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tornissinrot: und das Blau ihres Blutes
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eBook554 Seiten7 Stunden

tornissinrot: und das Blau ihres Blutes

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Über dieses E-Book

Unverhofft findet Gerhard Sinrot, Manager bei einer Frankfurter Bank, den Beweis für die Theorie, dass sich bei einer Entscheidung die Realität bei x Entscheidungsmöglichkeiten in x alternative Realitäten gabelt: Er begegnet Tornis, seinem Doppel, der durch einen Kurzschluss zwischen frisch gegabelten Realitäten in Sinrots Realität gerutscht ist. Zum Kurzschluss kam es nach der Entscheidung über einen Kredit, die fatale Folgen haben wird. Geschockt von dem Ereignis – sei sein Zwilling wiedererstanden, oder leide er an Schizophrenie?! –, erholen sich die beiden schnell und wollen das Problem gemeinsam lösen.
Während Sinrot weiter der Banker bleibt, der er war, entwickelt sich Tornis zum Künstler, will Gemälde schaffen, die die Welt bewegen. Mit der Lösung ihres Problems feststeckend, entdecken sie, dass ihre Frau und deren Liebhaber (für diesen war besagter Kredit bestimmt) sie ausbooten wollen. Das Schicksal – die Harmonie verloren, die Sicherheit dahin! – nimmt seinen Lauf, wobei sich zeigt, dass sie nicht allein sind mit ihrem Problem: Auch ihre Frau ist ein Doppel. Und die Doppel doppeln sich! Wird es den Doppeln gelingen, in ihre Realität zurückzukehren? Oder wird am Ende, wie es Tornis einmal formuliert, nur das kurzschlussfreie Nichts bleiben? Das unerregte Dunkel? Oder ein einziger Haufen (tornissinroter) Fleischgrütze?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Sept. 2019
ISBN9783748560548
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    Buchvorschau

    tornissinrot - Klaus M. G. Giehl

    TITEL

    Klaus M. G. Giehl

    tornissinrot

    und das Blau ihres Blutes

    ein Thriller

    „Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben."

    Hermann Hesse

    IMPRESSUM

    Copyright © 2019 Klaus M. G. Giehl

    c/o Schoneburg. Literaturagentur und Autorenberatung

    Torstr. 6, 10119 Berlin, Germany

    E-Mail: klaus.m.g.giehl@gmx.de

    Website: http://www.klausgiehlromane.com/

    DANKSAGUNG

    An erster Stelle bedanken möchte ich mich bei Birgit Haug–Unfried und Horst Berscheid, meinen kritischsten, inspirierendsten und – nicht zu vergessen! – ausdauerndsten Testlesern. Mein Dank gilt auch Mirjam Büttner, Sabine Gärtner, Katja Giehl, Ulrike Kötzle, Dieter Reichardt, Bärbel Sackmann, Claudia Steiner und Cornelia Weis für ihre hilfreichen Kommentare zu früheren Versionen des Manuskriptes. Bei Simone Schreiner möchte ich mich bedanken für die Beratung in rechtlichen Fragen. Und bei Otto Leonhard Koepf möchte ich mich bedanken für die Beratung in kriminalistischen und rechtlichen Fragen.

    PROLOG

    Wer hätte sich noch nie gewünscht, diese, ja, genau diese Entscheidung anders getroffen zu haben. Hätt ich doch Thea nie geheiratet! Hätt ich doch Wegners Vorschlag angenommen! Wär ich doch bloß einen Wein früher nachhaus gefahren! Wimmern, Wimmern, Wimmern! All dies Wimmern! Zum Kotzen eigentlich. Und unangebracht. Denn eine Möglichkeit zu wählen, bedeutet nun einmal, die alternative zu eliminieren. Tatsächlich? Bevor die Frage „Tatsächlich?" näher zu beleuchten sei, stelle man sich vor, die alternative Möglichkeit hätte sich tatsächlich verwirklicht:

    So hätte der andere Fred Thea nie geheiratet, den Rosenkrieg vermieden, aber Lea geehelicht – und sich nach ihrem Kindsbetttod ein Leben lang gegrämt. Und der andere Schuster hätte Wegners Vorschlag doch noch akzeptiert, die Prokura doch noch bekommen, aber würde – seit dem letzten „doch noch – nach wie vor gesiebte Luft atmen. Und der andere Knoll schließlich hätte sich den letzten Wein verkniffen, wäre früher nachhause gefahren, hätte sich den Entzug des Führerscheins, den verlorenen Job, die zerbrochene Ehe, die ihn auslachenden Kinder, all die Nächte unter all den Brücken erspart. So, wie er sich überhaupt alles erspart hätte –, nachdem er sich auf der einen Wein früheren Nachhausefahrt den Schädel eingefahren hätte. Wimmern also ist nicht angebracht. Eher Erstaunen. Exakt. Erstaunen, um auf die Frage „Tatsächlich? zurückzukommen: Erstaunen über die „alternative Realität".

    Die entsteht einer Variante der „Multiverse–Theorie" zufolge bei jeder Entscheidung: In der Ursprungsrealität gehe es weiter mit der Möglichkeit, für die man sich entschieden habe. Im Moment der Entscheidung aber habe sich von dieser ursprünglichen Realität eine alternative abgespalten, welche die bei der Entscheidung verworfene Möglichkeit weiterspiele. Und zwar nicht nur irgendwie weiterspiele, sondern richtig weiterspiele, als alternative Realität, die sich tatsächlich abgespalten habe von der ursprünglichen. Demnach sei diese alternative Realität eine eigene mit nicht nur der alternativen Version des Menschen, der – „entscheidend" – die Ursprungsrealität gespalten habe, sondern auch mit dessen alternativem Fernseher, dessen alternativer Familie, dessen alternativem Land – und einer alternativen Erde, einem alternativen Sonnensystem, einem alternativen Universum. Doch nicht genug: Da es Abermilliarden Entscheidungen gegeben habe, gebe es auch Abermilliarden alternative Realitäten, Universen also, die parallel existierten. Ohne miteinander zu tun zu haben. Ohne voneinander zu wissen. Ohne voneinander zu ahnen. – Doch mehr dazu gleich.

    Oder genauer: Mehr gleich zu dem, was geschehen kann, wenn etwas schief geht bei der Spaltung der Realität. Weil man sich ein Virus eingefangen hat, zum Beispiel. Das sich in unsere Erbmasse eingebaut hat, still und heimlich. Das deswegen das Gen stört, das Realitäten „sauber spaltet. Und sie sich „durchmischen, die Realitäten. Sich unberechenbar durchmischen, wie Löwen und Hyänen, die nachts ein Gnu umkreisen. Sich schmutzig durchmischen, wie Dreck und Blut der Bestien Schlieren durch die Felle zieht. Sich tödlich durchmischen, wie der sich kühlende Gestank von Blut, Urin und Kot. Und es sich ausgewimmert hat, am Ende. Endlich ausgewimmert hat.

    ERSTES KAPITEL

    1  FLACKERN

    Hamburg St. Pauli, März 1980

    Es roch kühl und feucht und nicht mehr so stark nach Rauch und Suff, denn das Ende der Nacht nahte. Da es neumondete und die Laternen der Straße ausgefallen waren, hätte es stockfinster sein müssen. Aber die dichte Wolkendecke schob das Licht der Stadt diffus zurück und das Leuchtschild des „Safthauses", eines Bordells am Ende der Straße, schimmerte dünnes Pink über das nasse Kopfsteinpflaster. Häuser waren nur zu ahnen, und die Straße rahmten Bürgersteige schwarz wie tiefe Gräben. Bloß nahe einer Telefonzelle wurde es bisweilen konkret, wenn ihr defektes Licht flackerte. Man sah dann eine Tür, ein Fenster, und jetzt einen Mann. Wie ein Misthaufen kauerte er auf einem Treppensims.

    Das Licht flackerte nochmals und man sah das Sims in eine Tordurchfahrt ragen. Die Arme hatte der Mann um die Knie geschlungen. Er trug eine Skimütze, war massig. Eine Weile verging, bis das Licht wieder flackerte. Vor dem Mann lag Unrat, der sich aus einer umgefallenen Mülltonne ergossen hatte. Und dunkel war es.

    Plötzlich klackten Schritte. Sie näherten sich vom „Safthaus", in dessen Richtung sich rechts etwas auf dem Trottoir, das an der Telefonzelle und der Tordurchfahrt vorbeiführen würde, zu bewegen schien. Wie ein Schattenriss zitterte es zwischen dem Pinkglitzern des Kopfsteinpflasters und den Häuserkonturen. Der Schattenriss wurde bestimmter, zeichnete eine schlanke Person.

    Das Licht flackerte und man sah den massigen Mann in der Tordurchfahrt stehen und sich zu dem Unrat bücken. Seine Hand griff nach etwas. In der Tat war der Mann massig, nahezu korpulent war er und mindestens zwei Meter zwanzig groß!

    Die Tordurchfahrt lag wieder im Dunkeln. Die Schritte klangen jetzt hart. Präzise schlugen sie auf das Trottoir, wie das Ticken eines Metronoms. Der Schattenriss war nun definiert, zitterte nicht mehr, sondern schwang mit den dynamischen Schritten der schlanken Person, bei der es sich – das erkannte man genau, am Habitus, an den breiten Schultern – um einen Mann handelte, eins neunzig groß. Sein kurzgeschnittenes Haar glitzerte wie schwarzer Diamant.

    Das Licht in der Telefonzelle flackerte, zwei, drei Mal. Es blendete den schlanken Mann aus, aber man sah, wie der massige Riese sich rücklings gegen die Wand der Tordurchfahrt presste. Er stand an der Ecke zum Trottoir und hielt einen Stab vor der Brust, einen Meter lang, metallisch, ein Kanteisen vermutlich. Den Kopf hatte er überstreckt, die Lippen zusammengepresst. Er wartete.

    Das Flackern hatte aufgehört. Die Schritte klangen sehr nah, schlugen scharf auf den Boden. Plötzlich hörte man ein Zischen wie von einem vorbeischießenden Vogel, und jetzt, fast mit dem Zischen begonnen habend, flackerte das Licht mehrmals. In Fragmenten sah man den Riesen das Kanteisen auf den Kopf des ihn schon passiert habenden Mannes schwingen. Kein Bild, nur ein Geräusch, als schabte Metall auf Hartem, auf Knochen. Das nächste Fragment zeigte den schlanken Mann schräg im Raum, als fiele er, als wiche er aus, wobei Arm und Kanteisen des Riesens an seiner Schulter vorbeizugleiten schienen. Kein Bild, nur feistes Schnauben, Schuheklacken wie von einer Steppeinlage und ein Geräusch, als versenkte man einen       Vorschlaghammer in einem Mehlsack. Und schließlich sah man im letzten Fragment den Riesen auf dem Weg zum Boden, wellig und einen Schuh des schlanken Mannes im Gesicht, und diesen, die Arme abgespreizt und den Oberkörper nach hinten geneigt, als nähme er gerade aus der Luft eine Flanke an. – „Tor! Tooor! Das ist doch nicht zu fassen! Ribéry wie aus dem Nichts über links, steil von Müller angespielt, stoppt, schaut, und versenkt das Ding einfach trocken oben rechts ins kurze Eck! Endlich das lang ersehnte ..."

    Das Flackern hatte aufgehört. Schläge, Stöhnen, Schnaufen. Ein Augenblick der Ruhe. Und ein schleifendes Geräusch, als ob ein schwerer Sack über rauen Boden gezogen würde. Wieder Ruhe. Und nach einem Moment ein plumpsendes Geräusch, als hätte man ein totes Schwein auf das Trottoir geschmissen.

    Das Licht flackerte und man sah den Riesen mit den Schultern gegen die Wand der Tordurchfahrt gestaucht. Seine Brust war wulstig angewinkelt gegen den Bauch, der sich auf den fleischigen Lenden über den Boden geschoben hatte. Arme und Beine lagen schlaff wie angestochene Weinschläuche auf dem Pflaster. Der schlanke Mann, in der Hocke über den Riesen gebeugt, hatte das Kanteisen in dessen Magengrube und seine Stirn gegen dessen Stirn gedrückt. Das Gesicht des schlanken Mannes glänzte rot. Das Rot lief auf das Gesicht des Riesen herab.

    Wieder war es dunkel. Schnaufen, Stöhnen, in der Klanglage variierendes Wimmern. Das Wimmern hörte sich ungut an, vermittelte die Abwesenheit jeder Hoffnung, gar verzweifeltes Wissen. Wieder ein Schlag, gefolgt von Stille.

    „Du hast dir den Falschen ausgesucht, Fettsack!, flüsterte es gepresst. Wimmern. Noch unguter, wenn man das so sagen kann, aber man kann das so sagen, denn eine Steigerung gibt es bei diesen Eigenschaften immer. Kristallen hörte man ein glitschiges Geräusch, als zöge man zwei blutnasse Sirloin–Steaks auseinander, und erneut flackerte das Licht und beide Männer waren zu sehen. Der Riese lag in die Ecke zwischen Wand und Boden gequetscht, der schlanke Mann beugte sich nach wie vor oder wieder über ihn und hatte das Kanteisen mit der Rechten in dessen Magengrube gestemmt. Die linke, nassrote Hand hielt sich der Mann an die Schläfe. Das glitschige Geräusch hatte vermutlich von dort gestammt. Und dunkel war es. „Du hast mir mein Gesicht ruiniert, du Rotz!, flüsterte es. Wimmern, dann Ruhe. Schließlich ondulierte sich wieder Wimmern in die Ruhe. „Du hast Glück, flüsterte es, „Du hast deinen Fettarsch voll Glück. Ein Schlag, Knacken und knisterndes Knirschen, als zerquetschte man eine Handvoll Erdnüsse, oder wie von zerbröselnden Zähnen, und nochmals Wimmern, feucht, blubbernd. „Glück, dass wir’s hier nicht lauschig haben, flüsterte es. Ein Schlag, Prusten, Stöhnen, Wimmern. „Glück, dass wir hier nicht wirklich entre nous sind, flüsterte es. Ein Schlag, Gurgeln, Wimmern. „Glück, dass ich dich hier nicht länger herumverenden lassen kann!", flüsterte es.

    Lauteres Wimmern. Und Flackern, diesmal heller, fast grell, sodass man glasklar sah – die Essenz der Szene war perfekt getroffen! –, wie der schlanke Mann mit aller Wucht und beiden Händen das Kanteisen nach oben in die Magengrube des Riesen presste, hebelte, rüttelte. Die Augen des Riesen waren aufgerissen, der Mund klaffte modrig wie ein zerfetztes Schlammloch. Das Gesicht des schlanken Mannes glänzte rot und verzerrt. Dunkelheit. Und ein schmatzendes Geräusch, und aushauchendes Ächzen. Das schmatzende Geräusch hatte von dem Kanteisen hergerührt, das sich, nachdem seine aufgestaute Kraft sich in der Perforation von Hemd und Haut entladen hatte, durch das subkutane Fettgewebe des Riesen gebissen hatte, und durch die Bauchmuskeln, das Zwerchfell, den Herzbeutel, den rechten Herzventrikel, die Lungenstammarterie und schließlich den Aortenbogen. Das aushauchende Ächzen hatte von dem Riesen hergerührt, als er mit dem letzten Biss sein Leben ausgehaucht hatte.

    Nun folgte Stille und dieser Knirschen, als stünde jemand auf. Das harte Klacken von Ledersohlen auf Stein. Aus dem Dunkel der Einfahrt schob sich der Schatten des schlanken Mannes auf die Telefonzelle zu. Er riss die Tür auf, schritt hinein. Man hörte das federnde Klicken, das die Hörergabel beim Abheben des Hörers verursacht hatte. Das metallische Klirren von Münzen, das trockene Klicken der Wahlknöpfe, und schließlich genervtes Schnaufen. Der Mann schien zu warten, dass sein Anruf angenommen würde. Das Licht flackerte und man sah die Stirn des Mannes (ab den Brauen war das Gesicht von einem Plakat, das auf der Telefonzelle klebte, verdeckt). Über die linke Stirn verlief eine klaffende Wunde, in deren Tiefe man Knochen erkannte. Nach drei Sekunden Dunkel sagte der Mann mit ebener Stimme:

    „Hallo Ortwin. Tut mir leid, dich zu wecken, aber ich brauch deine Hilfe. Nach einer Pause hob er nochmals an: „Hab Scheiße gebaut, nichts Schlimmes, aber mit meiner besseren Hälfte könnt’s Probleme geben. Erklär ich dir später. – Ist Paul da? Pause. Dann sagte der Mann: „Gut. Also, hör mir jetzt bitte genau zu. ..." Die Zellenbeleuchtung flackerte. Das Rot der Wunde glänzte kalt.

    2  BLITZ

    Frankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 10:27 Uhr, RTO–Bank Tower

    Die linke Augenhöhle war gerahmt vom Halbmond einer Narbe, der sich von der Stirn über die Schläfe bis unter das Jochbein zog. „Mein Schmiss!", wie Gerhard Sinrot auf Nachfrage erläutert haben würde. Nun indes hatte er nichts zu erläutern. Er schwieg. Herr Pechthold starrte ihn an.

    Das Fenster spiegelte sich scharf in Sinrots graublauen Iriden. Die filigranen Nasenflügel hoben und senkten sich sanft mit der Atmung. Die hochmütig geschwungenen Lippen ruhten aufeinander. Mit kaum sichtbarem Beben hob die obere sich rechts verächtlich an und er fragte Herrn Pechthold leise, aber streng:

    „Bitte?"

    Herr Pechthold duckte sich, rückte seine Brille zurecht, wirkte nervös, wie immer, wenn Sinrot im Raum war. Es war die Furcht des Schafs, um das der Wolf strich. Zögerlich sah Herr Pechthold wieder auf zu Sinrot.

    Dieser stand schlank und erhaben wie ein Denkmal seiner selbst vor dem Schreibtisch. Das feinkörnige Grau seines Anzugs schimmerte wie samtgebürsteter Granit. Die Arme verschränkt, hatte er den kantigen Schädel nach hinten geneigt. Sein kurzes Haar glitzerte wie schwarzer Edelstein. Seine Miene verströmte Frost. Starr. Lichtlos. Sinrots Nasenspitze senkte sich, als erschnupperte er das „Befinden" seines Gegenübers. Er fixierte Herrn Pechtholds Glatze, die glänzte, und auf ihr eine Schweißperle. Herr Pechthold sammelte sich, hüstelte.

    „Na ja, antwortete er mit einer Stimme, die fast in sich zusammenbrach, „ich meine, wir sollten da ein wenig nachhaken. Mir erscheint das ein bisschen wackelig, das Ganze.

    Sinrot sah Herrn Pechthold in die Augen. Herrn Pechtholds Lider zitterten. Sinrots lagen schlaff auf den Augäpfeln. Er dachte:

    Was wagte der sich überhaupt, zu widersprechen, dieser Wicht! Doch recht hatte er: Diesen Kredit würde man besser nicht geben! Richtig erkannt. Das war schon eine Leistung für ein Wesen mit einer ranzigen Nuss auf dem Hals! Dieser dumme Nusskopf. Aber war der Einwand relevant? Diesen könnte er, Sinrot, bei Bedarf schließlich spielend hinwegfegen! Nichtsdestoweniger: Warum die zwar geringe, doch spürbare Mühe eines Disputs? Was hätte er denn davon, wenn Schmauchs den Kredit bekämen? Gut, Emma hatte ihn gebeten, obwohl auch sie nichts davon hätte. Oder? Ach, egal!

    Sinrots Oberlippe hob sich leicht und er erwiderte väterlich:

    „Machen Sie sich keine Sorge, mein guter Pechthold. Wenn ich Ihnen sage, wir können diesen Kredit geben, dann können wir ihn auch geben. Nicht wahr, Herr Pechthold?" Herr Pechthold blinzelte ergeben hinter seiner Brille, die jetzt das Licht der Neonröhren verblitzte. Sinrot zuckte mit der rechten Braue in Richtung des Füllers, den Herr Pechthold genau parallel zum rechten Rand des Kreditvertrags platziert hatte. Herr Pechthold nahm den Füller in die Hand. Sinrot lächelte mitleidig. „Haben Sie sonst noch eine Frage, Herr Pechthold?"

    „Im Augenblick nicht, Herr Sinrot."

    „Nun, melden Sie sich einfach, wenn etwas ist."

    „Das werde ich. Und vielen Dank, Herr Sinrot."

    „Aber das mache ich doch gerne", entgegnete Sinrot kühl, und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck.

    Würdig wie der Prophet, der seine Botschaft nun verkündet hatte, wandte sich Sinrot ab und schritt gemessen zur Tür. Seine Hand griff die Klinke und drückte sie herunter. Er zögerte, überlegte. Zweifelte? Nach einem Moment nickte er unmerklich, öffnete die Tür, und verließ den Raum. Langsam zog er die Tür hinter sich zu. Er hörte Herrn Pechtholds Füller über das Papier kratzen, grinste – und ließ sie ins Schloss schnappen.

    Plötzlich schlug eine weiße Lichtwand von vorn wie ein Blitz durch Sinrot hindurch. Sein Körper schien in eine Explosion moskitogroßer schwarzer Splitter zu desintegrieren, doch re–integrierte sofort und fiel vorneüber. Den Sturz abzufangen, schnellten die muskulösen Arme nach vorn, und die breiten Schultern und angewinkelten Armgelenke federten die Wucht des Einschlags ab, sodass dieser nicht zu hören war.

    Sinrots Körper entspannte. Nach wenigen Sekunden war das Flimmern in seinen Augen erloschen. Benommen starrte er auf seine feingliedrigen Hände, die ihn abstützten, auf den dunkelgrauen Teppichboden, die hellgraue Fußleiste. Das Benommene war verflogen, die Gedanken wieder klar. Er wunderte sich:

    Ungewöhnlich, dieses Phänomen. Was war das gewesen, dieses Licht, dieses Glühen, dieses Flimmern? Wie damals, als er sich dieses Virus von Emma eingefangen hatte! Sinrot schüttelte den Kopf: Quatsch! Damals war nicht heute und heute war er nicht krank. Außerdem flimmerte und glühte nichts mehr. Kein Grund zur Sorge also.

    Sinrot konzentrierte sich, stand auf, und strebte zügig den Toiletten zu, die sich links gegenüber dem Büro von Herrn Pechthold befanden. Sinrot war irritiert:

    Zum Glück hatte niemand ihn stürzen sehen! Wie afunktionell! Und Seltsam: Die Cholesterinwerte beim letzten Checkup hatten doch wie üblich brilliert, die Blutdruckwerte ebenso.

    Mittlerweile stand Sinrot vor dem Waschbecken des Toilettenraums und schaute in den Spiegel. Matt drehte er den Wasserhahn auf, ließ sich mit den Ellenbogen auf den Rand des Waschbeckens sacken und kaltes Wasser über die Handrücken laufen. Sein Kopf legte sich in den Nacken. Sinrot betrachtete seine winzigen Pupillen, das feste Graublau seiner Iriden.

    Es strahlte nicht so klar wie sonst! – Ach. Das war der Spiegel mit seiner Brauntönung. Und dieser kitschige Goldrahmen reflektierte auch. Geschmacklos!

    Sinrot bevorzugte die sachliche Form und kühle Farbkomposition. Schnörkel lagen ihm nicht. Draußen war das Schnappen eines Schlosses zu hören. Sinrots Kopfhaut spannte sich:

    Auf dem Flur hatte jemand eine Tür geschlossen! War das Pechthold? Sinrot drehte den Hahn zu und richtete sich auf. Am besten wartete er noch einen Augenblick.

    3  RE–PLAY OHNE BLITZ

    Frankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 10:29 Uhr, RTO–Bank Tower

    Herr Pechthold nahm den Füller in die Hand. Sinrot lächelte mitleidig.

    „Haben Sie sonst noch eine Frage, Herr Pechthold?"

    „Im Augenblick nicht, Herr Sinrot."

    „Nun, melden Sie sich einfach, wenn etwas ist."

    „Das werde ich. Und vielen Dank, Herr Sinrot."

    „Aber das mache ich doch gerne", entgegnete Sinrot kühl, und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck.

    Würdig wie der Prophet, der seine Botschaft nun verkündet hatte, wandte sich Sinrot ab und schritt gemessen zur Tür. Seine Hand griff die Klinke und drückte sie bedachtsam herunter. Er zögerte, zweifelte, überlegte:

    Aber Nusskopf hatte recht. Und Emma? Sollte er dabei bleiben? Ach, Stefan und Elisabeth werden’s überleben. (Stefan und Elisabeth Schmauch waren ein mit Sinrot und seiner Frau Emma befreundetes Geschwisterpaar, das besagten Kredit benötigt hätte, um in Porto Cristo auf Mallorca eine Filiale ihres Fahrradverleihs zu eröffnen, ein Plan, der in dieser Realität gleich ins Wasser fallen würde.)

    Sinrots Zweifeln hatte sich erledigt. Er hatte sich entschieden. In diesem Augenblick. In dieser Alternative der Realität. In dieser Alternative allerdings gegen den Kredit. Anders also, als es in der anderen, der zuerst dargestellten Realität geschah. Anders also, als es in jener Realität geschah, die sich in genau dem Moment der Entscheidung abspaltete von dieser jetzt dargestellten Realität. Was Sinrot derweil im Moment nach der Entscheidung in „seiner" Realität nicht bemerkte, da er den Blick von der Tür abwandte und auf Herrn Pechthold richtete, war, wie seine Hand grell leuchtete und in eine beginnende Explosion moskitogroßer schwarzer Splitter desintegrierte, doch sogleich re–integrierte in genau die Hand, welche die Klinke zuvor gehalten hatte und nun noch immer hielt. Auch hatte Herr Pechthold nichts bemerkt, da er – über sein Pult gekrümmt – den Füller fixiert hatte, der just hinabgesunken war, um fügsam über den Kreditvertrag zu kratzen. Sinrot ließ also die Türklinke nichtsahnend los, ging einen Schritt auf Herrn Pechthold zu, hob sein Kinn und seine rechte Braue, und sagte:

    „Ach, Pechthold! Der Füller rammte in den Kreditvertrag und Herr Pechthold fuhr in seinem Sessel hoch. „Sie haben recht, offenbarte Sinrot; er lächelte mild und erläuterte: „Da ist wirklich zu wenig Substanz. Schließen Sie diese Schmauch–Sache besser ab."

    „Bitte?", entfuhr es Herrn Pechthold, und er starrte Sinrot durch seine wie blinde Spiegel blitzenden Brillengläser an.

    „Ist gecancelt, der Kredit, bestätigte Sinrot mit „blitzenden Pupillen. Herrn Pechtholds Rechte klammerte den Füller, der linke Handballen presste sich auf den Tintenfleck. Er schien verwirrt, als könnte er nicht glauben, was er da von Sinrot gehört hatte. Dieser half ihm mit gütiger Stimme: „Die Sache lohnt noch nicht mal weitere Recherchen."

    „Wie Sie wünschen, Herr Sinrot", senkte Herr Pechthold seinen Nacken.

    Sinrot warf seinem Mitarbeiter ein aufmunterndes Lächeln zu, wandte sich zur Tür, und verließ den Raum. Auf dem Flur bog er ab nach rechts in Richtung der Aufzüge, um sich wieder in sein Büro zu begeben, doch blieb er nach zwei Schritten stehen und stutzte:

    Da rauschte etwas! Sinrot sah irritiert nach unten, lauschte, betrachtete die hellgraue Fußleiste, den dunkelgrauen Teppichboden, seine eleganten schwarzen Schuhe. Er fokussierte das Rauschen. Was rauschte da? Ach!, realisierte er, Jemand hatte vergessen, den Wasserhahn in den Toiletten zuzudrehen! Er wandte sich nach links dorthin, blieb aber erneut stehen. Das Rauschen hatte aufgehört! Der jemand war noch da! Beruhigt drehte sich Sinrot um und ging weiter in Richtung der Aufzüge.

    Zur gleichen Zeit in eben diesem Toilettenraum

    Sinrot betrachtete sich konzentriert im Spiegel. Er dachte:

    Täuschte ihn dieses ekelhafte Braun des Spiegels wieder, oder war tatsächlich Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt? Er näherte sich seiner Reflexion an. Gut, er sah nochmals akzeptabel aus.

    Konzentriert rückte Sinrot seine Krawatte zurecht und zog den Kragen seines Sakkos symmetrisch. Ein Durchatmen und er machte sich auf zu seinem Büro. Es lag im siebzehnten Stock.

    Sinrot hatte den Aufzug verlassen. Wieder festen Schrittes, steuerte er seine Büroräume an. Sie befanden sich in der Chefetage, ein Palast aus Glas und Stahl und Sichtbeton. Und da lag es nun, das Foyer du Palais, wie eine lichte Ebene zu seinem Olymp, dem Olymp der Zahlen und Bilanzen. Sinrot lächelte. Unmerklich neigte sich sein Kopf nach hinten und seine Nasenflügel flachten sich ab, als nähme er eine Witterung auf.

    Frisch aufgebrühter Kaffee!, dachte er, und schloss: Die Messerschmidt! Die alte Vogelscheuche musste just das Büro verlassen oder betreten haben.

    Frau Messerschmidt war Sinrots Sekretärin. Mit seiner Vermutung hatte Sinrot im Übrigen nicht richtiggelegen. Nicht Frau Messerschmidt war es gewesen, die die Tür geöffnet hatte und so den Kaffeeduft aus ihrem Raum in das Foyer hatte entweichen lassen. Doch hierzu später. Gerhard Sinrot hatte den Bürokomplex erreicht.

    4  „DAS ORAKEL VOM BERGE"

    Dahn, ein Abend im Oktober 1972

    Die Arme verschränkt und wie ein Denkmal seiner selbst stand Egon Sinrot in der Tür zu seiner Bibliothek und musterte seinen Sohn Gerhard, der in ein Buch vertieft in einem Ohrensessel saß. Auf einem Tisch neben dem Sessel stand eine Tasse. Der würzige Duft von Malzkaffee lag im Raum. Herrn Sinrots kantiges Gesicht lohte starr im Abendrot. Seine schwarzen, nach hinten gekämmten Haare glitzerten hart. Seine graublauen Augen glänzten kalt wie Murmeln. Er hob die rechte Braue und sagte leise, aber streng:

    „Gerhard."

    „Was ist, Vater?", schreckte Gerhard auf und stierte ihn an.

    „Sind deine Ohren verstopft?"

    „Nein. Warum?"

    „Deine Mutter hat schon drei Mal gerufen! Das Abendessen ist fertig."

    „Oh, Entschuldigung! Ich hab’s nicht gehört", richtete sich Gerhard angespannt in seinem Sessel auf.

    „Was liest du da überhaupt?, reckte Herr Sinrot seinen Hals. In einer vorsichtig annähernden Bewegung zeigte Gerhard seinem Vater das Buch, „Das Orakel vom Berge von Philip K. Dick. Das Werk handelte von einer alternativen Realität, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Herr Sinrot beäugte es kritisch und wunderte sich: „Wusste gar nicht, dass dich Science–Fiction interessiert. Sonst schmökerst du doch nur in Klassikern herum."

    „Och, das hier ist zur Abwechslung auch ganz interessant."

    „Ich weiß. Aber wäre es nicht sinnvoller, Physik zu büffeln, als sich mit derart Trivialem zu beschäftigen?"

    „Wieso trivial? Ich finde ..."

    Habe ich dich nach deiner Meinung über dieses Buch gefragt?", hob Herr Sinrot sein markantes Kinn.

    „Nein."

    „Also", ließ er es verharren. „Hast du heute überhaupt schon deine Übungsaufgaben in Physik gemacht?"

    „Nein, die wollt ich nach ..."

    „So geht das nicht!, senkte er es wieder, „Gib mir mal das Buch! Gerhard gab seinem Vater das Buch. „Das Buch sperre ich vorerst weg und du wirst diese Woche das doppelte Pensum in Physik machen! Diesmal allerdings wirklich Physik, und nicht wieder irgendwelche Bildchen malen!"

    „Hat Rainer diesen ..."

    „Von wem ich das weiß, spielt keine Rolle!, unterbrach Herr Sinrot seinen Sohn schroff, „Fakt ist, dass du dich nicht auf deine Pflichten konzentrierst.

    „Aber ich ..."

    „Kein ‚aber‘! Und eine Woche Ausgangssperre gibt’s obendrein. Für das ‚aber‘."

    „Aber ..."

    „Möchtest du zwei?", neigte Herr Sinrot seinen Kopf.

    „Nein, Vater", druckste Gerhard.

    „Gut, lächelte Herr Sinrot, „Und jetzt komm. Mutter und Rainer warten schon.

    Den Blick wie eine rostige Kerkerkette über den Boden schleifen lassend trottete Gerhard seinem Vater hinterher.

    Im Esszimmer setzten sie sich kommentarlos an den Tisch, Herr Sinrot seiner Frau, Gerhard seinem Zwillingsbruder Rainer gegenüber. Frau Sinrot, eine unscheinbare Frau mit glatten braunen Haaren und matten grauen Augen, lächelte. Rainer, von Gerhard äußerlich nur durch die Kleidung unterscheidbar, grinste.

    Gerhard nahm ein Brötchen in die Linke und ein Messer in die Rechte. Er fixierte Rainer und zog die Brauen zusammen. Rainer spitzte genüsslich die Lippen. Gerhards rechtes Unterlid zuckte, doch dann entspannten seine Züge. Mit kühlen Augen sah er seinen Bruder an, während seine feingliedrige Hand das Messer hielt, dessen Spitze sich Stück für Stück dem Brötchen zuneigte. Ohne, dass der Beginn gerichteten Bewegens hätte festgemacht werden können, stach Gerhard diese behutsam in die knusprige Masse, verharrte, und schnitt, sein Gegenüber genau im Auge behaltend, das Brötchen exakt in der Mitte entzwei. Bedächtig legte er eine Scheibe Gelbwurst auf die untere Hälfte. Unverhofft die Stille tötend mahnte ihn sein Vater:

    „Da gehört Butter drauf!"

    „Aber ich mag keine Butter zur Wurst!, fuhr Gerhard zischend wie ein Krokodil, dem man auf den Schwanz getreten war, zu seinem Vater herum, doch fasste sich sofort und gurgelte wie das Fröschlein vor dem Storche: „Ich find das ekelig.

    „Widersprich nicht!, sagte Herr Sinrot ungerührt, „Sonst muss ich mich ärgern. Gerhard nahm die Wurst von seinem Brötchen und bestrich es widerwillig mit Butter. Nach einigem Kratzen schickte er sich an, die Wurst wieder darauf zu legen, aber Herr Sinrot schüttelte den Kopf und sagte unduldsam: „Gerhard! Nennst du das ‚ein Brötchen streichen‘? Gerhard schnaufte. Herr Sinrot fuhr, seinen Sohn stechend ansehend, fort: „Da schauen doch noch überall Krümel raus und die Butter ist ganz unregelmäßig verteilt! Herr Sinrot hielt mit erhobener rechter Braue inne, neigte Gerhard die rechte Stirn zu und ergänzte sanft und mit herablassend funkelnden Augen: „Oder soll ich dir mit deinen dreizehn Jahren vormachen, wie man ein Brötchen streicht?"

    „Nein, ich weiß schon", knirschte Gerhard.

    Sorgfältig korrigierte er den Butterbelag seines Brötchens. Wie sehr wünschte er sich in diesem Augenblick, dass es auch für ihn eine alternative Realität gäbe. Nicht so eine wie in diesem Buch! Die war ja furchtbar, mit diesen dummen Naziwichsern! Nein, eine schöne. Eine, in der es egal war, wenn er mal eine Zwei in Physik nachhause brachte. Eine, in der er keine Butter zur Wurst essen musste! Eine, in der Vater keinen Mund hatte! Oder ihm ein Arschloch wuchs als Mund, wenn er eine solche Scheiße von sich gab! Gerhards Hand ballte sich um den Griff des Messers und seine Augen blitzten bös. Und eine, in der Rainers doofe Grinsfratze, ach, der ganze Kopf an der Wand hing! Ausgestopft und mit Hörnern, die er diesem blöden Bock in den Schädel treiben würde! Hineinhämmern würde! In sein stinkendes, fauliges Eitergehirn! Tief hineinhämmern würde!

    Gerhards Hand entspannte, wohlig, als wäre ihm der Kuss eines Feenschattens darüber gefahren. Hauchend. Leckend. Kühl. Feucht. Feucht und kühl leckend. Und während er die Butter auf sein Brötchen strich, glänzten seine Augen reglos wie der stille Spiegel eines eisigen Grottensees. Doch unter diesem Spiegel kreisten Gerhards Gedanken wie Olme um das nie gesehene Licht:

    Vielleicht gab’s ja wirklich eine alternative Realität. Vielleicht sogar viele. Vielleicht war’s ja so, dass sich das Leben an jedem Punkt, an dem man über „was zu tun sei" zweifelte, in zwei Realitäten aufspaltete. In eine, die das Herz gebar, und eine, die der Angst gefiel. Aber für ihn ging’s doch immer weiter, wie’s der Angst gefiel! Gab’s denn bei ihm kein Selbst, das mit dem Herzen entschied? Oder kannte er dieses Selbst nicht? Versteckte es sich bloß, um bei jedem Zweifel hervorzuschnellen und ihm die Realität des Herzens wegzuschnappen? Und ihm blieb nur die der Angst! Womöglich hatte er ja Glück und bekäme irgendwann mal, wenn er wieder zweifelte, die Realität des Herzens ab. Die, die ihm sonst verborgen blieb. Die, die ihm immer einen Schritt voraus war. Die, die ... Oder er würde einfach mal machen, was er sich nicht traute! Endlich machen, was er wo...

    „Wird das mal was?", zerriss Herr Sinrot Gerhards Fantasien.

    „Ja", meinte Gerhard wie aus einem Traum erwachend; er legte das Messer zur Seite, die Gelbwurst auf das Brötchen – die Butter hatte er brav aufgetragen –, biss, kaute und dachte:

    Ja. Irgendwann würde er tun, was er sich nicht traute. Irgendwann. Wenn er genug Kraft gesammelt hätte, stärker wäre, der Moment günstig wäre. Genau so lange würde er warten. Aber dann, wenn die Zeit reif wäre, wenn sie nicht aufpassten, diese Idioten, dann würde er zupacken, ach „zupacken", zubeißen würde er, und sie in Stücke reißen. Genau. In Stücke reißen würde er sie und ... (er schluckte den Bissen hinunter).

    Gerhard Sinrot würde warten, konnte warten, denn Wartenkönnen entsprach seinem Naturell, so wie Beobachten– und Zubeißenkönnen, wobei letzteres eher im übertragenen Sinne zutraf. Ob indes im übertragenen oder eigentlichen Sinne zutreffend, erinnerten Sinrots Warten–, Beobachten–, und Zubeißenkönnen an das Warten–, Beobachten–, und Zubeißenkönnen eines Krokodils, das im Uferschilf auf Beute wartete, beobachtete, und pfeilschnell zubiss, wenn ihm die Gazelle vors Maul lief, dieser – sich um seine Längsachse drehend – die Hinterläufe herausriss, und nachschnappte, um sich über den vor Angst und Schmerz wiehernden Kadaver zu würgen und ihn mit einer spastisch zuckenden Kontraktionswelle hinunterzuschlingen, in diese gepanzerte Kloake.

    Angemerkt sei, dass diese Eigenschaften bei Gerhard Sinrot optimiert waren durch Schlauheit, die sich anpassen konnte, die ihn wieder erstarren ließ, falls er sich einmal zu früh bewegt hatte ...

    ... falls es sich einmal zu früh bewegt hatte, das Krokodil, und das Schimpansenjunge noch einmal mit Schrei und Schreck davongekommen war, von diesen wie ein Fallbeil zuhackenden Kiefern; das warten konnte, während das Affenjunge von seiner Affenmama beruhigt wurde; das starr wie ein Baumstamm liegen blieb. Und wenn das Affenjunge sich beruhigt hatte, der Affenmama mit seinen wieder fröhlichen Augen in die sich sorgenden schaute, sie es entließe aus ihrem Schutz; es wieder herumhüpfte, dem Affenchef in die Nase zwickte, den Affenpapa am Bein zog, vor ihren Klapsen und Kläpschen zurückschnellte, schon den nächsten Streich im Kopf dem Flussufer nahe kam, würde der Baumstamm immer noch da liegen, starr und leblos – mit diesen merkwürdigen, wie Murmeln schimmernden Knubbeln da vorne. Diesen Knubbeln, die zu beobachten schienen. Die beobachteten. Aber ruhig würde er daliegen, der Baumstamm, auch, wenn das Affenjunge Streiche heckend vor seiner Nase vorbei sprang, wieder und wieder vorbei sprang, weil es noch nicht nahe genug vorbei sprang, es noch nicht sicher wäre, zuzuschlagen, es wieder entkommen könnte, das Affenjunge, das sich nun neugierig an den Baumstamm heranulkte; das sich jetzt anschauen wollte, was denn da drin steckte, in diesem Paar Astlöcher da vorne; das sich in einem Tanz aus Instinktangst und Spieltrieb herankokettierte, an diesen Baumstamm, den Finger vorsichtig hineinsteckte, in dieses Astlo...

    Und genau dann würde er sich bewegen, der Baumstamm. Zubeißen würde er. Blitzschnell und mit einer nach oben kreisenden Bewegung. Und wenn er sich über den zerbrechlichen Körper des Affenjungen stülpte, wenn er sich schüttelte, das Kleine in der Mitte auseinanderriss, wenn er nachschnappte, um auch Becken und Beine zu erhaschen, wenn er befriedigt grunzend die Füße des Kleinen verschlang, ... dann hatte es sich ausgespielt. Ja, ausgespielt, ausgezwickt, aus–am–Bein–gezogen und ausgeulkt hatte es sich dann. Und die Affen schrien panisch und sprangen auf und ab und kreuz und quer, während sich das Krokodil fett und satt in den Fluss zurückschlängelte. Feist zurückwatschelte. Zum Verdauen. Und zum Scheißen, später.

    Dies also waren Sinrots hervorstechende Eigenschaften: Warten–, Beobachten– und Zubeißenkönnen. Aber noch war Gerhard Sinrot klein, Klein Sinrot eben. Noch war er zu klein, wirklich zuzubeißen. Noch musste er aufpassen, nicht selbst gebissen zu werden. Doch Klein Sinrot konnte warten. Um irgendwann selbst zubeißen zu können. Um irgendwann selbst diesem anderen Ich zu begegnen. Diesem Ich, das er zu finden gehofft hatte. In gewisser Weise sollte sich diese Hoffnung gleich erfüllen, wenn auch in anderen Nuancen, als Klein Sinrot sich dies vorgestellt hatte, beim Brötchenstreichen.

    5  „WAS MACHEN SIE IN MEINEM BÜRO?"

    Frankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 10:40 Uhr, Foyer zu Sinrots Büro

    Frisch aufgebrühter Kaffee!, dachte er, und schloss: Die Messerschmidt! Die alte Vogelscheuche musste just das Büro verlassen oder betreten haben. (Dass Sinrot mit dieser Vermutung nicht richtiggelegen hatte, wurde bereits erwähnt.)

    Er hatte den Bürokomplex erreicht. Unter schneidendem Klacken des Schlosses stieß er die Tür zu dem Vorraum auf, in dem Frau Messerschmidt saß, und stob kraftvoll auf „sein Reich zu. Während sein Blick sie grüßend gestreift hatte, war ihrer erschüttert von der Schreibmaschine hochgefahren. Frau Messerschmidt war entsetzt, denn gerade hatte sie Sinrots „alternative Version in sein Büro gehen sehen. Sie stammelte:

    „Sie hier?"

    Die Hand schon an der Klinke der Tür zu seinem Büro, verharrte Sinrot. Langsam und mit angespannten Lidern wandte er Frau Messerschmidt seinen Kopf zu. Ihr steif gesprühter, silbergrauer Pagenschnitt schien schwer wie eine gusseiserne Haube zu wiegen, ihr runzeliges Gesicht zusammenzudrücken.

    „Natürlich bin ich hier, sagte Sinrot nach drei Sekunden bohrender Blicke, „Wo sollte ich denn sonst sein?

    Frau Messerschmidt hielt den Atem an. Von den Wangen flutete Röte über ihre zuckende Nase. Hohn umspülte Sinrots Mund. Welch ausdrucksvolle Mimik!, dachte er.

    „Ja, aber, aber, stotterte Frau Messerschmidt, „Aber Sie sind doch gerade erst da rein gegangen. Wie können Sie denn dann ...

    „Frau Messerschmidt, unterbrach er sie, „wann hatten Sie Ihren letzten Urlaub?

    „Im Juni. Wieso?"

    „Nun, erläuterte er schonungsvoll, „Ich denke, Ihnen würde ein Urlaub guttun. Sie wirken überarbeitet.

    „Ja, aber. Gerade eben sind Sie doch ..."

    „Na, na, na, Frau Messerschmidt!, pendelte Sinrot mahnend seinen Zeigefinger, „Vielleicht sollten Sie sich einen Termin bei unserem Doktor Teufel geben lassen. Was sagen Sie denn da?

    „Dass, dass, dass ich mir das nicht erklären kann, wieso Sie da schon wieder reingehen. Sie sind doch gar nicht raus!"

    Sinrot hob die rechte Braue, neigte Frau Messerschmidt die Stirn zu, als suchte er einem beschränkten Kind die Summe von eins und eins zu erläutern, und erläuterte also:

    „Selbstverständlich bin ich hier raus! Wissen Sie das nicht mehr?"

    „Ja, aber vor einer halben Stunde! Und gerade eben noch mal rein und ..."

    „Frau Messerschmidt!, sagte Sinrot streng und fixierte sie aus schmalen Augen, „Sie werden sich noch heute einen Termin bei Teufel nehmen. Ich kann mir keine Mitarbeiter erlauben, die ihre Sinne nicht beisammen haben! Von ihrer Nase schob sich Blässe über ihre Wangen. „Haben Sie das verstanden, Frau Messerschmidt?", schob er mild hinterher.

    „Das hab ich."

    „Schön, sagte Sinrot dürr, „Sie entschuldigen mich?

    „Aber natürlich, Herr Sinrot!"

    Sinrot wandte seinen sich leerenden Blick ab, öffnete die Tür zu seinem Büro, und betrat den Raum.

    Bevor wir Sinrot in diesen Raum begleiten, sei auf eine weitere Eigenheit seines Charakters hingewiesen, und zwar nicht, um sich des Ungemachs zügig zu entledigen, sondern weil diese zu kennen verstehen lässt, wie sein spezieller „Gefühlsapparat sein Leben behinderte, und wie die nun folgenden Ereignisse ihm helfen würden, diese Behinderung „alternativ zu „lösen".

    Zunächst zu Sinrots Behinderung: Ihm mangelte es deutlich an Gefühl, ja, in ihm offenbarte sich eine geradezu dämonische Gefühlsleere. Nicht, dass er jede affektive Anlage vermissen ließ. Als zum Beispiel sein Onkel, Dr. Ferdinand Sinrot, verstorben war, hatte es zart in einer Weise in ihm rumort, die man als Gefühl (als Trauer in diesem Fall) hätte beschreiben können (sogar seine Augen hatten sich befeuchtet!). Aber im Grunde war dies kein als Gefühl empfundenes Gefühl, sondern eher ein stummes Stammeln, jene Gefühlsmade, die ihm da in der Gurgel kroch, herauszuwürgen.

    Sinrots Unvermögen zu tatsächlichem Gefühl macht nachvollziehbar, dass er erst recht nicht vermochte, ein höheres emotionales Bedürfnis wahrzunehmen, welches seine Lebenskonzepte hätte beeinflussen können. Was ist mit „höherem emotionalem Bedürfnis gemeint? Gesetzt den Fall, jemand empfindet Freude, ein Bild zu malen, ja, verspürt bei jedem neuen Bild ein Glücksgefühl, dann wird dieser jemand vermutlich das „höhere Bedürfnis entwickeln, Maler zu werden, Kunst schaffen zu wollen, Kunst schaffen zu müssen! – Nicht so bei Sinrot (bislang). Zwar hatte er in seiner Jugend gerne gemalt (deswegen das Beispiel) und Begabung hatte er auch (hatte es geheißen). Aber in diesem Hang zur Malerei das höhere emotionale Bedürfnis zu entdecken, sich kreativ zu betätigen, war ihm so wenig möglich wie dem Tetraplegischen, die liebende Hand der Gemahlin im Schoß zu fühlen. Sinrot war emotional taub, gelähmt, behindert eben!

    Höhere „emotionale Impulse" hatten bei Sinrot also keine Chance. Keine Chance also für Sinrots künstlerische Neigung, zur Berufung zu erblühen. Keine Chance also für Sinrot zu sehen, dass es mehr geben könnte im Leben als ein Plus in der Bilanz. Keine Chance also für ihn zu verstehen, dass sein Leben auch Erfüllung hätte sein können. Doch eine Chance hatte er! Und die bestand in dem, was gleich geschehen würde, wenn er sein Büro beträte: Er würde sich selbst begegnen. In Fleisch und Blut!

    Inwieweit sollte darin eine Chance bestehen? Ganz einfach: Er und sein anderes Selbst würden feststellen, dass sie nun doppelt in ein und derselben Realität existierten. Und schnell würden sie begreifen, dass sie jetzt nicht einfach doppelt zur Arbeit erscheinen könnten, dass sie jetzt nicht einfach der einen Frau, die sie hatten, ein doppelter Ehemann sein könnten, dass sie jetzt nicht einfach ihr eines, aber nun doppelt vorhandenes Leben doppelt leben könnten, denn für dieses eine Leben gab es nun einmal nur einen Rahmen, nur eine Realität. Und genau aus dieser Einsicht ergäbe sich eine zwingende Konsequenz und mit dieser eine Chance:

    Einer der beiden würde einen anderen Weg gehen müssen als der andere! Während der eine sein bisheriges Leben „weiterleben" würde, würde der andere ein neues finden müssen. Aus dieser Notwendigkeit wiederum würde sich die Chance für jeden Sinrot ergeben,

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