich verstand mehr, als die Großen glaubten! Entweder logen sie mich an oder sie wussten es selber nicht! Mein Vater baute an einem neuen Ruderboot. Dabei mussten viele Löcher mit der Bohrkurbel ins Holz gebohrt werden. Manchmal durfte ich sie nehmen und Löcher in Abfallstücke bohren. Rechtsherum ging der Bohrer rein, linksherum raus. Da kam mir ein Gedanke: vielleicht werden so die Kinder ‚gebohren‘. Ich sah mich im Geist auf einem Bein stehen und linksherum aus der Erde ‚herausbohren‘, auf einem großen Feld. Ähnlich wie ich ‚bohrten‘ sich da noch andere Kinder heraus und wir warteten, dass uns der Storch holte zum Ausliefern. So musste das sein!

    Das fehlende Pippilein

    Anfangs badete man uns beide zusammen in der Zinkbadewanne. Da passten wir gut rein. Und das war lustig! Einmal legte sich mein Bruder zurück, zeigte auf sein durch das Wasser ragende ‚Pippilein‘ und sagte: „Schau mal, wie eine Boje! und wackelte damit hin und her. „Da fasst man nicht dran, damit spielt man nicht! schimpfte unsere Mutter. Komisch, mit den Fingern durfte man doch auch spielen! „Aber, wenn man Pippi macht, fasst man doch auch dran! „Ja, aber nur dann! „Und wozu ist denn der kleine Sack da drunter? „Der ist zum Tropfen auffangen, wie der Schwamm am Hals der Kaffeekanne! Das leuchtete uns ein. Endlich mal eine klare Antwort! (Auf dem Deckel von Kaffeekannen setzte man damals ein gehäkeltes Püppchen, dessen eine Befestigung, zugleich ein kleines Schwämmchen, genau unter dem ‚Schnabel‘ festhielt, dessen andere Befestigung um den Henkel der Kanne lief. Somit wurde auch noch der Kannendeckel festgehalten und konnte nicht beim Gießen herausfallen.) Nach uns badete der Vater in demselben Wasser, dann die Mutter. Zwischendurch wurde mit einem Schöpfer heißes Wasser nachgefüllt. Dann wurde noch die Wäsche der letzten Woche darin eingeweicht. „Ist das aber eine Drecksuppe!" sagte Mutter am nächsten Tag. Wir hofften, dass sie das Wasser nicht auch noch zum Kochen der Suppe nahm! Meist diente es nachher zum Bodenputzen und Blumenbeete gießen.

    Wir selber tollten immer angezogen herum. Es gab aber auch Eltern, die ihre Kinder manchmal nackt im Garten oder Haus herumrennen ließen. Das sparte Windelwaschen. Denn diese waren aus Baumwolle und wurden mit Hand, Waschbrett und Bürste gewaschen. Kernseife diente zu allem, auch zum Haare waschen. Einmal waren wir zu Besuch bei Leuten, deren Kinder gerade im schönsten Gewand durch die Wohnung rasten. Jungens und Mädchen, alle nackig. „Kriegen die nicht kalt? fragte meine Mutter besorgt. Ich hatte den Eindruck sie wollte nicht, dass wir die nackigen Kinder sehen. „Nee, die sind das gewöhnt! antwortete deren Mutter und bereitete den Kaffee vor. „Ich möchte die aber nicht auf den Schoss nehmen! meinte unser Vater. Beide hielten uns auf ihrem Schoss. Wahrscheinlich wollten sie so verhindern, dass eines der anderen Kinder da hochkrabbeln würde. Ich hatte in meinem kurzen Leben noch nie ein nackiges Mädchen gesehen. Ich starrte entsetzt zwischen seine Beine, zeigte auf seinem Bauch und stotterte: „Dem fehlt ja das ‚Pippilein! „Das ist auch ein Mädchen! klärte meine Mutter mich auf, die brauchen keines! „Aber wie machen die denn dann Pippi? „Die machen das so, ohne! Klar, dachte ich mir, dann brauchen die ja auch nicht den Schwamm! Also waren Mädchen unvollständige Jungen. Sie taten mir leid. Sie konnten nicht einmal an einem ‚Weitschiffen‘ mitmachen, was unter uns in Mode war, wenn mehrere Jungen zusammen waren. „Schiffen steckt an!" sagte man und stellte sich zu den anderen in eine Reihe.

    Wir lebten also hauptsächlich in einer ‚Männerwelt‘. ‚Jungenwelt‘ wäre genauer, aber wir fühlten uns groß, gab es doch immer noch Kleinere irgendwo, an denen man sich messen konnte, die ‚Hosenscheißer‘. Direkte Nachbarn hatten wir keine. Alle ein paar hundert Meter weit weg. Zur Stadt waren es zwei Kilometer. So hatten wir es gehört. Was das genau war, wussten wir nicht. Auf jeden Fall weit. So weit, dass wir da nicht alleine hindurften. Das nächstliegende Haus war die ‚Stadtmühle‘, eine Gastwirtschaft. Dort war auch eine Landwirtschaft dabei, die aber von jemand anderem betrieben wurde. Die Besitzer des Gasthofes waren zugleich die Vorstände der Bootshausgesellschaft, also die Chefs unserer Eltern. Sie lebten auf ‚großem Fuß‘, wie diese sagte. Ich schaute das nächste Mal genau hin. Eigentlich waren deren Füße nicht viel grösser als die meines Vaters. Sie besaßen zwei Mercedes Autos, mit denen sie sonntags in die Kirche fuhren, wo sie reservierte Plätze hatten. Unsere Eltern gingen nicht in die Kirche. Das hatten sie nicht notwendig. Und Samstag/Sonntag ging es bei uns rund. Da war Hochbetrieb. Jemand musste ja die Arbeit machen, damit andere in die Kirche gehen konnten! „Wenn die mal in den Himmel kommen, dann will ich lieber in die Hölle!" meinte meine Mutter. Und das sagte ja wohl alles. Und deshalb war ich mir manchmal gar nicht so sicher, ob ich mal in den Himmel wollte. Denn meine Mutter hatte ich zu gerne.

    Wenn man vor dem Sebbel (Stadtmühle) nach rechts abbog, Richtung Sythen, kam man zu einer anderen Gastwirtschaft, dem Göcke. „Eher eine ‚Kneipe‘ meinten die Eltern abwertend, „da möchte ich nicht essen! Über die Terrassenfläche war eine riesige, rot/weiß gestreifte Plane gespannt, die den oft zahleichen Gästen Schutz vor Sonne und Regen geben sollte. Einmal zerriss der Sturm diese und die Fetzen flogen bis zu uns. So kam ich zu meinem ersten Zelt. Hier bediente der ‚Thekenschreck‘, eine ziemlich aufgetakelte Frau mit einem enormen Pferdegebiss. Doch war diese, zumindest bei den Männern, sehr beliebt. Das konnten wir aus den Umarmungen und Klapsen auf das Hinterteil schließen. Wir durften dort eigentlich nicht hin. Irgendwie war der Ort verrufen, zumindest bei den biederen Frauen. Das merkten wir daran, dass die Frauen immer den Ton senkten, wenn sie auf den ‚Thekenschreck‘ zu sprechen kamen.

    Der Göcke hatte auch einen Paddelbootverleih. Schwere Dinger, aus Presspappe und Leisten zusammengebaut, mit Teer und dunkelblauer Farbe abgedichtet. Wir nannten sie ‚Schlickrutscher‘, wegen ihrer Bauart. Diese Dinger liefen vorne und hinten spitz zu. Die meisten Leute, die sich so ein Boot mieteten, wussten damit nicht umzugehen. Durch einen Arm des ‚Mühlbaches‘ gelangten sie unter einer Brücke hindurch in den See. In dieser Brücke konnte man ein Stauwehr hochkurbeln, um in trockenen Sommern den Mühlbach hoch zu halten. Fuhren wir Kinder unter dieser Brücke durch, riefen wir jedes Mal: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel? „Esel! antwortete dann die Brücke. Wenn also die Paddler in den See einmündeten, hatten sie genügend paddeln gelernt, um vorwärts zu kommen. Das Lenken versuchten sie zu lernen, wenn sie, gleich einer schwimmenden Windmühle, zwischen die gleich anschließend an den Bojen liegenden Segelboote gerieten. Da bummsten und kratzten sie sich dann durch. Oft gab es Schäden, sogar Löcher im Mahagonirumpf der Segler. Diese blauen Boote waren für meine Eltern ein rotes Tuch.

    Vergiftete Bonbons

    Unser Haus und die Bootsschuppen lagen auf einer Insel, umflossen von dem in zwei Arme geteilten Mühlbach. Eine Straße, die ‚Strandallee‘, durchquerte diese Insel und verband sie durch zwei Brücken mit dem ‚Festland‘. Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein ziemlich großes Feld und eine etwas verwilderte Wiese, auf der im Sommer ein paar Wohnwagen standen, im Winter ein Wanderschäfer sein Wägelchen und die Schafe parkte. Auf unserer Seite bedeckten die ebenerdig liegenden Bootshäuser so mindestens die halbe Fläche. Ungefähr 500 Paddelboote hatten darein Platz. Davor säumte ein eichener, geschwungener Steg das Ufer, rechter Hand lief ein schmaler Schwimmsteg in den See, woran die ‚Möwe‘, ein motorgetriebener Fahrgastdampfer lag. Darauf konnten wir nach Herzenslust mitfahren, war doch der Sohn des Kapitäns in meinem Alter. Sein Großvater fuhr auf dem Rhein ein Frachtschiff. Schwimmen konnte in der Familie aus Tradition niemand. Und dieses wurde dem Opa mal zum Verhängnis. Bei einem Zusammenstoß fiel er über Bord und tauchte nie wieder auf.

    Auch mein Vater trug eine Schiffermütze, war aber kein richtiger Kapitän. Er war der Wärter der Boote, der Bootswart! Und meine Mutter ging ihm dabei zur Hand. Das fing im Winter an, mit dem Karteikarten ausfüllen. Die Umgebung der Bootshäuser musste gepflegt werden, das Holz gestrichen, der Steg ausgebessert. Losgerissene oder vom Sturm umgeworfene Boote mussten geborgen werden, und so fort. Wo möglich, waren wir dabei und halfen, so gut wir konnten. Aus alten Zeitungen schnitten wir mit der Schere rechteckige Blätter als Klopapier und fädelten sie auf Bindfäden zum Aufhängen. Fegte die Mutter die Gänge zwischen den übereinander, auf schwenkbaren Holzkonsolen liegenden Booten, sprengte ich mit einer Gießkanne, oder mit der Hand direkt aus einem Eimer Wasser auf den rauen, staubigen Betonboden. Ich lief nie langsam. Ich rannte wie ein wildgewordener Handfeger durch die Gegend, wollte überall sein, freute mich, wenn man mich etwas tun ließ. Oft saß ich auf dem hölzernen Steg und paddelte stundenlang mit einem Stechpaddel, schaute auf die vorbeiziehenden Strudel und stellte mir vor, ich paddle auf dem Yukon-River durch Kanada. Ein Onkel meiner Mutter hatte da lange als Pelzjäger gelebt und ein dickes Buch geschrieben, aus dem die Mutter uns vorlas, mit Fotos drin, von Blockhäusern und seinen treuschauenden Schlittenhunden. Ich träumte gerne in den Tag hinein. Einmal schaute meine Mutter auf meine Füße und sagte: „Du wirst mal große Reisen machen, deine ersten zwei Zehen stehen so weit auseinander! „Nein, Mami, ich bleibe immer bei dir! tröstete ich sie.

    Eine Gruppe Zigeuner hatte uns gegenüber, auf der Wiese neben dem Feld, wo im Sommer die paar Wohnwagen stehen, für einige Tage ihre Wohnwagen und Zelte aufgestellt. Sie gingen von Tür zu Tür und verkauften Bürsten und Wäscheklammern. Manche bettelten

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