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Abhartach
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eBook352 Seiten4 Stunden

Abhartach

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Über dieses E-Book

Ein Toter hängt ausgeweidet am Kleiderhaken im eigenen Appartement. Die Ehefrau liegt blutleer mit aufgerissenem Bauch zu seinen Füßen.
Noch nie hat Farley bei der Dubliner Polizei "An Garda Síochána" - und dort war er schließlich seit 8 Jahren Inspector - in solch einem grausamen
Doppelmord ermittelt.  Doch kurze Zeit später erhält Farley einen Tipp vom dritten Opfer, das er leider nicht retten kann: Einen seltsamen Namen auf blutigen Küchenfliesen.
Die Buchstaben auf den Fliesen bilden ein einziges Wort: ABHARTACH.

Eine völlig wahnwitzige, surreale Jagd beginnt, die Farley an den Rande des Wahnsinns treibt...​
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. März 2021
ISBN9783753178578
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    Buchvorschau

    Abhartach - Christopher Pilz

    ¹

      – Revelation 21 v 8 (The Holy Bible – New international Version; NIV [Biblica, Inc. 2011])

    Der aufrechte, große Stein war von Wind und Wetter ziemlich angegriffen. An mehreren Stellen waren bereits Stücke herausgeplatzt. Knapp die Höhe eines durchschnittlichen Mannes mochte der mittlere, stehende Fels wohl haben. Die zwei kleineren links und rechts daneben glichen kaum mehr dem, was sie einmal gewesen waren. Viel vom Aussehen von Steinen hatten sie definitiv nicht mehr, eher waren sie zu von Moos bewachsenen, überdimensionalen  Maulwurfshügeln mutiert. Mitten in den Weiten der irischen Landschaft befand sich diese unscheinbar aussehende Steinformation mit einem Weißdornbusch direkt hinter dem mittleren Stein, an dessen Fuße sich eine Art Grabbegrenzung entlang zog, die jedoch ebenfalls kaum noch als diese zu identifizieren war. Auch trug keiner der Grabsteine eine Inschrift oder wenn es denn eine gegeben hatte, war keine mehr auszumachen. Der Wind blies ungehalten über die flachen, saftigen Grünflächen und peitschte feinen, beißenden Regen gegen das steinerne Grab. Das hinunter rinnende Regenwasser lief in feinen Strömen ins Erdreich unter dem ungewöhnlichen Bildnis. Sich windende, rosafarbene Würmer zuckten daraufhin hervor, wälzten sich im matschigen Braun und verschwanden mit anderen Kriechtieren wie Asseln und Tausendfüßlern wieder im aufgeschwemmten Dreck. In der Ferne erschienen plötzlich zwei dunkle Gestalten in Regenjacken, die sich rasch näherten. Mit großen Rucksäcken bepackt, rutschten sie gerade einen glitschigen, matschigen Hügel hinunter. Eilig und zielstrebig kamen die hochgewachsenen Kapuzenträger, deren Gesichter durch den stärker werdenden herunter prasselnden Regen – der wie ein dichter Vorhang über dem Land hing – nicht zu erkennen waren, näher. Kurz vor dem Grab blieben die Vermummten stehen und ließen ihr Gepäck von den Schultern gleiten. Einer der beiden murmelte einige unverständliche Sätze in einer längst nicht mehr gesprochenen Sprache, die dem Gälischen sehr nahe kam und vielleicht noch dem Irischen am Ähnlichsten war. Er vollführte seltsame Armbewegungen, die weniger einem Tanz, mehr einer huldigenden Darbietung glichen. Der andere stand scheinbar regungslos neben ihm, hatte jedoch ein Blatt Papier in den Händen und bei genauerem Hinsehen, erkannte man, dass sich seine Lippen kaum merklich bewegten und er ebenfalls unverständliche Worte murmelte. Dann, nachdem der eine seine gebetsartige Tätigkeit beendet hatte, verließ ein unmenschlicher Schrei die Kehle des Stehenden, ehe eben dieser ruckartig zu Boden schoss und mit beiden behandschuhten Händen in die Erde vor den verwitterten Steinen eindrang. Gleich darauf ließ sich der Andere ebenfalls auf die Knie fallen und gemeinsam rammten sie ihre Finger in die durchnässte Erde vor dem großen Grabstein und gruben darin wie Besessene...

    I.  Die Auferstehung

    Dublin, Irland

    Die klebrige, dunkelrote Pfütze war riesig. Vom Sauerstoff schon ziemlich bräunlich verfärbt und angetrocknet, pappten lange Blutspritzer an der vorher weißen Wand. An den Füßen, die nur wenige Zentimeter über der enorm großen Blutlache baumelten, klebte das restliche getrocknete Blut, das in einem dünnen Rinnsal aus dem zerfetzten Bauch des leblosen Körpers hervor gespritzt war. Der schlaffe Leib war in Höhe der Schulterblätter an einem massiven Stahlhaken in der Wand aufgehängt. Ein recht ungewöhnlicher Haken für eine Garderobe an dieser Stelle – weshalb er vermutlich auch gegen seine eigentliche Aufgabe auf eine unglaublich grausame Art und Weise seines Zweckes beraubt worden war. Daneben waren einige Kleiderhaken angebracht, die ebenfalls für andere Dinge einen Nutzen gefunden hatten. Sämtliche Organe und Innereien des Mannes mit dem Loch im Bauch waren dort fein säuberlich aufgewickelt worden. Ein Anblick, der dafür sorgte, dass man – wenn man nicht sowieso schon einer war – umgehend Vegetarier wurde und nie mehr totes Fleisch oder Blut irgendeines Lebewesens sehen wollte. Ein paar Meter weiter lag eine nackte Frau auf dem Parkettboden. Ebenfalls tot, allerdings um sie herum, kein einziger Tropfen Blut. Sie lag auf dem Bauch.

    *

    Colin Farley wollte nicht wissen was ihn erwartete, wenn er die Frau umdrehen ließ. Angeekelt wandte er sich ab. Er konnte dieses Horrorszenario keine Sekunde länger ertragen. Mit zittrigen Schritten ging er vor die Tür, schüttelte sich eine Marlboro aus der Schachtel und schob sie sich in den Mundwinkel. Gerade trampelte die ganz in weiß gekleidete Spurensicherung das enge Treppenhaus herauf. Er nickte den Männern in ihren Anzügen kurz zu und steckte sich die Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug und schloss für einen Moment die Augen.

    ›Was konnte einen Menschen nur dazu bringen jemanden so abzuschlachten wie diesen armen Kerl, der da drinnen an der Wand hing? Und was war mit der Frau auf dem Parkett passiert? Wie war sie wohl getötet worden?‹

    Mit geschlossenen Augen dachte er still über die schrecklichen letzten Sekunden der Opfer nach, ehe er die Lider wieder öffnete, den Rauch aus seinen Lungen entließ und Ashley McFinns makelloses Gesicht vor ihm erschien. Die Gerichtsmedizinerin, die generell mit der Spurensicherung zusammen auftauchte, grinste ihn an. Ihre rehbraunen Augen, die strahlend weißen Zähne und das gelockte dunkelbraune Haar ließen Colin für einen Moment den ganzen Albtraum vergessen. Dann bewegten sich ihre roten, vollen Lippen. Colin riss es aus seinen Gedanken.

    »... denn da drin Schönes, Herr Inspector?«, flötete Ashley munter drauf los.

    Mehr hatte Farley nicht mitbekommen, da er von ihrer Erscheinung zu gefesselt war.

    Er räusperte sich kurz, kratzte sich am Hinterkopf und antwortete: »Ich glaube, meine Liebe, das ist selbst für dich nicht mehr schön. Bitte nach dir.«

    Mit einer einladenden Handbewegung trat er einen Schritt zurück und wies ihr den Weg in das Appartment.

    Natürlich drehte man die nackte Frau um, nachdem alle vorhandenen Spuren – und das waren leider ziemlich wenige, eigentlich sogar gar keine – gesichert waren. Erneut drehte es Inspector Farley den Magen um. Zum zweiten Mal an diesem Morgen. Im Gegensatz zum mutmaßlichen Ehemann an der Wand, war die Frau zwar nicht über und über mit Blut bespritzt und völlig zerfetzt, allerdings trotz allem kein besonders schöner Anblick.

    Ihr Oberkörper war aufgerissen worden, geteilt wie mit einem Brustbeinspalter – der zu Herz-Operationen benutzt wurde – natürlich nur nicht so professionell und vorsichtig. Das seltsame daran: Absolut nirgends – abgesehen von den Wänden ringsherum – war Blut zu sehen. Es gab einfach keines. Fast so, als wäre der ganze Leichnam säuberlich gereinigt worden, ehe man die Flucht ergriffen hatte.

    Ashley untersuchte gerade die tote Frau und schüttelte alle paar Sekunden ungläubig den Kopf.

    »Das ist unmöglich«, murmelte sie leise. »Das kann gar nicht sein. Das glaube ich nicht. Was ist hier nur los?«.

    Colin trat hinter sie. »Was ist unmöglich? Was kann nicht sein?«, drängte er.

    Die Gerichtsmedizinerin fuhr herum. Mit großen Kulleraugen glotzte sie Colin an. Ihre sonst so weichen Gesichtszüge: eine versteinerte, ausdruckslose Miene.

    »Das ist ganz und gar unmöglich«, wiederholte sie noch einmal und ihr Blick ging durch ihn hindurch, fokussierte wenn überhaupt irgendetwas weit, weit entfernt hinter ihm. Dann verstummte sie wieder und ihre Gedanken waren woanders.

    Colin kam sich vor wie in einem schlechten Film.

    »Sag mal, willst du mich jetzt hier veräppeln?«, raunzte er Ashley an, die mit ihren dünnen Armen, die sie ungelenk verschränkt vor der Brust hielt dastand und nachdachte.

    Im selben Moment biss er sich auf die Zunge und wünschte er hätte einmal in seinem Leben ruhig reagiert.

    Die lockige Brünette zuckte zusammen, war jetzt aber wieder in der Realität angekommen. Sie presste ihre roten Lippen fest aufeinander, die sich dadurch zu einem dünnen, weißen Strich verwandelten.

    »Glaub es oder glaub es nicht«, schnauzte sie zurück. »In dieser Leiche befindet sich kein einziger Tropfen Blut mehr. Als wäre der Körper irgendwie durchgespült oder ausgespült worden...«, sie fuhr erneut erschrocken zusammen. »... als wäre die Frau buchstäblich ausgesaugt worden.«

    Still und in Gedanken versunken standen Inspector Colin Farley und Gerichtsmedizinerin Ashley McFinn auf der Straße vor dem Mehrfamilienhaus im Stadtteil Drumcondra im Norden Dublins. Colin, in eine weiße Rauchwolke gehüllt und die Marlboro zittrig zu den Lippen führend, wankte von einem auf das andere Bein. Es war ein ungemütlicher, windiger Oktobervormittag.

    Obwohl sie einen warmen Mantel trug, zitterte Ashley neben ihm. Nicht nur aufgrund der in die Kleidung kriechenden Kälte, sondern vor allem wegen der grausamen Tat, die sie gerade versucht hatte zu rekonstruieren. Sie starrte Colin verständnislos an.

    »Du weißt, dass dich der Mist eines Tages noch umbringen wird, oder?«, murrte sie in an.

    Colin nickte nur stumm.

    »Bevor ich wie eine Gans ausgenommen an der Wand hänge, wie dieser Typ da im Haus, ist das für mich okay«, flüsterte er abwesend und mit ruhiger Stimme.

    »Das ist ganz und gar nicht witzig, Farley», brüllte ihn Ashley unvermittelt an und rammte ihm die rechte Faust gegen die Brust.

    Mit diesem Wutausbruch hatte Colin nicht gerechnet. Überrumpelt ließ er die Zigarette fallen und taumelte einen Schritt zurück. »Hey, ganz ruhig. So habe ich das ja nicht gemeint«.

    Er hasste es wenn sie ihn Farley nannte. Schließlich arbeiteten sie schon seit über fünf Jahren gemeinsam und waren auch schon ein Mal zusammen gewesen – vor circa einem Jahr. Nur weil er zu oft ›ein kaltes, gefühlloses Arschloch‹ war, wurde daraus nichts Festes. So hatte es Ashley damals zumindest ausgedrückt. Wenn sie ihn also nur mit seinem Nachnamen anschnauzte, bedeutete das, dass sie das alles wirklich beunruhigte und sie gerade keinen Spaß verstand.

    »Ist dir überhaupt klar, was das hier alles bedeutet?«, fragte sie ihn barsch.

    »Das bedeutet, lieber Herr Inspector«, fuhr sie fort ohne auf seine Antwort zu warten, »dass ein Irrer frei herumläuft, der Leute völlig ausnimmt wie eine Mastgans und es auf irgendeine völlig absurde Weise schafft, menschliche Körper komplett blutleer zu saugen«, folgerte sie.

    Natürlich war Colin völlig bewusst, dass dieser Vorfall genau das oder etwas ähnlich Abartiges bedeutete und gekränkt maulte er zurück: »Reden wir jetzt hier von einem beschissenen Vampir, der hier sein Unwesen treibt oder was?«.

    Ashley antwortete nicht. Beleidigt machte sie auf dem Absatz kehrt, stapfte lauten Schrittes die Stufen ins Haus hinauf und verschwand im dunklen Treppenaufgang.

    »Verfluchte Scheiße«, brüllte Colin, während er hinter Ashley die Treppe hinauf eilte.

    ›Was würde er dafür geben, all seine dummen, vergangenen Handlungen rückgängig machen zu können, um noch einmal eine Chance bei Ashley zu haben.‹ Er schob diesen unangenehmen Gedanken vorerst bei Seite.

    »Was erwartest du jetzt von mir? Ich habe momentan auch noch keine Idee wie jemand so etwas anstellen kann und warum und weshalb und überhaupt...«, jammerte er weiter.

    Sie zeigte ihm die kalte Schulter und eilte weiter – ohne ihn eines Blickes zu würdigen – ins Apartment der Ermordeten hinein. Als Colin schnaufend durch die Tür stolperte, gab Ashley den Anwesenden schon bestimmend und autoritär Anweisungen, was mit den Leichen passieren sollte.

    »Bringt beide zu mir in die Pathologie. Und wehe irgendjemand baut Scheiße. Ich will, dass jeder Tropfen Blut – falls vorhanden – jedes Staubkörnchen, einfach alles, so wie es jetzt an diesen armen Körpern klebt, mit auf meinen Untersuchungstisch landet. Und Gnade euch Gott, wenn einer von euch Fingerabdrücke auf den Leichen hinterlässt oder ich auch nur die kleinste postmortale Druckstelle finde!«

    Kleinlaut huschten die Leute der Spurensicherung herum und organisierten den Abtransport der Toten.

    »Und DU«, Ashley fuhr herum. »DU lässt mich meinen Job machen, versuchst weniger zu rauchen und dafür mehr zu ermitteln. Klar?«, bellte sie Colin ins Gesicht.

    Er sah sie nur verdutzt an und nickte. »Ich..., ich komme dann heute Nachmittag vorbei und erkundige mich nach dem Stand der Dinge, ok?«, gab er noch leise von sich, ehe Ashley ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung stürmte.

    Farley, noch immer geschockt von Ashleys Wutausbruch, stieg in seinen altersschwachen Jaguar XJ40 und ließ den Motor aufheulen. Ohne umzuschauen schoss er mit quietschenden Reifen aus der Parklücke und jagte die Straße entlang Richtung Phoenix Park, Dublin Innenstadt.

    *

    45 Minuten später stapfte er genervt in sein Büro im »An Garda Síochána«-Hauptquartier

    ² und als ob der Tag nicht schon schlimm genug gewesen wäre, saß da natürlich schon jemand in seinem ledernen Schreibtisch-Sessel.

    »Oooh, der Herr Inspector gibt sich die Ehre«, johlte Commissioner Ewan Ryans, als Colin die Tür zum Büro aufriss. »Wie geht’s, wie steht’s?«, witzelte Ryans weiter. »Schon ausgeschlafen der Herr?«

    Colin tobte innerlich, versuchte sich aber zu beherrschen. »Ich bin heute nicht wirklich für Ihre Scherze empfänglich, Commissioner«, begrüßte er seinen Vorgesetzten knapp. »Wir haben zwei Leichen in Drumcondra, davon eine komplett blutleer. Die andere hing mit einem Loch im Bauch an der Wand, die Gedärme schön säuberlich am Kleiderbügel daneben. Noch Fragen?«, fasste er kurz die Geschehnisse des Morgens  zusammen.

    »Allerdings«, begann Colins Chef, völlig ungerührt vom gerade Gehörten, seinen Vortrag. »Können Sie mir sagen, warum so eine Riesensauerei immer in meinem Zuständigkeitsbereich passiert? Wie lange hing denn der besagte Leichnam schon am Haken? Warum gibt es noch keine Verdächtigen und Festnahmen? Verdammt noch Mal, wir haben die Toten schon vor fast vier Stunden entdeckt, wie weit sind Ihre Ermittlungen, Inspector?«

    Colin atmete tief durch. Diese Unterhaltung würde ihm noch den letzten Nerv rauben, aber er blieb weitgehend ruhig. Langsam zog er sich einen der unbequemen Holzstühle – sein eigener  Sessel war ja offensichtlich besetzt – aus der Ecke des Büros heran, drehte ihn so herum, dass die Lehne nach vorn zeigte und er seine Arme darüber legen konnte, setzte sich und begann zu berichten was eben schon so zu berichten war.

    Er begann mit der detaillierten Beschreibung des Tatorts und des Ehepaares und endete mit der seltsamen Entdeckung von Ashley McFinn.

    Sein abschließender Satz klang dann so: »... und wenn Sie mich jetzt noch weitere kostbare Minuten aufhalten, wird es vor morgen Früh überhaupt keine weiteren Erkenntnisse geben, Commissioner. Darf ich also bitten?«, mit einem Wink deutete Colin zur Tür.

    Ohne Kommentar und hochrot im Gesicht erhob sich Ryans langsam aus dem Sessel. Mit der Klinke in der einen Hand, die andere drohend zur Faust geballt vor seinem Körper haltend, drehte er sich noch einmal zu Colin um. Er konnte die Wut in den Augen seines Chefs lodern sehen.

    »Ich will Ergebnisse Farley, ich gebe ihnen drei Tage«.

    Daraufhin knallte Ryans die Bürotür so fest zu, dass die Glasscheibe mit dem Schriftzug »Inspector Colin Farley« in der Halterung klirrte.

    *

    In Drumcondra hatte der Doppelmord schnell die Runde gemacht. Innerhalb weniger Minuten wusste fast jeder auf der Straße, dass Beth und Roy Miller auf grausame Weise getötet worden waren. In der Nachbarschaft und auch noch Kilometer weiter, verschanzten sich die Menschen in den Häusern. Die wenigen Leute die noch auf den Straßen unterwegs waren, unterhielten sich gedämpft und mutmaßten, wer nur zu so einer Grausamkeit im Stande sei. Niemand nahm Notiz von dem kleingewachsenen, humpelnden, einem Obdachlosen gleichenden Mann, mit für seine Körpergröße viel zu breiten Schultern, der sich mit einem schmutzigen, ehemals beigefarbenen Trenchcoat-ähnlichen Kittel durch den Wind kämpfte – in entgegengesetzter Richtung zum Tatort vom Morgen. Der Wind peitschte ihm den einsetzenden Regen erbarmungslos ins Gesicht, das von dunkelbraunen, langen, teils zotteligen Haarsträhnen eingerahmt wurde. Der ungezähmte, drahtige Vollbart – ebenfalls dunkelbraun wie Bitterschokolade, allerdings vereinzelt mit gräulichen Borsten – troff schon vor Nässe und die tiefschwarzen, weit im Schädel sitzenden Augen waren zu engen Schlitzen zusammengekniffen. Eilig humpelte der heruntergekommene Heimatlose auf zwei spielende Kinder zu, die in Gummistiefeln zwischen den Pfützen Ball spielten. Als sie den Heraneilenden bemerkten, grüßten ihn die beiden freundlich und machten den Weg frei. Der Fremde bedankte sich flüsternd, eilte weiter, blieb dann aber abrupt stehen, als der Ball der Kinder, nachdem er sie bereits hinter sich gelassen hatte, plötzlich von hinten zwischen seine Beine hindurch kullerte. Er bückte sich nach dem nassen Rund und hob es auf. In seinen, zur Körpergröße unverhältnismäßig großen Händen, wirkte der Spielball wie ein Hühnerei. Hastig drehte er sich um und hätte beinahe den kleinen Jungen übersehen, der dem Ball hinterher gesprintet war und nun direkt vor ihm, fast auf gleicher Höhe, stand.

    »Vielen Dank«, sagte der Knirps lächelnd und streckte die Hände nach dem Spielgerät aus.

    Der Bärtige überreichte es dem Jungen und grinste breit.

    Zum Glück hatte das Kind in diesem Moment nur Augen für den Ball und blickte dem Fremden nicht ins Gesicht. Denn dann hätte es ohne Zweifel die unnatürlich spitzen Zähne des Mannes gesehen, die weder weiß noch gelblich waren, sondern blutrot.

    *

    Das Ehepaar Miller war seit über 12 Stunden tot – vermutlich schon an die 20 Stunden. Das eröffnete ihm Ashley, als er am frühen Nachmittag mit gesenktem Kopf in die Gerichtsmedizin hineinschlich.

    Colin Farley war am Ende. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte zum Mordfall, war hundemüde. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Ashley so angeschnauzt hatte und hoffte nur noch, dass sie ihm jetzt irgendwie mit den Untersuchungen der Leichen weiterhelfen konnte.

    »Das heißt: der Mörder muss irgendwann zwischen 20 und 23 Uhr zugeschlagen haben. Aber was ist das Motiv?«, überlegte Farley laut.

    Es gab keine Hinweise dafür, dass der Mörder, der das Ehepaar auf dem Gewissen hatte irgendwelche Wertgegenstände, Bargeld oder andere Dinge entwendet hatte.

    »Warum tötet jemand ein Ehepaar auf so grausame Art? Und das auch noch, ohne das geringste Diebesgut,...«, murmelte der Inspector weiter vor sich hin. »... macht er so etwas denn aus Spaß?«

    Bei dem Gedanken lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Ashley fingerte an den Leichen herum und würdigte ihn keines Blickes. Colin versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, dass er ein richtig schlechtes Gewissen hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die hübsche Gerichtsmedizinerin, während er grübelnd zwischen den Leichensäcken auf und ab ging.

    »Hast du sonst irgendwelche Auffälligkeiten an den Toten gefunden?«, wandte sich er nach einer Weile an die stumme Ashley.

    Sie antwortete nicht gleich. Nach wenigen Augenblicken sah sie zu ihm auf. Sie schüttelte den Kopf ohne ein Wort zu sagen.

    »Ashley...«, begann er und verstummte gleich darauf wieder.

    Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Er spürte den Kloß im Hals und hatte das große Verlangen sofort raus auf die Straße zu laufen und sich eine Kippe anzuzünden.

    »Ich wollte mich bei dir entschuldigen«, stammelte er weiter. »Ich war ziemlich...«, er suchte nach dem richtigen Wort »... ungehalten heute Morgen. Mir sitzt der Commissioner im Nacken. Der will Ergebnisse und ich kann ihm keine liefern. Und ehrlich gesagt bezweifle ich auch die in nächster Zeit, wenn überhaupt jemals, zu haben«, schloss er seine dürftige Entschuldigung stotternd ab.

    Ashley wandte sich wieder einer der Leichen zu.

    »Ich weiß Colin. Du bekommst ziemlich viel Druck von diesem Arschloch Ryans«, lenkte Ashley ein. »Du reagierst deshalb eben gereizt. Das ist völlig normal. Nur lass‘ deine Laune nicht immer an mir aus. Das hast du früher schon immer getan«, murmelte sie weiter.

    Noch immer waren Gefühle im Spiel. Schließlich konnte man diese nicht einfach von heute auf morgen ungeschehen machen und abschalten.

    Sie hatte eine wunderbare Zeit mit Colin verbracht, hauptsächlich an den freien Wochenenden oder den kurzen Urlauben, die sie zusammen verbringen konnten. Doch jedes Mal hatte ihnen das unbändige Temperament des aufbrausenden Iren einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu schnell war er eifersüchtig, zu schnell gereizt und unausstehlich geworden. Obwohl er eigentlich ein herzensguter und so unglaublich netter Mann war. Ashley sah ihn erneut aus den Augenwinkeln an.

    Colin sah keineswegs gesund aus. In seinem maßgeschneiderten, schwarzen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte – und der sein einziger extra angefertigter war, wie sie wusste – wirkte er kraftlos. Seine Augen suchten unruhig nach Antworten am Boden der Pathologie, die Ringe unter den zu Schlitzen zusammengezogenen Augen konnten kaum dunkler und von Farbe im Gesicht keine Rede sein. Er war genauso blass wie die toten Fleischberge um sie herum. Inspector Colin Farley hatte große Probleme: gesundheitlich, vielleicht sogar psychisch, und ganz offensichtlich auch im Arbeitsleben. Commissioner Ryans setzte ihn gehörig unter Druck und dem war er in seinem momentanen Zustand kaum gewachsen. Er benötigte dringend Unterstützung.

    Ashley atmete einmal hörbar durch. Der Duft von Desinfektionsmittel und anderen Flüssigkeiten, die sie zur Behandlung der Leichname benutzte, stiegen ihr beißend in die Nase obwohl sie sie seit Jahren gewohnt war.

    »Hör zu Colin«, begann sie zögernd.

    »Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend zum Essen treffen und nochmals alle Möglichkeiten und Beweise zusammen durchgehen? Ich glaube du könntest ein wenig Abwechslung und vor allem Hilfe bei dem Fall gebrauchen...«, schlug sie vor.

    Nicht ganz sicher, was er gerade vernommen hatte und vor allem wie plötzlich dieses unerwartete Angebot kam, reagierte Colin für wenige Sekunden gar nicht.

    Dann schluckte er laut und antwortete leise: »Ja, vielleicht hast du recht. Lass uns zusammen sitzen und noch einmal alles durchgehen, das kann nicht schaden«.

    Zuvor hatte er aber noch etwas zu erledigen, er würde sich in knapp vier Stunden mit Ashley in ihrem Lieblingspub in der Innenstadt treffen. »19 Uhr im The Brazen Head?«, fragte Colin im Hinausgehen.

    »Geht klar«, sagte Ashley. »Wo willst du denn jetzt hin?«, bohrte sie nach, als er schon halb aus der Tür war.

    »Hab’ noch was zu erledigen«, war die kurze und leicht schroffe Antwort von Colin.

    Wenige Augenblicke später jaulte der altersschwache Motor seines Jaguars vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin auf und raste wieder Richtung Drumcondra.

    *

    Das kleine Backsteinhäuschen gegenüber dem Mehrfamilienhaus, in dem sich die schrecklichen Szenen vor gut 20 Stunden abgespielt hatten, wirkte verlassen. Der Garten benötigte dringend einen Gärtner mit Rasenmäher und allerhand andere Gerätschaften, mit dem das überall hervorquellende Unkraut beseitigt und das wild wachsende Gras und Unkraut gestutzt werden konnte. Die kleinen Fenster waren von Abgasen und anderem Dreck schon fast komplett blind, so dass man nur erahnen konnte was sich im Inneren befand und die ehemals weiße Farbe an den Holzrahmen der Fenster blätterte ab, löste sich in länglichen Streifen vom Holz und fiel zu Boden.

    Inspector Colin Farley stand an der Eingangstür und klingelte bereits zum vierten Mal. Gerade als er es aufgegeben hatte, dass ihm noch jemand öffnen würde, hörte er schlurfende langsame Schritte, die sich näherten.

    Durch die geschlossene Tür drang eine leicht krächzende, brüchige weibliche Stimme: »Wer ist da?«

    Colin zückte seine Dienstmarke, ging einen Schritt näher an die geschlossene Tür, räusperte sich und gab sich laut und deutlich als »Inspector Colin Farley von der städtischen Kriminalpolizei Dublin« zu erkennen. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zum Ehepaar Miller von gegenüber stellen«.

    Kurz zögerte die Dame noch, dann öffnete sie die massive, alte Holztür. Ein ziemlich altes, zerbrechliches, kleines  Weiblein stand dahinter. Colin schätzte sie auf mindestens Ende achtzig. Ihr dünnes, weißes Haar war schulterlang und schon länger nicht mehr gewaschen worden. Sie trug ein altmodisches Kleid und abgenutzte Pantoffeln. Den Gehstock hielt sie von sich weggestreckt nach vorne. Nein, es war kein Gehstock eher ein...

    Er blickte der Frau in die Augen. Sie waren milchig trüb.

    »Madame, begann er...«, und tat einen Schritt in Richtung der alten Dame.

    »Stopp!«, kreischte diese sofort und fuchtelte mit ihrem Blindenstock vor Colins Nase herum.

    »Zuerst die Dienstmarke! Könnte ja jeder her kommen

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