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Zeitenwandel
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eBook133 Seiten1 Stunde

Zeitenwandel

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Über dieses E-Book

Wer ist das schaurige Wesen, das Tamara mit dem Auto angefahren hat? Was bedeuten die Spuren im Schnee? Gelingt mit übersinnlichen Kräften eine Verjüngung? Was geschieht nachts im Supermarkt?

Diesen und anderen Fragen gehen die verschiedenen Erzählungen auf den Grund. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, aus dem Alltag heraus entstehen ungewöhnliche und skurrile Situationen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Mai 2014
ISBN9783847676058
Zeitenwandel

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    Buchvorschau

    Zeitenwandel - Ingrid Mayer

    Herberts Schätze

    Während der letzten Schulstunde verdunkelte sich der Himmel. Dicke Wolken zogen auf und kündigten einen Wetterumschwung an.

    Es wird bald regnen, stellte Inge nach dem Unterricht fest und deutete nach oben.

    Herbert sah sie mit traurigen Augen an und nickte wortlos. Sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht nass werden wollten, denn Regenschirme besaßen sie keine. Inge, die in der entgegengesetzten Richtung wohnte, lief bereits los.

    Bis morgen!, rief sie ihm noch zu und winkte, während ihre kleine Gestalt sich schnell von ihm entfernte. Er blieb noch eine Weile stehen und sah ihr nach, wie sie mit wippendem Zopf die Straße überquerte und sich noch einmal umwandte, um ihm erneut zuzuwinken.

    Herbert lebte mit seinen Eltern und Geschwistern ein wenig außerhalb der Stadt. Er wünschte sich, wie Inge in der Stadt zu wohnen, sodass sie den gleichen Schulweg hätten. Wie gerne wäre er jeden Tag an ihrer Seite gegangen. Und vielleicht hätte sich so irgendwann eine Gelegenheit ergeben, ihr seine Liebe zu gestehen. Doch Herbert wollte noch aus einem anderen Grund lieber in die andere Richtung gehen. Denn dann müsste er nicht an der alten Fabrik vorbei.

    Das Werk war vor einigen Jahren stillgelegt worden. Früher, vor dem Krieg, hatte sein Vater hier gearbeitet, doch dann waren die Männer an die Front beordert worden. Seitdem standen die Gebäude leer. Den schwarzen Schlot, von dem das obere Stück abgebrochen war, konnte Herbert bereits von weitem sehen. Wie ein erhobener Zeigefinger ragte er mahnend in die Luft. Ein kleiner Pfad führte ihn dicht an der Fabrikmauer vorbei, aus der immer wieder Teile herausbrachen und Lücken hinterließen, die, wenn man sein Gesicht dicht daran presste, einen Einblick auf das Werksgelände gewährten: Verlassene Baracken, verfallen und dreckig, alles in tristem Grau, überwuchert von Unkraut, das aus den Mauerritzen wuchs.

    Doch Herbert interessierte dieser Anblick nicht. Er wollte die Fabrik nur möglichst rasch hinter sich lassen, wollte weg aus dieser Gegend, in der Otto und seine Bande sich herumtrieben.

    Herbert lief schnell, obwohl sein Herz bereits bis zum Hals klopfte. Er hoffte, dass sie ihm heute nicht auflauerten, um ihn zu quälen. Warum sie das taten, wusste er nicht, doch sie hatten ihn als Opfer ausgesucht und ließen keine Gelegenheit aus, um ihn zu schikanieren. Als Herbert schon fast die Felder erreicht hatte, die hinter dem Werk lagen, trat Otto hinter einem der vielen Mauervorsprünge hervor und stellte sich ihm in den Weg.

    Sieh’ an, der kleine Rosemann. Der Junge, der ihn um einen ganzen Kopf überragte, grinste verschlagen.

    Vier weitere Halbstarke krochen aus dem Gebüsch neben der Mauer und stellten sich mit gewichtigen Mienen hinter Otto auf, die Hände vor dem Körper verschränkt.

    Was wollt ihr von mir? Herbert bemühte sich um eine feste Stimme, doch sie klang gehetzt und atemlos. Otto rückte ganz nah an ihn heran. Die anderen scharten sich um die beiden herum.

    Eine schöne Hose hast du da an, bemerkte Otto im lockeren Plauderton. In diesem Moment begann es zu regnen. Herbert ahnte, was nun kommen würde und presste sich ängstlich an die Mauer. Otto fasste ihm an die Oberschenkel und befühlte den zerschlissenen Stoff der Hose, der nun von Regentropfen gesprenkelt war.

    Oh, sieh’ nur, jetzt wird sie ganz nass. Du solltest sie ausziehen.

    Herbert schüttelte heftig den Kopf. Tränen traten in seine Augen.

    Wenn du sie nicht selbst ausziehst, helfen wir gern nach, verkündete ein Junge mit schiefer Nase und einer Narbe über dem rechten Auge. Herbert begann zu weinen.

    Bitte, bitte nicht. Ich habe doch nur diese eine.

    Wenn sie ihm die Hose wegnahmen, was sollte er dann anziehen? Eine neue würde ihm seine Mutter nicht kaufen können, dafür fehlte ihr das Geld.

    Oooch. Was wird Mama wohl sagen, wenn das Kind ohne Hose heimkommt.

    Otto strich ihm mitfühlend über den Kopf. Herbert machte sich bereit, im nächsten Moment einen Schlag ins Gesicht abzubekommen, als die Sirenen zu heulen begannen.

    Wir müssen weg hier!, schrie der Junge mit der Narbe panisch. Otto wandte sich von Herbert ab. Niemand interessierte sich mehr für ihn, und kurze Zeit später waren seine Peiniger hinter der Wegbiegung verschwunden.

    Der Regen hatte wieder aufgehört. Für einen Moment trat die Sonne hervor und tauchte die trostlose Anlage in gespenstisches Licht. Auf der Mauer flitzte eine kleine Eidechse entlang und suchte Zuflucht in einem Spalt. Als kleines Kind hatte er oft versucht, die flinken Tiere einzufangen, doch es war ihm nie gelungen. Herbert sah über die gelben Getreidefelder hinweg, die vor der schwarzen Wolkenwand unnatürlich intensiv leuchteten. Hinter ihnen lag sein Elternhaus. Würde er es noch rechtzeitig schaffen? Das leise Brummen von Motoren dröhnte in der Luft. Herbert rannte los.

    Schweißgebadet wachte Herbert Rosemann auf. Er griff automatisch an seine Hose und stellte fest, dass sie sich anders anfühlte als damals. Seine Hände tasteten unter der Bettdecke an den Schenkeln entlang. Endlich begriff der alte Mann. Es waren sechzig Jahren vergangen, und er trug eine Schlafanzughose aus Flanell.

    Immer wieder holte ihn die Vergangenheit im Traum ein, und jedes Mal fühlte es sich genauso an wie damals. Er stand auf und ging zu dem Eichenschrank, der neben seinem Bett wuchtig aufragte. Die Tür knarzte, als er sie öffnete. Von draußen fiel der Lichtkegel einer Straßenlampe herein und beleuchtete das Innere des Schranks, der vollgestopft war mit Kleidungsstücken. Herbert Rosemann zog eines davon heraus und faltete es auf. Es beruhigte ihn, dass sie immer noch in seinem Besitz war. Motten hatte markstückgroße Löcher in die Hose hineingefressen, und sie war ihm mittlerweile viel zu klein. Dennoch hatte er nie erwogen, sich von ihr zu trennen. So, wie er sich auch von keiner anderen Hose getrennt hatte, die er danach erworben hatte. Von keiner einzigen. Herbert Rosemann hatte alle aufgehoben. Sie lagerten nicht nur im Schrank, sondern auch im Keller, in der Kommode, im Wohnzimmer und auf der Eckbank in der Küche. Neben den Hosen stapelten sich Hemden, Jacken, Pullover und Schuhe. Fleckig und zerrissen, schäbig und stinkend. Sie waren sein ganzer Stolz. Was hätte der kleine Herbert von damals gesagt, wenn er all die Schätze gesehen hätte! Liebevoll streichelte Herr Rosemann noch einmal über den groben Wollstoff, bevor er wieder ins Bett ging.

    Herbert hatte einen geregelten Tagesablauf. Er stand immer um dieselbe Zeit auf, bereitete sich einen Kakao zu, indem er das Pulver in ein wenig Wasser einrührte und aß ein Stück trockenes Brot. Im Laufe der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, allein zu leben. Obwohl er sich mehrere Male in seinem Leben verliebt hatte, war die Richtige nie dabei gewesen. Früher hatte er auch einige Freunde gehabt, die er gelegentlich besuchte, aber nach und nach waren diese Freundschaften eingeschlafen. Herbert tat nichts, um sie wiederzubeleben, denn eigentlich gefiel ihm das Alleinsein besser. So konnte er tun und lassen was er wollte.

    Am frühen Morgen ging er in die Stadt, wo er den ganzen Vormittag verbrachte. Er schob sein altes Fahrrad, an dessen Lenker viele bunte Plastiktüten hingen, über die Gehsteige. Die Sammelstellen für Abfall kannte er alle. Und beinahe an jeder fanden sich Gegenstände, die er brauchen konnte. Was die Leute alles wegwarfen! Zeitungen, die nur einen Tag alt waren, Schraubgläser, in denen man etwas aufbewahren konnte oder Regenschirme mit verbogenen Speichen. Als könnte ihm jemand die Sachen wegnehmen, inspizierte er die Container, schaute sich kurz um, ob ihn jemand beobachtete und sammelte dann seine Schätze ein. Aus dem Biomüll zog er einen Apfel, der nur auf einer Seite braun und sonst ganz in Ordnung war. Liebevoll betrachtete ihn Herbert einen Moment und steckte ihn anschließend in seine Hosentasche.

    Mit prall gefüllten Tüten kehrte er gegen Mittag heim. Wie immer verbrachte er den Nachmittag damit, seine Fundstücke zu ordnen und einen Platz für ein jedes davon zu finden. Als Herbert gerade die neu erworbenen Zeitungen auf die bereits vorhandenen Stapel legte, klingelte es an der Tür. Zunächst verharrte der alte Mann regungslos. Es musste einige Wochen her sein, dass jemand bei ihm geläutet hatte. Der Postbote wusste seit langem, dass er keine Pakete für die Nachbarn annahm. Vielleicht ein Neuer, dem das noch nicht bekannt war, vermutete Herbert. Während er noch überlegte, ob er überhaupt aufmachen sollte, schellte es erneut. Lautlos wie eine Katze schlich er zur Tür und spähte durch den Spion. Draußen stand eine ältere Frau mit blonden kurzen Haaren. Herbert legte

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