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Schlussstein: Kriminalroman aus Bremen
Schlussstein: Kriminalroman aus Bremen
Schlussstein: Kriminalroman aus Bremen
eBook813 Seiten10 Stunden

Schlussstein: Kriminalroman aus Bremen

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Über dieses E-Book

Rotberg sah auf in den blauen Himmel, an dem kaum eine Wolke zu sehen war. Die Sonne schien auf die verletzte Stadt herab. Dann glitt sein Blick nachdenklich über die Fassade des altehrwürdigen Rathauses.
"Sieh dir mal die Bögen der Arkaden an. Sie sind gemauert. Es gibt antike Rundbögen, die tragen sich vollkommen ohne Mörtel. Die Last des eigenen Gewichts hält sie stabil. Ganz oben in der Mitte sitzt der Schlussstein. Hier hat er die Form eines Kopfes, innen in den Arkaden ist es ein einfacher Ziegelstein."
Sabrina Hamm folgte seinem Blick, sie hatte sich die Details dieses Bauwerks noch nie so genau angesehen.
"Die Baumeister haben das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben und verfeinert. Die Gebäude sind quasi ein Abbild der sich entwickelnden Gesellschaft. Es gab immer wieder Rückschläge durch barbarische Zeiten und Herrscher – im Ganzen betrachtet, hat das Positive sich aber stets weiterentwickelt."
Rotberg dachte einen Moment nach. Sabrina Hamm mochte ihn nicht unterbrechen.
"Dieses schöne Rathaus ist ein Symbol für das, was gewachsen ist. Bremen als freie selbstständige Stadt. Nur in Freiheit kann eine Gesellschaft etwas so Schönes hervorbringen. Jede Begrenzung durch totalitäre Systeme bedeutet nicht nur Stillstand, sondern Rückschritt. Dein schönes Mobiltelefon zum Beispiel – es kann nur in einem Kopf entstehen, der frei ist. In einem Kopf, der sich darauf verlässt, dass die Gesellschaft ihn braucht, ihn trägt und fördert. Das ist wie mit diesem Bogen: Er trägt das, was über ihm ist und hält das zusammen, was unter ihm ist."

In Bremen gab es eine Explosion in einem Kindergarten. Die Stadt ist geschockt über viele verletzte und getötete Kinder. Kriminalhauptkommissar Sebastian Rotberg und sein Team beginnen mit den Ermittlungen zu dem Unglück. Alle Hinweise auf Schuldige laufen jedoch ins Leere bis ein für das Geschehen Verantwortlicher einen Fehler begeht. Spuren führen von Bremen nach Hamburg und ins Ausland.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Mai 2016
ISBN9783741809613
Schlussstein: Kriminalroman aus Bremen

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    Buchvorschau

    Schlussstein - Peter Gnas

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Impressum

    Deutsche Erstveröffentlichung

    © 2016 by Peter M. Gnas

    Herstellung und Verlag: Peter M. Gnas

    Umschlaggestaltung: Die Zeitgenossen GmbH, Stuttgart

    Umschlagfotos: bb-doll (iStock) und 3D-Agentur (depositphotos)

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Bremen, Montag 09. Februar 2009, 07.35 Uhr

    Was ist passiert? Oh Gott, was ist da los?

    Rose Stein, die Leiterin der Kindertagesstätte im Erdbeerweg in Bremen, war nach einem gewaltigen Knall aus dem Büro gestürmt. Von dem Gang, der zu den Gruppenräumen führte, standen nur die letzten vier Meter vor ihrem Zimmer – dahinter lagen Trümmer. Es brannte, jemand schrie, Kinder kreischten und weinten. Rose Stein lief dorthin, wo noch vor wenigen Augenblicken ihre Schützlinge spielten. Sie sah in die Augen von Jessica Molln, Erzieherin in der Gruppe Blau.

    „Was ist passiert, Jessica?"

    Sie schaute entsetzt ins Leere.

    „Bitte kümmere dich um die Kleinen, ich rufe die Feuerwehr!"

    Sie reagierte nicht. Sie drückte die Finger gegen die Ohren und machte Bewegungen als bohre sie darin. Rose Stein rannte in ihr Büro, sie griff zum Telefon: „Eins, eins, zwo! sprach sie beim Tippen der Nummer. Kein Ton „Mist, null vorwählen, fluchte sie. Wieder nichts. Sie warf den schnurlosen Hörer auf den Schreibtisch und kramte in der Handtasche nach dem Mobiltelefon. „Eins, eins, zwo!" Musste man die Ortsvorwahl wählen, überlegte sie, während sie lauschte. Ein Freizeichen – noch eines.

    „Feuerwehr Bremen, Notrufzentrale", meldete sich eine sachliche Männerstimme.

    Rose Stein berichtete, was in den letzten zwei Minuten geschehen war. Nach dem Auflegen stürmte sie in die zerstörte Küche, die neben dem Büro von dem verbliebenen Flur abging. Niemand war zu sehen.

    „Frau Specht? Frau Bülow?" Keiner da. Sie eilte dorthin, wo sie versucht hatte mit Jessica Molln zu sprechen. Die stand wenige Meter entfernt. Sie hatte die Hände in einer Geste des Entsetzens vor Mund und Nase gefaltet. Jessica Molln war erstarrt – Tränen liefen ihr übers Gesicht.

    Von weitem hörte man Martinshörner, es mussten dutzende sein. Anwohner kamen. Einige standen wie gebannt, andere begleiteten die Kinder aus den Trümmern. Nachbarn des Kindergartens nahmen die Kleinen in Empfang und brachten sie in das Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Anliegerstraße. Sämtliche Scheiben des Gebäudes waren zerborsten, im Vorgarten lagen Trümmerstücke. An mehreren Stellen war der Putz zerstört. Es sah aus wie nach einem Angriff in den Kampfgebieten dieser Welt.

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Bremen, Montag 09. Februar 2009, 07.50 Uhr

    Sebastian Rotberg, Erster Kriminalhauptkommissar aus der Polizeizentrale Bremen Vahr, war von der Notrufzentrale benachrichtigt worden. Rotberg deutete seiner Kollegin Sabrina Hamm mit einer Geste an, dass sie ihn begleiten solle. Während beide zu dem Einsatzwagen eilten, zogen Sie Ihre Jacken an.

    „Was ist passiert?", wollte sie wissen.

    „Es gab eine Gasexplosion in einem Kindergarten im Erdbeerweg. Weißt du, wo der ist?"

    Sabrina Hamm zuckte die Schultern. Im Auto angekommen fragten sie über Funk nach dem Weg.

    Rotberg und Sabrina Hamm arbeiteten seit zwei Jahren zusammen. In den ersten Monaten hatte Rotberg Probleme damit, dass man seiner Abteilung noch eine Frau zugeteilt hatte. Er hatte gehofft, einen männlichen Mitarbeiter zu bekommen. Immer wieder versuchte er, sie bei der Verteilung wichtiger Aufgaben zu übergehen und ihr untergeordnete Arbeiten zu übertragen. Es hatte ihn insgeheim geärgert, dass sie keine Fehler machte und alles ohne Murren über sich ergehen ließ.

    Die Kollegen sprachen ihn nach einigen Wochen an, dass er die feinen Spitzen ihr gegenüber lassen solle, das würde nur Ärger geben. Rotberg zürnte mit sich selbst, dass er sich anstellte wie ein Trottel. Jeder hatte es bemerkt.

    Eines Abends klopfte sie an den Türrahmen von Rotbergs Büro, das die meistens offen stand. Er schaute auf.

    „Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?", fragte Sabrina Hamm vorsichtig.

    Jetzt bloß nichts anmerken lassen und keine Macho-Allüren, dachte er und sah sie über die Lesebrille hinweg an.

    „Ich wollte gern mit Ihnen sprechen", sagte sie. Rotberg deutete mit einer jovialen Geste auf einen der beiden Stühle, die am kreisförmigen Teil des Schreibtisches standen. Er war bei der Arbeit sehr genau, sah man jedoch den Arbeitsplatz an, konnte man leicht den gegenteiligen Eindruck gewinnen. Er rollte mit dem Sessel an den Besprechungstisch und legte die Aktenstapel auf den Boden, die sich vor Sabrina Hamm auftürmten.

    „Was kann ich für Sie tun, Frau Hamm?"

    Jeden in der Abteilung redete er mit dem Vornamen an, alle duzten einander – sie sprach er weiterhin mit Frau Hamm an. Kein Wunder, dass es auffiel, dass er Probleme mit ihr hatte.

    Sie sah einige Augenblicke auf einen unbestimmten Punkt auf dem Tisch. Sie wirkte nervös, das nahm er wahr. Er merkte einem Gegenüber alles an. Ihn zu belügen war ausgeschlossen. Deshalb ahnte er, was gleich zur Sprache kommen würde.

    „Herr Rotberg, sie suchte nach den passenden Worten, „Sie trauen mir wenig zu, oder?

    „Wie kommen Sie den darauf?" Ihm wurde unbehaglich.

    Jetzt nur nicht unsicher oder rot werden. Früher errötete er leicht, das hatte im Laufe der Jahre mehr und mehr nachgelassen.

    „Verstehen Sie mich bitte richtig, ich tue meine Arbeit im Team ausgesprochen gern. Ich versuche alles gründlich und schnell zu erledigen. Ich hoffe, Ihnen ist das nicht entgangen."

    „Nein, natürlich nicht."

    Die Aufgaben im Innendienst sind sehr interessant – die Routinearbeiten eher eintönig. Jeder in der Abteilung erledigt solche Dinge. Ich bin leider diejenige, die nie draußen ist – an den Tatorten.

    Sie strich mit Daumen und Zeigefinger zweimal über den Naserücken. Das tat sie immer, wenn sie unsicher war. Sie hatte diese Geste bei vielen Menschen beobachtet. Andere rieben sich ein Auge.

    Rotberg rieb sich ein Auge und starrte ins Leere. Er hatte sie von Anfang an gemocht. Schon bei der Auswahl der Kandidaten auf die Stelle war sie ihm sofort aufgefallen. Sie war nicht schön im eigentlichen Sinn. Die klugen, dunklen Augen, ihre etwas zu große Nase, der geschwungene Mund, ihr kurz geschnittenes, schwarzbraunes Haar ihre sportliche Figur entsprachen eigentlich nicht dem, was ihm an Frauen gefiel. Und doch faszinierte sie ihn vom ersten Moment an. Sie hatte Vorfahren aus dem arabischen Raum. Konnte Hamm ein Name von dort sein? Er hatte keine Ahnung. Sollte er danach fragen? Nein, das würde wie ein Vorbehalt wirken. Später erfuhr er, dass die Mutter einen Mann aus dem Iran geheiratet hatte. Nach der Scheidung hatte sie dafür gesorgt, dass die Tochter ihren deutschen Mädchennamen erhielt.

    Er hatte schon im Bewerbungsgespräch gespürt, dass Sabrina Hamm für ihn mehr Bedeutung bekommen könnte. Weil er kein Argument gegen die Einstellung in sein Team fand, gab er sich jovial und enthielt sich der Stimme. Natürlich sprangen alle jungen Kollegen sofort auf sie an. Es störte ihn – und er ärgerte sich darüber, dass es ihn störte. Deshalb hatte er ständig versucht räumlichen Abstand zu ihr zu halten.

    Jetzt, da sie ihm gegenübersaß, spürte er, wie seine Burgmauern Risse bekamen. Er mochte sie – er hatte sie vom ersten Moment an gemocht.

    „Sie liegen vollkommen richtig, Sie wurden zu wenig berücksichtigt. Ich war der Auffassung, dass ich Sie am Anfang vor der Wirklichkeit schützen sollte, log er, „möglicherweise habe ich übertrieben.

    Sabrina Hamm war damals von dem plötzlich veränderten Ton und dem milden Verhalten verdutzt. Skeptisch sah sie ihn an. Er bemerkte das. Dachte sie womöglich, dass er die späte Stunde zu zweit ausnutzen wolle? Bloß das nicht.

    Rotberg hatte für jede Situation, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte, dieselbe Strategie. Er stellte Fragen. Nach der Familie und Interessen, nach Reisen und Hobbys. Dahinter verbarg er Schüchternheit. Er konnte verebbende Gespräche beleben und manche unangenehme Stille füllen. Menschen sprachen gern von sich. Dass diese Strategie perfekt zu dem Beruf des Kriminalpolizisten passte, war ein Glücksfall.

    An jenem Abend lernte er viel über sie. Auch sie stellte ihm persönliche Fragen. Sie unterhielten sich lange, sie lachten und hörten interessiert zu. Er erfuhr, dass Sabrina Hamm eine lose Beziehung mit einem deutsch-türkischen Mann hatte. Die Verbindung sei nicht besonders tief, weil er ihr als Lebenspartner zu dominant sei. Es gab ihm einen Stich.

    Er erzählte von seiner Frau und den bereits erwachsenen Kindern. Dabei wurde ihm bewusst, dass er dem Alter nach ihr Vater sein konnte.

    Rotberg hatte einige Wochen gebraucht, die schöne Phantasie einer späten Liebschaft loszulassen. Er hatte sie beobachtet, wie sie auf Männer wirkte und es verstand, diese Wirkung einzusetzen. Sie achtete ihn aufrichtig. Ihr Bild von einem Mann an ihrer Seite sah völlig anderes aus. Rotberg spürte genau, wen sie schätzte, welche Menschen ihr nicht gefielen und welcher Typ Mann sie faszinierte. Sabrina Hamms Gegenwart belebte ihn und blieb immer ein wenig prickelnd.

    Jetzt saßen sie im Wagen, sie bugsierte ihn durch die verschiedenen Stadtteile Bremens bis zu dem betroffenen Kindergarten.

    Rotberg musste das Auto abseits abstellen. Er konnte nicht näher heranfahren, weil die Straße mit Trümmerteilen übersät war. Die Lüftung des Autos sog Rauchgeruch ins Wageninnere. Beide blieben einen Moment im Fahrzeug sitzen und ließen schweigend die bizarre Szene wirken. Menschen, die scheinbar ziellos umherliefen, Weinen, Schmerzlaute. Sie sahen den routinierten Tätigkeiten der Feuerwehr zu. Rund um das zerstörte Gebäude standen Krankenwagen und Notarztfahrzeuge. Es kamen laufend neue.

    Die Polizei versuchte die Nachbarn, die zuerst geholfen hatten, mit diplomatischem Geschick von der Unglücksstelle fortzuschicken.

    Sabrina Hamm holte tief Luft und fragte mit zugeschnürter Kehle: „Wollen wir?" Ihr ging es nicht gut.

    „Wir stehen hier mehr im Wege, als nützlich zu sein. Aber, wir müssen wohl!"

    Auch Rotberg war mulmig zumute. In den langen Jahren der Berufstätigkeit betrat er viele Unglücksstellen. Zu Beginn der Laufbahn bei der Bereitschaftspolizei und später bei der Kriminalpolizei.

    Er hatte verletzte und schockierte Menschen erlebt, hatte Bewusstlose und Tote gesehen. Nach solchen Unglücken haftete der Geruch von Bränden, von verbranntem Fleisch und Blut in seiner Nase. Er hatte nächtelang wach gelegen und die verzweifelten Leute, die nach Angehörigen fragten, vor dem inneren Auge gesehen. Am Anfang richteten ihn die erfahrenen Kollegen auf. Manchmal trank er des Nachts zwei oder drei Schnäpse, damit er wieder einschlafen konnte. Ab und zu hatte es geholfen.

    Am meisten hatte ihm zu schaffen gemacht, wenn er unvermittelt vor einem Toten oder Schwerstverletzten stand. Beim Öffnen einer Tür, beim Hochheben eines Trümmerteils oder Durchsuchen eines Gebüsches. Dann fuhr ihm der Schreck direkt in den Magen, das ein oder andere Mal so heftig, dass er sich übergeben musste. Dafür hatte er sich geschämt. Trotz der Zusicherung einiger Kollegen, dass man sich dafür nicht schämen müsse, spürte er genau, dass es unter ihnen genügend Männer gab, die ihn für zu weich hielten. Später bei der Kriminalpolizei vermied er es, an solchen Plätzen voreilig jedes Stück Holz anzuheben. Das überließ er den Leuten von der Spurensicherung oder der Bereitschaftspolizei.

    Je dichter sie dem zerstörten Gebäude kamen, desto schwieriger wurde das Gehen und umso intensiver waren die Eindrücke. Es gab kleine Ecken, in denen es brannte oder gebrannt hatte. Die Feuerwehr, die zuerst vor Ort war, hatte bereits die stärksten Brände gelöscht. Auf den Trümmern riefen erwachsene Personen verzweifelt Namen: Levi, Marie, Isabella, Oskar. Vermutlich Kindernamen. Er dachte an die eigene Enkeltochter Ella. Er hatte gestaunt, dass ein Kind von heute einen so traditionellen Namen trug. Ella hießen für ihn ältere Damen.

    Rotberg bat Sabrina Hamm, die Forensik anzurufen. Im Augenblick beschäftigte sich die Feuerwehr noch mit der Bergung. Sie würden ihre Experten auch bald vor Ort haben, um nach den Ursachen zu forschen. Während sie telefonierte, bedeutete er ihr, dass er zu dem Feuerwehrmann gehe. Dessen Gesicht erkannte er gleich, er hatte aber vergessen, wie er hieß.

    Der begrüßte ihn mit einem festen Händedruck: „Moin, Herr Rotberg!"

    Mist, der Mann erinnerte sich an ihn – er musste fragen. „Tut mir leid, mir fällt nicht mehr ein, wie Sie heißen. Es ist schon ein Jahr her, oder?"

    „Timm, Günter Timm!"

    „Klar, richtig. Herr Timm, sagte er, als sei es ihm gerade erst entfallen. „Sind Ihre Brandermittler bereits hier?

    „Nein, wehrte der Feuerwehrmann ab, „wir suchen und bergen ja noch. Es sollten jetzt bald Spürhunde eintreffen. Vermutlich gibt es einige verschüttete Personen.

    „Wissen Sie, ob es Tote gab?"

    „Ja, wie viele kann ich im Moment nicht sagen und natürlich auch nicht, ob Menschen vermisst werden."

    „Gab es Kinder unter den Opfern?"

    „Ja, antwortete Timm knapp. „Leider.

    Sabrina Hamm trat zu ihnen. „Die Spurensicherung ist unterwegs, sagte Sie an Rotberg gewandt. Sie gab dem Feuerwehrmann die Hand: „Herr Timm, oder?

    Der nickte.

    „Sabrina, bat Rotberg, „sei so gut, sorge dafür, dass alle Toten in die Gerichtsmedizin gebracht werden.

    „Ist veranlasst – es sind Fahrzeuge auf dem Weg."

    Rotberg fragte Timm, ob er eine Idee habe, was geschehen sein konnte.

    „Möglicherweise eine Gasexplosion, antwortete der, „wir haben bisher keine Pläne des Kindergartens eingesehen. Die Leiterin hat uns gezeigt, wo die Küche stand und wo die Heizanlage. Es wurde mit Gas gekocht und geheizt. Der Haupthahn ins Gebäude wurde von unseren Männern freigelegt. Gott sei Dank ist er funktionsfähig. Die Stadtwerke sind verständigt – ein Trupp sollte unterwegs sein, um die Hauptleitung zu schließen.

    „Wir wollen die Kindergartenleitung sprechen, wissen Sie, wo sie ist?"

    Timm schüttelte den Kopf: „Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden – sie war äußerlich nicht verletzt, hatte aber einen Zusammenbruch, nachdem sie begriff, was geschehen war."

    Rotberg, Sabrina Hamm, Timm und der stellvertretende Einsatzleiter der Feuerwehr besprachen das gemeinsame Vorgehen. Es wurden weitere Kollegen der Kriminalpolizei angefordert. Beamte in Uniform und in Zivil sprachen mit den umstehenden Menschen. Sie nahmen Personalien von denen auf, die im Moment nicht in der Lage waren zu sprechen. Erstarrt schauten die Augenzeugen, wenn ein Sarg an ihnen vorbeigetragen wurde. Sie versuchten einen Blick auf die zu werfen, die verletzt in einen Krankentransporter getragen wurden.

    Die Eltern, die ihr Kind noch nicht gefunden hatten, probierten immer wieder in die Ruinenlandschaft zu gelangen. Polizei, Feuerwehr und die mittlerweile eingetroffenen Krisenhelfer bemühten sich Väter, Mütter und Großeltern fernzuhalten. Niemand wollte riskieren, dass ein Angehöriger sein schwerverletztes oder gar totes Kind in den Trümmern entdeckte.

    Innerhalb einer Stunde war die Szene mit unzähligen Helfern gefüllt. Die ersten Suchhunde trafen ein und machten sich sofort an die Arbeit. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk hatten schweres Gerät herangeschafft. Von den Rändern der Unglücksstelle her, versuchte man größere Gesteinsbrocken beiseitezuschaffen. Dort, wo ein Hund anschlug, wurden mit einem Schwerlastkran aus sicherer Entfernung Steine angehoben.

    „Es muss jemand mit den Journalisten reden, meinte Rotberg. „Ist der Pressesprecher schon hier?

    Sabrina Hamm verneinte.

    „Sei so gut und sprich du mit ihnen". Er wollte sich selbst nicht in der Zeitung oder im Fernsehen sehen. Sabrina Hamm kannte das bereits. Es war nicht Koketterie – er mochte es einfach nicht. Sie hatte damit keine Probleme. Sie ließ sich gern fotografieren und gefiel sich eigentlich immer auf Bildern. Sie fand ihre Nase zwar ein wenig zu groß, hatte aber gelernt, dass sie beim männlichen Geschlecht vielleicht gerade deshalb gut ankam.

    Sie klopfte den Staub von der Hose und ging auf die Gruppe Journalisten zu. Die grellgelbe Sicherheitsweste mit dem Aufdruck machte sie als Polizistin kenntlich. Die Reporter richteten sofort Kameras und Mikrofone auf sie.

    „Guten Tag, meine Damen und Herren, sagte sie in die versammelte Runde. Alle brannten darauf, etwas von dem zu erfahren, was sie nur aus der Ferne beobachten konnten. „Ich bin Sabrina Hamm, ermittelnde Beamte bei der Kriminalpolizei Bremen. Der Pressesprecher kommt später, ich stehe ihnen für erste Antworten zur Verfügung. Es ist leider noch nicht viel, was wir wissen.

    Alle Medienvertreter redeten gleichzeitig. Sie machte eine abwehrende Geste mit beiden Händen.

    „Die Feuerwehr geht im Augenblick von einer Gasexplosion aus. Sie sehen mich erschüttert. Leider mussten wir Tote und Schwerverletzte bergen. Bis jetzt sind es etwa dreißig Verletzte und ebenso viele Tote – leider überwiegend Kinder, sagte Sabrina Hamm mit gesenkter Stimme: „Wir versuchen in Erfahrung zu bringen, wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Gebäude aufhielten.

    Die Presse hatte versucht mit den Angehörigen der Opfer zu sprechen, was die Polizei jedoch verhinderte. In einem abgesperrten Areal standen Zelte des Technischen Hilfswerks, dort konnten Angehörige betreut werden, ohne dass sie von Kameras beobachtet wurden. Immer wieder spielten sich dramatische Szenen ab, wenn Eltern glaubten, das eigene Kind entdeckt zu haben. Die Journalisten brauchten solche Bilder. Ein Teil in Sabrina Hamm verstand das gut. Dennoch appellierte Sie an das Gewissen der Medienvertreter. Sie sah, dass nicht alle unter ihnen hartgesottene Profis waren. In vielen Gesichtern bemerkte sie Erschütterung und Anteilnahme. Manch einer musste spürbar um Fassung ringen.

    Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich Sabrina Hamm von dem kleinen Pulk. Sie suchte Rotberg und fand ihn im Trümmerfeld inmitten einer Gruppe von Forensikern in ihren weißen Overalls. Die Leute starrten auf eine Stelle in den Trümmern. Sie fürchtete, dass es dort etwas Unangenehmes zu sehen gab und überlegte, ob sie sich den Anblick ersparen sollte. Jetzt war sie aber darauf eingestellt, wie Rotberg es ihr als Tipp gegeben hatte.Sie ging entschlossen auf die Kollegen zu.

    „Was gibt’s?", fragte sie.

    „Hier scheint der Explosionsherd zu sein, antwortete er. „Ein Hund hatte Witterung aufgenommen. Nachdem der Kran ein heruntergestürztes Teil der Decke hochgehoben hatte, wurde die stark verbrannte Leiche einer erwachsenen Person entdeckt – wahrscheinlich eine Frau. Ein Experte der Feuerwehr hat die Stelle untersucht und gemeint, dass dies höchstwahrscheinlich das Zentrum sei. Frag’ mich bitte nicht, woran der das erkennt.

    „An der verbrannten Frau!", spekulierte Sabrina Hamm.

    „Möglich", meinte er.

    Bevor man Stein um Stein beiseite räumte, erfassten die Spezialisten der Kripo den Abschnitt mit dem Drei-D-Scanner. Mit jeder Schicht, die abgetragen wurde, gab es einen weiteren Scan. Man fror einen Tatort quasi ein. Der Computer rechnete später aus Einzelscans eine komplette räumliche Situation zusammen. Selbst kleine Teile, die am Ort eines Verbrechens oder an einer Unfallstelle möglicherweise übersehen wurden, ließen sich nachträglich nochmals genauer betrachten. Man konnte analysieren, wie die Dinge im Raum verteilt waren und Rückschlüsse auf die Ereignis-Reihenfolge ziehen.

    Rotberg fiel es anfangs schwer, diese Technik zu nutzen. Er hatte nicht sofort die Vorteile erkannt. Dabei war ihm durchaus bewusst, wie viele Probleme er hatte, anhand von Tatortfotos das Gesamtbild der Umgebung im Kopf zusammenzusetzen. Genauso widerstrebte es ihm zunächst, vor Ort einen weißen Overall zu tragen. Jeder Polizist sah gleich aus.

    Die jüngeren Kollegen waren aufgeschlossener. Sie brachten ihm neue Methoden mit Begeisterung näher. Mittlerweile war er ein routinierter Nutzer aller Möglichkeiten. Er ging zwar nach wie vor lieber an die echten Tatorte – um auf gute Ideen zu kommen, wie er es nannte. Es faszinierte ihn aber, wie viele Bausteine heute zur Verfügung standen, um eine Tat nachzuvollziehen und eine Beweiskette lückenlos zu schließen.

    Jetzt sollten sie diesen Platz besser den Experten überlassen. Wenn es irgendeinen noch so kleinen Hinweis gab, würden sie ihn finden.

    Sabrina Hamm und Rotberg beschlossen in Erfahrung zu bringen, in welche Krankenhäuser die Verletzten gebracht worden waren. Es handelte sich um drei: Klinikum Links der Weser, Mitte und Bremen-Ost. Er rief vier Kriminalbeamte hinzu. Harald Wesselmann, mit dem er seit fast zwanzig Jahren eng zusammenarbeitete. Sven Grabert, ein jüngerer Beamter, der einigen Kollegen wegen seiner an Pedanterie grenzenden Genauigkeit auf die Nerven ging. Von der starken Seite dieses Verhaltens hatte aber manche Arbeit profitiert. Carola Menge, eine überaus kommunikative Beamtin und der wortkarge Ralf Köster – ein ideales Duo. In vielen Befragungen von Zeugen oder Verdächtigen führte die Mischung zu erfreulichen Ergebnissen. Die Zeitgenossen, die bei Carola Menges sprudelndem Charakter dichtmachten, knickten bei Kösters mürrischem Schweigen ein. Man konnte, wenn man ihn nicht kannte, unmöglich hinter seine Fassade sehen. Das schüchterte viele Menschen ein, ohne dass ein gereiztes Wort fiel.

    Rotberg teilte die Gruppe ein: „Du Ralf, fährst mit Carola ins Krankenhaus Links der Weser, Harald und Sven fahren zum Klinikum Mitte. Sabrina und ich machen uns auf den Weg nach Bremen-Ost. Wir nehmen dort alle Namen und Daten der eingelieferten Personen auf. Falls ihr die Erlaubnis der Ärzte bekommt, solltet ihr die ansprechbaren Zeugen befragen."

    Er hob den Zeigefinger und sah mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde: „Aber auf jeden Fall immer das Klinikpersonal um ein Okay bitten. Nicht wahr, Carola."

    Er zwinkerte ihr im Gehen zu. Sie verdrehte mit gespielter Genervtheit die Augen.

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Bremen, Montag 09. Februar 2009, 11.35 Uhr

    Nachdem das Eis zwischen ihnen gebrochen war, versuchte Rotberg ständig mit Sabrina Hamm zu arbeiten. Das Klima im Team hatte sich dadurch deutlich verbessert. Wenn Rotberg mit einem anderen Kollegen zu Einsätzen fuhr, tat er es aufgrund von dessen Kompetenz vor Ort.

    Wesselmann nahm er mit, wenn er sichergehen wollte, dass er gedanklich richtig lag. Der war im gleichen Alter und sah die Welt wie er. Manchmal genügte ein flüchtiger Blick zu ihm, dann wussten beide, was der andere dachte. Wesselmann war vielleicht das, was man einen Freund nennt. Rotberg konnte im Grunde nicht sagen, ob er wirkliche Freunde hatte. Wie so viele Männer, tat er sich schwer damit. Ging er mit ihm ein Bier trinken, fühlte er sich einfach wohl, auch wenn sie wenig oder nur Bedeutungsloses redeten. Das war wahrscheinlich das, was er als Männerfreundschaft verstand.

    Mit Sabrina Hamm verhielt es sich ähnlich und dennoch völlig ungleich. Nachdem er die Phase der Abwehr dieses erotischen Flirrens, das er in ihrer Gegenwart spürte, eingeordnet hatte, gab er sich einer kurzen väterlichen Phase hin. Dann ließ er auch das. Es fühlte sich gut an, mit ihr durch die Straßen zu gehen. Er nahm wahr, wie sie gleichermaßen auf Männer und auf Frauen wirkte. Die Menschen versuchten immer wieder einzuordnen, wie er mit ihr in Beziehung stand. Es gab seinem Ego einen gewissen Kick, wenn man ihm zutraute, ihr Lebensgefährte sein.

    Er war sicher, dass Sabrina Hamm das ebenso wahrnahm. Er bezweifelte allerdings, dass sie einen Kick dabei spürte, dass ein grauhaariger Kerl als ihr Partner wahrgenommen werden könnte. Er würde aber niemals mit ihr darüber sprechen.

    Am Anfang hatte er seiner Frau wenig von der neuen Mitarbeiterin erzählt. Jutta hatte aber feine Antennen. Immer, wenn Kollegen in der Abteilung eingestellt wurden, sprach er ihr über sie. Es war seine Art die Person in den Alltag zu integrieren. Jutta hörte zu und half ihm, das Bild über den Mitarbeiter abzurunden, richtig einzuordnen und so Widerstände aufzugeben.

    Jutta war sofort misstrauisch, als er zunächst nicht über diese Frau redete – wenn, dann ausschließlich abfällig. Und plötzlich schwärmte er ihr tagelang von Sabrina Hamms Stärken vor. Irgendwann fragte sie ihn auf den Kopf zu, ob er etwas mit ihr habe.

    Rotberg fühlte sich ertappt. Er errötete und spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Vor dem inneren Auge sah er seine Ohren rot leuchten. Je mehr er versuchte dieses Gefühl zu verbergen, desto stärker wurde es. Ihm half nur die Flucht nach vorn. Er erzählte Jutta alles über die Kollegin, er gestand ihr, dass sie ihm auf Anhieb gefallen hatte und er sich das nicht eingestehen wollte.

    Jutta hatte das geahnt – dafür liebte er sie. Sie war der Heimathafen, es gab keinen zweiten Menschen auf der Welt, den er mehr brauchte. Wenn sie sagte, dass er seine Freundschaften pflegen solle, war er verwundert. Sie war alle Freundschaft, die er anstrebte. Die Erotik hatte im Laufe der Zeit abgenommen, andere Dinge des Lebens gewannen an Bedeutung. Das Haus. Die Sorge um die Kinder und die Liebe zu ihnen. Die Ausbildung der beiden. Schließlich zog Fabian zuerst aus, zwei Jahre später Nadine. Sie mussten wieder neu lernen, als Paar miteinander auszukommen.

    Dann stand plötzlich Sabrina Hamm vor ihm. Es hatte ihn erwischt wie ein Schmiedehammer. Er durchlebte und durchlitt die Gefühle einer unerfüllten Leidenschaft. Er hatte versucht, es zu unterdrücken. Aber Erotik ist ein mächtiger Begleiter. Schon mancher brave Ehemann hatte Hals über Kopf das bisherige Leben hingeworfen. Für einige flüchtige Wochen viel riskiert und alles verloren, was ihm bis dahin Stabilität gab. Im Extremfall konnte daraus ein Fall für seine Mordkommission werden.

    Bei aller Scham Jutta gegenüber überwog die Erleichterung. Zunächst zögerte er, dann sprudelte es aus ihm heraus. Sie blieben nach dem Essen sitzen. Er hatte eine Flasche Wein geöffnet, die sie im Laufe des Abends leerten. Er vertrug kaum noch Alkohol. Beim zweiten Glas war er nicht mehr vollständig Herr seiner Zunge. Schließlich gingen sie ins Bett. Sie ließen das Geschirr mit den mittlerweile angetrockneten Speiseresten auf dem Tisch stehen. Es würde am anderen Morgen in der ganzen Wohnung danach riechen. Er versprach ihr, früher aufzustehen, alles wegzuräumen und den Frühstückstisch zu decken. Sie lagen nebeneinander. Jutta rollte sich zu ihm hinüber. Die Erleichterung darüber und der Wein ließen ihn schnell einschlafen.

    Sabrina Hamm und Rotberg erreichten das Krankenhaus Bremen-Ost. Er hoffte, dass es ihnen gelingen würde, mit einer Mitarbeiterin des Kindergartens zu sprechen. Die verletzten Kinder lagen im Klinikum Mitte. Eine der vorrangigsten Aufgaben Wesselmanns würde es sein, sie und die Eltern zusammenzubringen.

    Rotberg hatte Glück, in der Klinik lag Rose Stein, die Leiterin der Kindertagesstätte und Rainer Wenzel, einer der ganz wenigen männlichen Erzieher. Es gab Menschen, die warf so ein Unglück lebenslang aus der Bahn. Zu denen gehörten diese beiden, laut Auskunft der Ärzte nicht. Rose Stein war eine Frau, die das Ereignis mit einer psychologischen Aufarbeitung gut bewältigen würde. Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt wollte Rotberg aber noch einen Tag warten, bevor sie mit ihr sprachen.

    Rainer Wenzel war ein ausgeglichen wirkender Mann von Mitte vierzig. Einer dieser stabilen Charaktere, die ausreichend psychische Ressourcen besaßen, um solch eine extreme Situation zu verarbeiten. Harmonische Kindheit, Eltern, die ihn die Liebe zu sich selbst gelehrt und ihm die Fähigkeit zum Lösen von Problemen mitgegeben hatten.

    Er war durch herumfliegende Teile am Kopf getroffen worden, das rechte Bein war gebrochen und etliche Prellungen färbten den Körper an vielen Stellen blau. Er war traurig über das, was sich ereignet hatte, beweinte aber nicht das eigene Unglück, er vergoss bittere Tränen um seine Schützlinge. Einige Kinder um ihn herum hatten geschrien, andere waren bewusstlos oder womöglich tot. Durch die Explosion hörte er einen Pfeifton, er nahm alles gedämpft wahr.

    Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt führte man die beiden Polizisten zu ihm ins Zimmer. Rotberg sah ihn weinen und fragte er, ob sie am nächsten Tag wiederkommen sollten.

    Wenzel schüttelte den Kopf, er schnäuzte die Nase: „Geht schon", meinte er und deutete mit den Händen auf die Stühle.

    Sie nahmen zunächst die Personalien auf. „Wir haben Fragen zum Hergang", fuhr er fort.

    „Ob ich da viel helfen kann, weiß ich allerdings nicht. Es gab einen Knall und eine gewaltige Druckwelle. Dann brach alles zusammen. Das Nächste, was ich spürte, waren Schmerzen. Von meiner Stirn lief mir Blut in die Augen. Bewegen war unmöglich."

    „Das, was sich im Moment der Explosion abgespielt hat, können Sie kaum wissen. Was uns hauptsächlich interessiert ist das, was zum Unglück geführt hat." Rotberg sah ihn an.

    „Gas?", fragte Wenzel.

    „Genau das meine ich, antwortete Rotberg. „Wir denken auch an eine Gasexplosion. Die Küche und die Heizanlage wurden damit befeuert.

    „Sie wollen wissen, ob ich einen Gasgeruch wahrnahm?"

    Die beiden Polizisten nickten gleichzeitig.

    Der Erzieher schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Dann hätte ich doch sofort reagiert!"

    „Jedes Unglück hat in der Regel mehrere Faktoren, die zusammentreffen müssen, menschliches Versagen gehört zu den häufigsten. Rotberg sah ihn an: „Gibt es irgendetwas, das Ihnen vor der Explosion aufgefallen ist? Haben Sie von einer anderen Person von solch einem Vorfall erfahren? Ich meine zum Beispiel einen Ausfall der Heizung oder das es kein warmes Wasser gab. War etwas Ungewöhnliches aus der Küche zu hören? Gab es kurz vorher eine Reparatur an der Heizanlage?

    Wenzel überlegte. „Nein, nicht, dass ich wüsste! Das ist auch kein Thema in den Teambesprechungen. Wenn etwas kaputt ist, wenden wir uns an Frau Stein, die kümmert sich darum." Er sah sie fragend an.

    „Frau Stein ist im Moment nicht ansprechbar, wir befragen sie morgen, meinte Sabrina Hamm. „Wäre Ihnen ein Handwerker im Haus aufgefallen?

    „Wenn er laut ist, ja. Oder, wenn ich ihn zufällig im Gebäude herumlaufen sehe. Bei Arbeiten, die in unmittelbarer Nähe der Gruppenräume stattfinden, gehen wir mit den Kindern in den Garten." Er maß dem keine große Bedeutung bei.

    Rotberg hakte nach: „Ist Ihnen ein Handwerker aufgefallen?"

    „Im Bereich der Heizung ...", Wenzel überlegte.

    Er strich mit der Hand über den Mund und wandte sich zum Fenster. Der Himmel war tiefblau. Als ob sie das Unglück verhöhne, schien die Sonne so strahlend, wie man sie eigentlich nur an einem glücklichen Tag wahrnahm. Dieser Gedanke streifte sein Unterbewusstsein. Er ließ die vergangene Zeit vor dem inneren Auge ablaufen.

    „Ja, vor zwei Monaten wurde die Heizanlage gewartet, er zog die Stirn kraus. „Eine Woche später war dann noch mal ein Monteur da, ein ganz dicker. Ich sah ihn zufällig auf dem Gang und fragte ihn im Vorübergehen, ob etwas kaputt sei. Er murmelte nur vor sich hin. Ich maß dem aber keine Bedeutung bei. Es funktionierte ja alles.

    „War der zweite Techniker derselbe wie der erste?", wollte Rotberg wissen.

    „Keine Ahnung, Wenzel zuckte mit den Schultern. „Ich habe den ersten nicht gesehen. Wir sollten an dem Tag bloß für einige Minuten die Heizkörper runterstellen.

    „Kennen Sie die Firma, die die Wartungen durchführt?", fragte Sabrina Hamm.

    „Nein, da müssen Sie auf Frau Stein warten!" er hob bedauernd beide Hände.

    „Haben Sie mit jemandem über den erneuten Handwerkerbesuch gesprochen?"

    „Nein."

    „Tja, Rotberg atmete aus. Er sah fragend zu seiner Kollegin, „das war’s für heute, oder?

    Sie bestätigte mit einem Nicken.

    „Herr Wenzel, vielen Dank. Wir versuchen morgen mit Ihrer Chefin zu sprechen, sie liegt zwei Stockwerke höher. Wenn sich aus dem Gespräch neue Fragen an Sie ergeben, würden wir gern wieder vorbeikommen." Rotberg stand auf.

    „Klar, der Erzieher streckte ihnen die Hand entgegen. „Ist noch jemand von der Kindertagesstätte hier im Haus?

    Sabrina Hamm tippte auf ihr Smartphone: „Eine Frau Ewers. Sie ist schwer verletzt und nicht ansprechbar."

    „Ach du liebe Zeit, Wenzel wirkte besorgt: „Können Sie etwas über ihren Zustand sagen?

    „Nichts Genaues, nur dass es ernst ist."

    „Bitte seien Sie so gut und halten Sie mich auf dem Laufenden", bat er.

    Rotberg reichte ihm eine Visitenkarte: „Versprochen! Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Erholen Sie sich, Herr Wenzel."

    Die beiden verließen das Krankenzimmer. Sie hatten keine Lust aufs Büro und Berichteschreiben. Sie beschlossen, nochmals zu der Unglücksstelle zu fahren.

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Bremen, Montag 09. Februar 2009, 16.40 Uhr

    Mittlerweile hatte sich der Tag dem frühen Abend gebeugt. Ein schneeloser Wintertag, jetzt wurde es recht kühl. Sabrina Hamm saß neben ihm im Auto, sie tippte einige Notizen in ihr Smartphone. Wie so viele der jüngeren Leute hatte sie eine große Fingerfertigkeit im Umgang mit diesen Dingern. Er störte sie nicht beim Tippen. Ab und zu stellte sie eine Frage über das soeben geführte Gespräch mit Wenzel, dann schrieb sie weiter. Sie nutze solche Fahrten, um wenigstens schon einiges für den Bericht erledigt zu haben.

    Rotberg sah, dass die meisten Menschen so einen Apparat benutzten. Selbst Wesselmann hatte sich bereits einen zugelegt. Er tippte und strich ständig darauf herum. In manchen Besprechungen war Rotberg genervt darüber, dass jeder mit seinem Telefon befasst war. Sicher, es war praktisch, wenn man mal schnell ins Internet gehen konnte, um etwas nachzuschauen. Er hatte aber oft den Eindruck, dass die Mitarbeiter nicht bei der Sache waren.

    Jutta Rotberg arbeitete bei einem großen Automobilhersteller im Büro. Auch von ihren Kollegen besaßen die meisten ein Smartphone. Sie hatte überlegt, ob sie ihrem Mann so ein Gerät zum Geburtstag schenken sollte. Weil es recht teuer ist, hatte sie ihn lieber vorher gefragt. Er hatte abgewehrt. Das brauche er nicht. Da sei er nur wieder tagelang damit beschäftigt, alle Funktionen für herauszufinden. Sie beschloss, Weihnachten abzuwarten. Da kamen die Kinder zu Besuch, ihr Sohn Fabian würde ihm das dann so einrichten, dass er zurechtkam.

    Nach einer Stunde Fahrtzeit durch den Feierabendverkehr erreichten Sie die Unglücksstelle. Mittlerweile lag die Szene im Scheinwerferlicht. Sie wirkte in ihrer inselhaften Helligkeit so gespenstisch, wie sie auch tatsächlich war. Vor Ort standen noch mehr Kameras und Journalisten. Viel schweres Räumungsgerät wartete auf den Einsatz. Es herrschte eine professionelle Atmosphäre. Die meisten Anwohner waren nach Hause gegangen. Es gab jedoch eine Menge Menschen, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihre Neugierde zu befriedigen. Von allen Seiten drängten sie heran. Aber durch die Kollegen von der Bereitschaft war das Gebiet weiträumig abgesperrt worden.

    Im Zentrum der Ruine arbeitete immer noch eine Gruppe weiß gekleideter Polizisten. Der Scanner nahm gerade ein weiteres virtuelles Abbild der Szene.

    „Na, da sind sie wohl tatsächlich zum Herd der Explosion durchgedrungen", meinte Sabrina Hamm.

    *

    „Bitte was?, Rotberg sah den Kollegen von der Spurensicherung fassungslos an. „Sag’, dass das nicht wahr ist! Er wartete auf eine Reaktion. „Ihr habt wirklich einen Zünder gefunden?"

    Der Angesprochene ging an die Kiste, in die er die Fundstücke verstaut hatte. Er holte zwei verschlossene Plastiktüten heraus und hielt sie Rotberg vor die Nase. Die Tüten baumelten unter seinen Fingern. Rotberg sah die kleinen Metallteile an. Er musste die Brille abnehmen, um alles besser zu erkennen.

    „Ist das eine Batterie?"

    Der Forensiker nickte: „Wir müssen das natürlich noch untersuchen. Zuerst wollen wir dieses Stück des Ruinenfeldes komplett auswerten und später im Labor analysieren und rekonstruieren. Beim Bergen nehmen wir immer wieder für einen Moment einen leichten Marzipangeruch wahr."

    „Marzipan?", fragte Sabrina Hamm.

    „Sie meinen Plastiksprengstoff?", fasste Rotberg nach.

    Der Kollege wiegte den Kopf: „Aber bitte mit aller Vorsicht. Ich möchte erst sichergehen."

    Rotberg blickte in Leere. „Eine Bombe in einem Kindergarten? Er sprach jedes Wort einzeln, so als gehörten sie nicht zu demselben Satz und er versuchen würde einen Sinn darin zu finden. „Hier haben Kinder gespielt – Kinder! Drei oder vier Jahre alt!

    Sabrina Hamm sah fassungslos zu den Anwesenden: „Was für ein mieses Schwein tut denn so etwas?"

    Rotberg sah ihr in die Augen. „Okay, sagte er in die Runde, „nichts davon geht an die Öffentlichkeit, bevor Klarheit herrscht. Wie lange brauchen Sie?, frage er die Leute der Spurensicherung.

    „Morgen Mittag bin ich fertig. Wir werden wahrscheinlich noch zwei Stunden graben. Dann fahren wir ins Labor und legen eine Nachtschicht ein."

    „Gut, Rotberg wandte sich an Sabrina Hamm gewandt: „Wir fahren doch noch mal ins Klinikum Ost, um mit der Kindergartenleiterin zu sprechen. Ich will von ihr hören, wer in der letzten Zeit Zugang zum Kindergarten hatte. Jetzt ist eine andere Situation da!

    Er setzte das Blaulicht aufs Dach und fuhr mit hohem Tempo los. Er bat Sabrina Hamm, den Pressesprecher anzurufen, um ihn zu absoluter Verschwiegenheit zu verdonnern. Danach sollte sie das große Gedeck für zwanzig Uhr zusammenrufen – so nannte er es, wenn er alle Kollegen zu einer Gesamtbesprechung sehen wollte.

    Nachdem sie die Anrufe erledigt hatte, versuchte er zusammenzufassen: „Mit was haben wir es zu tun? Mit einem Verrückten? Einem Terroranschlag?"

    „Terror, würde ich sagen", antwortete sie.

    „Gegen wen oder für wen?"

    „Islamisten?" Sie sah in fragend von der Seite an.

    Auf die kam man heutzutage zuerst. Rotberg war Profi genug, um nicht sofort dem nächstliegenden Impuls zu folgen und alle anderen Varianten zu vernachlässigen.

    „Wenn es religiöse Fanatiker sind, was wollen die? Wer kann sonst dahinterstecken?"

    „Nazis? Linksradikale?" Sabrina Hamm klopfte die naheliegenden Möglichkeiten ab.

    „Falls es Islamisten sein sollten, könnte es mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan zusammenhängen, spekulierte er. Wenn es Nazis oder Kommunisten sind, welche aktuellen Themen liegen da in der Luft? Und warum töten die Kinder?

    „Um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen."

    „Das haben sie wahrlich getan, wer auch immer dahintersteckt."

    Beide schwiegen einen Moment. Rotberg raste dabei konzentriert durch den abebbenden Berufsverkehr. Sie würden die Klinik jetzt schnell erreichen. Mit dem Martinshorn gewinnt man viel Zeit, falls man sie braucht.

    „Es könnte ebenso gut ein Erpresser sein, spekulierte Sabrina Hamm. „Oder doch ein Verrückter?

    „Verrückt war der Täter auf jeden Fall, antwortete er. „Und wenn er das nicht ist, ist er kaltblütig. Mehr als alle Kunden, die wir bisher betreuen mussten.

    „Ein Soziopath!"

    „Soziopath?", fragte Rotberg.

    „Das sind oft hochintelligente Menschen. Sie haben kein Mitgefühl. Sie wissen, dass andere Leute emphatisch sein können, manchmal ahmen sie dieses Verhalten nach. Sie haben gelernt, dass es gesellschaftlich angebracht ist, solche Regungen zu zeigen. Ein Soziopath ist oft ein knallharter Karriere- und Machtmensch. Sie kennen keine Skrupel. Sie sehen ausschließlich sich und die persönlichen Ziele. Vom sozialen Leben sind sie isoliert, häufig führen sie parallele sexuelle Beziehungen. Übertriebenes Karriereverhalten wird gesellschaftlich nicht geschätzt, ist aber auch nicht verboten, solange man im Rahmen der Gesetze bleibt. Man erkennt sie meistens erst, wenn sie diese Grenze überschreiten. Sie sind nicht therapierbar. Sie vermissen keine Empathie und empfinden sich selbst als völlig normal." Sabrina Hamm sah mit leicht zusammengekniffenen Augen nach vorn durch die Windschutzscheibe, so als lese sie dort in einem Lexikon.

    „Oha, sagte Rotberg, „woher hast du denn das?

    „Psychologieseminar, antwortete sie knapp. „Ich bin bisher aber keinem begegnet. Weder beruflich noch privat.

    „Unabhängig davon, welche Motive hinter der Tat stecken, mit so einem haben wir es doch auf jedem Fall zu tun, was meinst du?"

    „Nicht unbedingt, widersprach sie, „es kann auch ein fanatisierter Täter sein. Mit politischen oder religiösen Motiven. Fanatiker sind, wenn sie nicht allein agieren, meistens Instrumente einer Organisation. Die Soziopathen in diesem Zusammenhang sind dann eher die Auftraggeber.

    „Das ist beeindruckend. Bitte kümmere dich darum, dass wir nachher im großen Gedeck einen Psychologen haben. Bei der Schwere des Falls sollte die Polizeispitze ebenfalls mit am Tisch sitzen", sagte Rotberg.

    „Den Polizeirat?"

    „Den, meinte er, „den Polizeipräsidenten und wenn möglich, den Innensenator. Genau genommen brauchen wir auch das BKA, aber das kann ja in der Zwischenzeit die Polizeileitung organisieren.

    „Da bekomme ich langsam Herzklopfen", antwortete Sabrina Hamm. Sie legte die Hand auf die Brust.

    „Kein Grund zur Nervosität, beschwichtigte Rotberg sie, „ Politiker sind ebenfalls nur Menschen. Stell’ sie dir einfach im knittrigen Pyjama vor, wie sie nachts zum Pinkeln gehen. Er zwinkerte ihr einen flüchtigen verschmitzten Blick zu.

    Sie lächelte und begann zu telefonieren. In der Zwischenzeit hatten Sie die Klinik erreicht. Sabrina Hamm telefonierte noch im Fahrstuhl. Auf der Station angekommen, drängte Rotberg – er müsse sofort den zuständigen Stationsarzt sprechen. Eigentlich war er stets freundlich, wenn er etwas erreichen wollte, konnte er seinem Auftreten jedoch den Nachdruck verleihen, der einen Widerspruch nicht zuließ. Die Schwester griff umgehend zum Telefon.

    Zwei Minuten später kam ein Arzt mit großen Schritten auf sie zu. Rotberg ersparte ihm Details, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er Frau Stein auf jeden Fall unverzüglich befragen musste. Der Doktor wirkte unsicher – er war noch sehr jung.

    „Gut, sagte er, „ich möchte vorher kurz allein zu ihr hinein.

    „Klar, gab Rotberg knapp zurück, „wir warten vor der Tür.

    Der Arzt ging voran. Er trat ins Krankenzimmer und schloss die Tür. Die beiden Beamten hörten, dass gesprochen wurde. Nach kurzer Zeit ließ er sie hinein. Im Zimmer lag eine weitere Patientin. Rotberg stellte sich der Dame vor und fragte, ob sie mit Frau Stein eine Viertelstunde ungestört reden könnten.

    „Natürlich, antwortete sie, „ich ziehe mir nur etwas über.

    „Vielen Dank. Rotberg wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Er rückte zwei Stühle neben das Bett: „Frau Stein, wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Sebastian Rotberg, das ist Sabrina Hamm. Wir sind von der Kriminalpolizei und untersuchen ..., er überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, „wir beleuchten die heutigen Ereignisse an der Kindertagesstätte. Wir haben vorhin bereits mit Ihrem Mitarbeiter, Herrn ...", er sah hilfesuchend zu Sabrina Hamm.

    „... Wenzel", ergänzte sie.

    „... mit Herrn Wenzel gesprochen. Bei dem Gespräch ergaben sich jedoch Aspekte, die einer genaueren Betrachtung bedürfen. Glauben Sie, dass Sie uns dabei unterstützen können? Wir fassen uns so kurz wie möglich."

    Rose Stein errötete vor Anspannung. Sie atmete hastig und legte beide Hände auf die Brust. „Neue Aspekte?", fragte sie besorgt.

    „Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Wir brauchen bloß einige Antworten auf drei bis vier Fragen. So bestimmt, wie Rotberg eben vor der Schwester und dem Arzt aufgetreten war, so freundlich und einfühlsam war er jetzt ihr gegenüber. „Da wir heute Abend mit unserer Arbeit ein paar Schritte weiterkommen wollen, dachten wir, dass wir sie vielleicht doch noch befragen könnten.

    „Natürlich, antwortete Frau Stein, „es ist wahrscheinlich wichtig, dass man die Ursache des Unglücks schnell herausfindet.

    „Ich freue mich, dass Sie es so sehen. er machte eine Pause. „Herr Wenzel hat uns gesagt, dass die Heizanlage der Tagesstätte vor kurzem gewartet wurde. Ist Ihnen die Firma, die das durchführt, bekannt?

    „Ja, natürlich. Es ist Firma Schreiber – Schreiber GmbH oder KG – ich bin nicht sicher."

    „Aus Bremen?", fragte Sabrina Hamm.

    „Ja, aus Sebaldsbrück."

    „Herr Wenzel sagte uns, dass zweimal jemand von der Heizungsfirma da war. Hatten Sie den Handwerker nochmals beauftragt? War etwas defekt?" wollte Rotberg wissen.

    „Zweimal? Rose Stein überlegte. „Nein, nur einmal und defekt war auch nichts. Sind Sie sicher, dass Herr Wenzel die Firma noch mal in unserem Haus gesehen hat?

    „Nein, gesehen hat er einen Mitarbeiter nur bei dem zweiten Besuch und hatte ihn gefragt, ob etwas kaputt sei. Beim ersten Termin hatte man ihn nur gebeten, vorübergehend die Heizkörper runter zu regeln."

    „Ja, richtig, bestätigte Rose Stein, „das machen die immer so bei der Wartung.

    „Wann war das?"

    „Vor zwei Monaten? Sie ließ den Satz wie eine Frage im Raum schweben. „Auswendig kann ich Ihnen das nicht sagen. Mein Büro ist ja weitgehend unbeschädigt, Sie können das gern nachschlagen.

    „Das tun wir, versicherte Rotberg. „Was ist mit einem zweiten Besuch der Firma?

    „Davon weiß ich nichts. Wenn es ein Anderer wusste, hat es mir niemand erzählt. Ich habe auch keine weitere Rechnung bekommen."

    „Könnte es sein, dass in der Rechnung des Installateurs bereits eine Position enthalten war, die erst bestellt und später eingebaut werden sollte?"

    „Nein, das ist unüblich. Ich hätte das bei der Wartung ja unterschreiben müssen. Sie dachte noch einmal nach. „Nein!, sagte Sie entschieden mit einem kurzen Kopfschütteln.

    Rotberg sah Rose Stein an. Sie war eine attraktive Frau von etwa fünfzig Jahren. Vielleicht sah sie jünger aus, als sie war. Kein Ehering – das musste nichts bedeuten. Eine diszipliniert wirkende Frau. Die Arbeit wird ein wichtiger Teil ihres Lebens sein. Wenn sie so klar antwortete, würde es stimmen.

    Für diese Gedankenkette brauchte Rotberg weniger als eine Sekunde. Er war immer wieder erstaunt, wie schnell das menschliche Gehirn eine Momentaufnahme machte, sie bewertete und meistens richtig lag. So schnell kommt das Denken nicht hinterher.

    „Könnte Herr Wenzel einen anderen Handwerker gesehen haben? Einen Elektriker oder einen Tischler, den Sie beauftragten?", fragte Sabrina Hamm.

    „Nein, es gab keinen weiteren Auftrag."

    „Sie sind doch ein städtischer Kindergarten, wäre es denkbar, dass die übergeordnete Behörde jemanden bestellt hat?", hakte Sabrina Hamm nach.

    „Das gibt’s natürlich, meinte Frau Stein, „aber in der Regel bekomme ich vorher Bescheid. Es ist auch möglich, dass es irgendwie untergegangen ist. Ich habe allerdings auch von keinen bevorstehenden Sanierungs- oder Umbauarbeiten gehört. Das geht eigentlich immer seinen geregelten Gang.

    „Gibt es, Rotberg korrigierte sich, „gab es in Ihrem Haus eine Videoüberwachung?

    Rose Stein blickte ihn skeptisch an. „Wieso fragen sie das? Stimmt etwas nicht?"

    Rotberg überlegte, wie er sich ausdrücken sollte. Er tippte mit dem Zeigefinger in einer abwesenden Geste auf die Unterlippe. „Natürlich stimmt etwas nicht, Frau Stein. Wenn alles gestimmt hätte, wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen."

    Rose Stein hatte die Berichterstattung von ihrem Bett aus im Fernsehen verfolgt. Es war eine Tragödie. Und natürlich hatte der Polizist recht, wäre alles normal gewesen, wäre es nicht geschehen. Vielleicht hatte die Stadtverwaltung doch jemanden beauftragt ohne sie zu informieren oder schlimmer noch, sie hatte es übersehen.

    „Nein, es gibt keine Videoüberwachung. Jedenfalls nicht so eine, die etwas aufzeichnet. Wir haben am Tor und an der Eingangstür eine Kamera mit der wir sehen können, wer draußen klingelt. Da die Tür und das Tor tagsüber meistens offen sind, spielt das aber keine Rolle." Sie überlegte kurz und zog die Augenbrauen leicht zusammen.

    Rotberg merkte an ihrem nachdenklichen Blick, dass sie etwas sagen wollte. Er bemerkte, wie Trauer und Furcht ihr Gesicht besetzten.

    „Es ist natürlich möglich, dass die Stadt einen Handwerker geschickt hat. Es ist auch denkbar, dass man vergessen hat, mich darüber zu informieren. Sie machte eine Pause: „Und es kann sein, dass ich eine E-Mail erhielt und sie gedankenlos wegklickte, ohne sie gelesen zu haben. Das ist mir ab und zu passiert.

    Sie grübelte und rieb sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand die Stirn. Rotberg und Sabrina Hamm warteten ab. Er dachte, dass es wahrscheinlich Zeit sei, aufzuhören.

    „Wenn ich etwas übersehen habe, dann weiß ich im Augenblick nicht, was ich anderes getan hätte. Ich hätte einem angemeldeten Handwerker gezeigt, was er tun soll. Ich hätte auch in diesem Fall sicher nicht neben ihm gestanden, um die Arbeit zu kontrollieren." Sie sah mit unsicherem Blick zuerst Rotberg und dann Sabrina Hamm in die Augen.

    „Frau Stein, unterbrach er in einem positiven Ton ihre Gedankenkette, „darum geht es auch nicht. Fragen stellen, ist ein Teil unseres Berufes. Ich lebe ebenfalls ständig in der Angst, etwas zu übersehen und einer Person zu schaden. Wir wollten in Ihnen keine Schuldgefühle auszulösen.

    Er stand auf und sah seine Kollegin an: „Gehen wir?"

    Er reichte Rose Stein die Hand und legte in einer fürsorglichen Geste die andere Hand auf die ihre. „Frau Stein, versuchen Sie bitte zu schlafen, vielleicht lassen Sie sich ein Schlafmittel geben. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachtschrank. Wenn Ihnen etwas einfällt, melden Sie sich einfach, okay? Möglicherweise schauen wir noch mal herein oder wir besuchen Sie zu Hause."

    „Ach, eine Kleinigkeit möchte ich noch wissen, sagte Sabrina Hamm, „Ihr Mitarbeiter sagte, dass der Handwerker, den er gesehen hat, auffallend korpulent war. War der, mit dem Sie zu tun hatten, korpulent?

    „Nein, Rose Stein lächelte, „das war ein ganz junger drahtiger Mann. Kein Gramm Fett.

    „Gut, danke – das war’s!"

    Peter Gnas Peter Gnas 2 0 2016-01-30T18:30:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 2016-05-09T09:40:00Z 3 150579 948649 7905 2194 1097034 14.0

    Bremen, Montag 09. Februar 2009, 18.05 Uhr

    Auf der Fahrt zum Präsidium suchte Sabrina Hamm im Internet nach dem Installationsbetrieb. Sie rief dort an. „Mist, Anrufbeantworter!" Auf der Internetseite des Betriebes fand Sie den vollen Namen des Inhabers und eine Mobilnummer. Sie wählte – beim zweiten Klingelton meldete sich eine ältere Frauenstimme.

    „Frau Schreiber? Sind Sie und Ihr Mann Besitzer des Installationsbetriebs Schreiber in Sebaldsbrück? Sabrina Hamm lauschte. „Könnte ich Ihren Sohn sprechen? Pause. „Okay, vielen Dank."

    Man muss ihr nichts sagen, sie erledigt alles Wichtige sofort, dachte Rotberg. Das mochte er. Sie nahm die beschriebenen Zettel aus der Jackentasche und studierte die Notizen von soeben.

    „Herr Jonas Schreiber?", sie hörte zu und stellte sich vor. Dann fragte sie, ob er bei dem Kindergarten die Wartung durchgeführt habe. Jonas Schreiber kannte den Vorgang, er hatte die Arbeiten aber nicht selbst erledigt – die Rechnung hatte er persönlich geschrieben. Wann es jedoch genau war, musste er erst im Betrieb nachschauen. Sie seien seines Wissens nur einmal vor Ort gewesen. Er sagte, dass er über der Firma wohne und gleich nachsehen würde.

    Rotberg sah sie fragend an: „Und?"

    „Er sieht in den Unterlagen nach und ruft zurück."

    Beide blieben stumm und sahen auf die Straße. Draußen war es mittlerweile Abend geworden. Der Verkehr lief ruhig. Mit ihr wortlos im Auto zu sitzen strengte nicht an. Es gab Menschen, da hatte man das Gefühl, dass man pausenlos Konversation betreiben müsse, nur um keine Beklemmung aufkommen zu lassen. Es hatte mit Vertrautheit zu tun, wenn man gemeinsames Schweigen aushalten konnte.

    Ihr Telefon klingelte. Sie lauschte. „Prima, vielen Dank, Herr Schreiber. Und entschuldigen Sie bitte die Störung."

    „Er hat in den Unterlagen nachgesehen – der Handwerker war nur einmal für die Wartung da. Ohne Folgereparatur. Die Mutter hatte parallel bei dem Gesellen angerufen und sicherheitshalber nachgefragt."

    „Ein aufgeweckter Installateur. Ich glaube, den muss ich mir notieren, falls ich einen Klempner brauche." Rotberg lächelte.

    „Bei der Stadt erreichen wir wahrscheinlich heute niemanden mehr. Ich kann’s ja mal probieren. Sabrina Hamm suchte im Internet nach dem Anschluss. „Anrufbeantworter, sagte sie mit einem Schulterzucken.

    Rotberg dachte, dass so ein Wischtelefon – das war sein Begriff für Smartphones – nicht so übel sei. Er wollte mit seinem Sohn darüber sprechen, was für ihn das Richtige wäre. Jutta hatte ja auch schon daran gedacht, ihm eines zu schenken. Er scheute jedoch die Lernerei für neue technische Geräte. Sein Telefon klingelte in der Jackentasche.

    „Rotberg! Er lauschte. „Was? Ist was passiert? Wir kommen direkt dort hin.

    „Wir sollen zum Innensenator fahren. Die ganze Mannschaft ist unterwegs, inklusive Polizeipräsident."

    „Das klingt bedeutend. Haben sie dir was gesagt?", fragte Sabrina Hamm.

    „Ich habe kein gutes Gefühl, sagte er mit einem vagen Tonfall. Er spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte. „Hoffentlich ist nicht noch etwas geschehen.

    Der Innensenat befand sich in einer schmucken Stadtvilla an der Contrescarpe, der Straße, die entlang des historischen Wallgrabens lief. Der Parkplatz war voller Autos – ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. Das Haus war hell beleuchtet. Ein Kamerateam von Radio Bremen lud das Equipment für eine Übertragung aus.

    „Da ist bestimmt was durchgesickert", meinte Rotberg grüblerisch.

    „Das kann ohne Bedeutung sein, antwortete Sabrina Hamm. „Der Senator ist oberster Dienstherr der Polizei und zuständig.

    „Na, wir werden gleich mehr wissen." Er hatte deutliche Zweifel in der Stimme.

    *

    Als beide in das große Besprechungszimmer kamen, lief Wesselmann auf sie zu. „Es ist öffentlich!", flüsterte er halblaut.

    „Was?", fragte Rotberg. Er begriff nicht.

    „Der Täter hat sich bei Radio Bremen gemeldet und gesagt, dass er eine Bombe gelegt hat!"

    „Wie bitte? Und?, Rotberg sah Wesselmann fragend in die Augen. „Weiter!

    „Mehr weiß ich auch nicht."

    Herbert Franke, der Innensenator kam mit ernstem Gesicht auf Rotberg zu. „Guten Abend Herr Hauptkommissar, wir sind jetzt komplett und können beginnen."

    „Verzeihung, sagte Rotberg, „wir haben nicht gewusst ...

    „... konnten Sie ja nicht", unterbrach ihn der Senator.

    Er gab Sabrina Hamm die Hand und stellte sich vor: „Franke."

    „Sabrina Hamm."

    „Wollen wir?", der Senator sah in die Runde. Er bat, Platz zu nehmen.

    Auf dem Tisch standen Getränke und Gläser, auf Tellern lagen verpackte Schokoladenriegel. Vor jedem Sitzplatz befanden sich Block und Kugelschreiber. Rotberg merkte jetzt, wie ihm der Magen knurrte – er würde gleich einige Süßigkeiten essen.

    Senator Franke klopfte mit dem Stift an sein Glas. Sofort wurde es still. „Meine Damen, meine Herren, er sah in die Runde, „ich weiß nicht, was Sie bereits wissen. Ich denke, dass ich den größten Wissensstand besitze. Ich schlage vor, dass ich zunächst berichte, damit alle auf demselben Stand sind. Wir befinden uns noch unter dem Eindruck der Explosion vom Vormittag. Ich konnte mir mit Bürgermeister Cleve vor Ort ein Bild machen. Er wird später zu uns stoßen.

    Franke deutete auf zwei Männer, die rechts von ihm saßen. „Ich möchte Ihnen, falls Sie die Herren nicht kennen, die Kollegen vom Bundeskriminalamt vorstellen. Neben mir sitzt Jan Hofeld, daneben ..., er sah auf seinen Block, „... Jonas Schellenberg. Da es sich um einen terroristischen Vorfall handelt, bin ich überzeugt, dass es sinnvoll ist, wenn wir kooperieren. Ich will mich zunächst bei allen bedanken, die heute im Erdbeerweg mitgearbeitet haben und die grauenvollen Szenen ertragen mussten. Ich kann Ihnen versichern, dass auch wir erschüttert sind.

    Der Senator trank einen Schluck Wasser. „Wir wissen, dass die Spezialisten an einer Stelle Hinweise entdeckt haben, die auf Sprengstoff schließen lassen. Ich bin darüber umgehend informiert worden. Ich konnte nicht fassen, dass es Menschen gibt, die einen Bombenanschlag auf eine Kindertagesstätte verüben. Wie auch Ihnen, fielen Polizeipräsident von Berghausen und mir in unserem Telefonat sofort die üblichen Kandidaten ein: Islamisten oder politisch Radikale."

    Franke machte eine Geste zu einem Mitarbeiter, der zu dem Laptop ging, das auf einem Sideboard stand.

    „Vor etwa einer Stunde rief mich Claus Bergmeister, der Chefredakteur von Radio Bremen, an und spielte mir die Aufnahme vor, die wir gleich hören."

    Der Senator nickte zu dem Mann am Computer. Der startete die Audiodatei. Es war die Stimme eines Mitarbeiters vom Sender sowie die des Anrufers. Dessen Stimme klang technisch verzerrt. Er hatte offenbar Angst davor, identifiziert zu werden.

    „Radio Bremen, Dieter Hensell."

    „Guten Abend, spreche ich mit einem Redakteur, der über die Explosion am Kindergarten berichtet?"

    „Im Prinzip schon. Worum geht es?"

    „Ich habe eine wichtige Mitteilung. Hören Sie genau zu. Ich möchte, dass Sie das heute Abend in den Tagesthemen senden."

    „Schau’n mer mal." Man konnte dem Tonfall des Redakteurs anhören, dass er den Anrufer nicht sonderlich voll nahm.

    „Sie sollten mich ernst nehmen, guter Mann", die Stimme bekam Nachdruck.

    „Also, legen Sie los. Ich lasse immer ein Bandgerät mitlaufen – das ist Ihnen recht, oder?"

    „Ich bitte sogar darum. Ich weiß nicht, ob man am Explosionsort schon etwas gefunden hat, das auf eine Bombe schließen lässt. Ich habe heute den ganzen

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