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Ein (fast) perfekter Mensch: Das Leben des Peter Bride Part II
Ein (fast) perfekter Mensch: Das Leben des Peter Bride Part II
Ein (fast) perfekter Mensch: Das Leben des Peter Bride Part II
eBook378 Seiten5 Stunden

Ein (fast) perfekter Mensch: Das Leben des Peter Bride Part II

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Über dieses E-Book

Peter Bride ist nicht gerade der Junge von nebenan, so viel dürfte inzwischen klar sein. Daher verwundert es nicht, dass die gemeinsame Reise durch sein Leben für die besten Freunde Abigail und Henry noch einige Überraschungen bereithält. Mit einer Fülle an neuen Lebensweisheiten, einer geballten Packung Emotionen sowie einer wortgewandten Dramatik, der es bisweilen unter die Haut zu schlüpfen gelingt, besticht die Fortsetzung rund um den geheimnisvollen Jungen und den alten Mann mit einer Vielzahl unerwarteter Wendungen und überzeugt abermals durch eine einzigartige Auseinandersetzung mit den großen Themen des Lebens.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Dez. 2020
ISBN9783753132891
Ein (fast) perfekter Mensch: Das Leben des Peter Bride Part II

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    Buchvorschau

    Ein (fast) perfekter Mensch - Silas Julian Pfeifer

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    Silas Julian Pfeifer

    Ein (fast) perfekter Mensch –

    das Leben des Peter Bride

    Part II

    Für Ella

    »Zimmer 451«

    Es waren keine glücklichen Tage, die das Jahr 2013 einläuteten. Der Weihnachtsschmuck war nun endgültig aus sämtlichen Bereichen des Alltags verschwunden, doch zur damaligen Zeit wirklich von Alltag zu sprechen, erschien angesichts der jüngsten Ereignisse geradezu grotesk. Ich, Henry, hatte meine liebe Mühe und Not das richtige Verhalten an den Tag zu legen. Wie verhielt man sich einem Menschen gegenüber, der vor kurzem einen schweren Verlust erlitten hatte. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich mit solch einer Situation konfrontiert gewesen und auch Abigail schien sich auf derselben Gefühlsebene zu bewegen. Schoschs Beerdigung lag nun bereits mehrere Wochen zurück, alle Prüfungen waren geschrieben und unser vorletztes Semester war durch eben diesen Umstand für beendet erklärt worden.

    Was Peter anging, so befanden wir uns in einer nie zuvor dagewesenen Begebenheit. Er hatte sich zurückgezogen und wir bekamen zunehmend den Eindruck, als würde er sich seit dem Tod des Jungen in seiner völlig eigenen Welt befinden. Aber versteht mich nicht falsch, es war keineswegs so, dass Peter nicht redete. Es war vielmehr so, dass er dabei nicht das Geringste zu sagen schien, und das war mehr als nur erschreckend, weil absolut untypisch für ihn.

    Er hatte sich auch nicht die von Dr. Camilton strengstens angeratene Auszeit genommen, die ihn wohl am liebsten in den nächsten Flieger in Richtung Strand und Sonne verfrachtet hätte, oder sich von seinen wöchentlich anfallenden unispezifischen Aufgaben befreien lassen. Ganz im Gegenteil: Wie ich von befreundeten Studenten aus dem Redaktionsteam erfahren hatte, ging er nicht nur gewissenhaft all seinen Verpflichtungen bei der Unizeitung nach und hatte obendrein all seine Prüfungen vorschriftsgemäß abgelegt, nein, auch sein zuletzt im Independent erschienener Beitrag über die »verschwenderische Haltung der Industrienationen« hatte ihm vergangene Woche sogar einen lobenden Anruf des Universitätspräsidenten eingebracht.

    Aber dennoch … wenn ich ihn anblickte, schien in diesen Tagen stets etwas Befremdliches von ihm auszugehen. Es war einfach nicht der Peter, den ich sonst kannte.

    »Er braucht einfach Zeit«, sagte Abigail, als wir vier Tage nach der letzten Klausur bibbernd auf den Stufen der alten Festung saßen und auf das Erscheinen der Studiengruppe »Informatik« warteten, die aus gegebenem Anlass zu einer Geocaching-Tour mit anschließendem Umtrunk eingeladen hatte.

    »Ich weiß doch, aber … es ist nur … es kommt mir so vor, als würde ich ihn kaum noch sehen. Er war nicht bei der Abschlussparty letzte Woche, beim Funkenfeuer am Sonnabend hatte er auch keine Zeit und heute will er schon wieder nicht mit uns feiern gehen.«

    »Ist das dein Ernst?«, fragte Abigail und hob eine Augenbraue. »Wäre denn dir an seiner Stelle gerade wirklich nach feiern zu Mute?«

    »Nein, so meinte ich das nicht«, revidierte ich rasch und kam leicht ins Stottern, »ich denke nur – na ja – dass ihm ein wenig Ablenkung ganz gut tun könnte. Du weißt schon, mal was anderes sehen, verstehst du?«

    Sie nickte leicht mit dem Kopf, sagte jedoch nichts weiter, sondern vergrub ihr Gesicht noch tiefer im Kragen ihres Mantels.

    »Ich meine, weißt du denn, was er die ganze Zeit dort oben treibt? Zu mir heißt es immer nur ›ich bin beschäftigt, Henry‹, aber mit was denn? Ich würde einfach gern wissen, was er tut und ob ich ihm dabei helfen kann, allmählich mach ich mir nämlich ernsthafte Sorgen um ihn –«

    »Das musst du nicht«, antwortete Abigail mit besänftigender Stimme in den Kragen ihres Mantels hinein.

    »Woher willst du das wissen?«, entfuhr es mir vielleicht ein wenig zu schroff, daher fügte ich schnell an, »ich meine, weißt du denn, was er die ganze Zeit über da oben in seiner Wohnung anstellt?«

    Sie wandte ihr Gesicht und sah mich an, ganz so, als würde sie vorsichtig abschätzen, ob sie mir trauen konnte. Nach kurzem Schweigen sagte sie dann, den Blick wieder nach vorn gerichtet: »Nun ja, er scheibt.«

    »ER TUT WAS???«, rief ich laut, sodass einige der bereits Versammelten sich zu uns umdrehten.

    »Er schreibt«, antwortete sie erneut und sah nachdenklich zu der kleinen Gruppe von Leuten hinüber. »An was genau, kann ich dir auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass er schreibt und dass das wohl auch der Grund ist, warum wir ihn seit … seit … du weißt schon, kaum mehr zu Gesicht bekommen haben.«

    Verdutzt wandte ich mein Gesicht von ihr ab. Davon hatte er mir nie etwas erzählt.

    »Er schreibt …«, murmelte ich leise vor mich hin und ließ meinen Blick über das schneeweiße Gelände schweifen. »Verstehe …«

    Ich sprach mehr zu mir selbst als zu ihr und versuchte, den Gedanken irgendwie in meinem Gehirn einzuordnen. Dann schien sich etwas Klarheit in meinem Geist zu bilden und ich gelangte zu einem Schluss, den ich Abigail sofort mitteilen musste.

    »Er schreibt also, aber ich schätze, das ist doch was Tolles, oder? Ich meine, es tut ihm sicherlich gut und wenn es ihm hilft, mit der ganzen Sache besser umgehen zu können, dann ist das doch was! Er war ja schon immer ein wenig, na ja –«, ich suchte nach einem Wort, das meinen besten Freund am passendsten charakterisieren konnte.

    »Besonders?«, vollendete Abigail meine Überlegung.

    »Ja, das trifft es ganz gut«, antwortete ich und atmete tief ein. Dann mischte sich noch ein anderer Gedanke in meinen Kopf und erneut überkam mich Unmut.

    »Was ich nur komisch finde, ist, dass er mir nichts davon erzählt hat, verstehst du? Sowas kann man doch sagen, dann hätte ich ihn auch nicht –«

    Doch ich brach ab, denn ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit.

    Abigail schwieg zunächst und sah weiterhin den jungen Leuten beim Herumalbern zu. Also versetzte ich ihr einen leichten Schubser mit der Schulter, der sie etwas aus dem Gleichgewicht brachte. »Was denkst du?«, fragte ich ungeduldig.

    »Na ja«, sagte sie zögernd und strich sich die Haare aus den Augen, »ganz offensichtlich will er einfach nicht darüber sprechen – zumindest jetzt noch nicht. Ich habe es selbst nur per Zufall erfahren, als ich ihn letztens besuchen wollte und überall Schreibkram herumlag.«

    »Aaalso – hast du irgendwas sehen können, ich meine, grob um was es dabei gehen könnte«, hakte ich nach, denn nun hatte mich die Neugier gepackt.

    »Eigentlich nicht«, antwortete sie ein wenig niedergeschlagen, »nur so viel, dass es sich dabei weder um eine Arbeit für den Independent noch für die Unizeitung handelt.«

    »Verstehe«, murmelte ich erneut und blickte ein wenig enttäuscht zu Boden.

    Sie sah mich an.

    »Hör mal«, begann sie dann in aufmunterndem Ton, »wenn wir nächste Woche Zuhause sind, kannst du sicherlich mal in Ruhe mit ihm sprechen. Margret hat uns übrigens schon zum Abendessen eingeladen, also nur uns beide, da deine Eltern ja sowieso auf Barbados sind und meine Mum sich zurzeit eine Auszeit genommen hat. Da werden wir bestimmt jede Menge Zeit haben und dort kann er sich auch nicht verbarrikadieren.«

    Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht und auch in mir keimte Hoffnung auf, die jedoch sofort wieder von einem anderen Gedanken gedämmt wurde.

    »Er fährt doch auch wirklich mit nach Hause, oder?«, fragte ich und sah sie ein wenig beklommen an.

    Schon zu Beginn dieses Semesters hatten wir beschlossen, nach den Prüfungen einige Zeit in der Heimat zu verbringen und unsere Familien zu besuchen. Und damals war dieser Vorschlag sogar Peters Einfall gewesen. Angesichts der jetzigen Situation jedoch …

    »Ja, das wird er. Ganz bestimmt!«, antwortete Abigail entschlossen in all meine Grübeleien hinein. »Das würde er Margret niemals antun, auch wenn ich durchaus verstehen könnte, wenn er erstmal Abstand von allem nehmen würde.«

    Sie sah mich herausfordernd an und ich begann langsam zu nicken.

    »Hey, kommt ihr beiden jetzt, oder was?«, schallte plötzlich eine laute Stimme zu uns herüber. Der Platz vor der alten Festung hatte sich in den letzten paar Minuten zunehmend mit jungen Menschen gefüllt und einer von ihnen, mit Kapuzenjacke und Basecap bekleidet, sah grinsend in unsere Richtung.

    »Wir sollten –«, begann ich, stand auf und streckte ihr meine Hand entgegen.

    »Ja, das sollten wir.«

    Sie ergriff meine ausgestreckte Hand und erlaubte es mir so, sie auf die Beine zu ziehen. Für einen flüchtigen Augenblick fanden sich unsere Blicke und wir trafen stillschweigend eine Übereinkunft. Ohne ein weiteres Wort über Peter zu verlieren, steuerten wir auf die schwatzende Menschentraube zu, die dick in Jacken und Schals gehüllt und bereits reichlich mit Alkohol beladen war.

    »Na dann Prost«, sagte ich grinsend zu Abigail, kaum als wir inmitten der anderen Studenten angekommen waren und bereits, ohne darum gebeten zu haben, das erste Bier in Händen hielten.

    Schneeflocken trieben wie dick bepackte Federn vor dem Fenster dahin. Peter stand mit den Händen in den Taschen an der Scheibe und schien fasziniert von dem munteren Geschehen, das sich außerhalb des Esszimmers seiner Pflegeeltern abspielte.

    Unsere Heimreise war problemloser verlaufen, als ich zunächst erwartet hatte. Zwar hatte Peter auch während der Fahrt im Zug nicht gerade aus dem Nähkästchen geplaudert, aber wir hatten zumindest stets eine ehrlich gemeinte Antwort von ihm erhalten. Ein Fortschritt – war es mir sofort durch den Kopf geschossen. Nun jedoch hatte er bereits seit unserer Ankunft vor gut zwei Stunden kaum noch ein Wort verlauten lassen. Auch während des Essens war er seltsam still gewesen und jetzt stand er einfach nur da, dem Raum den Rücken zugewandt, und blickte seit geschlagenen Minuten stumm aus dem Fenster.

    »Wer will noch eine Tasse von Margrets herrlichem und wohlgemerkt selbstgemachten Glühwein«, fragte Mr. Grinning gerade gutgelaunt und hob in spielerischer Manier zwei abgefüllte Flaschen voll dunkler Flüssigkeit in die Höhe. »Wir haben noch massenhaft von den Feiertagen übrig, sie hat es wieder einmal viel zu gut mit uns gemeint«, fügte er seufzend hinzu, sodass nur Abigail und ich es hören konnten und nickte mit dem Kopf in Richtung Küche, in der seine Frau gerade einen großen Berg Geschirr in Händen hielt.

    Auch jetzt zeigte Peter keinerlei Reaktion. In seinem Gesicht lag ein seltsam träumerischer Ausdruck, zumindest so viel ich der schwachen Reflektion seines Spiegelbildes in der Scheibe entnehmen konnte.

    Mr. Grinning warf ihm einen leicht beunruhigten Blick zu, fing sich jedoch schnell wieder und lächelte auf uns herunter.

    »Also – eine Tasse Glühwein, ihr zwei?«

    Ich blickte zu Abigail, die mir direkt gegenübersaß und zuckte mit den Achseln.

    »Ach, wenn wir schon mal hier sind, Steve, warum nicht. Abigail nimmt auch eine«, sagte ich mit dem Anflug eines Grinsens und Steve klatschte erfreut in die Hände, während Abigail die Augen verdrehte.

    »Zwei Tassen – kommen sofort!«

    Wenige Augenblicke später kam er mit einem Tablett in den Händen zurück, auf dem drei dampfende Tassen voll rubinrotem Inhalt Platz gefunden hatten.

    Nach einigen Minuten kam auch Mrs. Grinning zufrieden aussehend in die Küche geschlendert und ließ sich auf einen Stuhl neben ihrem Mann sinken.

    »Na, wovon sprechen wir?«, fragte sie in die Runde und mir entging nicht, dass auch ihre Augen kurz zu Peter hinüberhuschten, der nach wie vor unverändert am Fenster stand.

    Dann sah sie unsicher zu ihrem Mann und dieser verstand ihr Anliegen.

    »Peter?«, fragte er vorsichtig. »Möchtest du dich nicht zu uns setzen?«

    Doch Peter schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Erst als Mr. Grinning die Stimme erhob und noch einmal und nun sehr deutlich vernehmbar »Peter?« rief, zuckte er leicht mit dem Kopf.

    Dann … ganz langsam, fast andächtig drehte er sich zu uns um. Als er uns ansah, lag keine Freude in seinem Blick. Da war nicht die Spur eines Lächelns, seine Miene wirkte eher erschrocken und angespannt. Und noch etwas anderes hatte sich darin eingenistet und als ich glaubte, es erkannt zu haben, überkam mich augenblicklich Hitze, gepaart mit einem unguten Gefühl der Furcht.

    »Ich muss mit euch reden«, sagte er bestimmt und nun war es unverkennbar: Sein Gesichtsausdruck beherbergte die pure Angst. Seine Stimme hingegen war klar, fokussiert und ließ keinen Zweifel an seinem Vorhaben. Ganz so, als hätte er sich reichlich Zeit zum Nachdenken gelassen und wäre nun zu einem unumstößlichen Entschluss gelangt.

    Margret sah mit beinahe panischer Miene von Peter zu ihrem Mann und wieder zurück.

    »Möchtest du – willst du, dass Steve und ich euch allein lassen, Peter?«, fragte sie unsicher.

    Peter wandte den Kopf. Es war unmöglich zu erraten, was just in diesem Moment in ihm vorging. Einige Sekunden vergingen, in denen er wiederum genau abzuwägen schien.

    »Nein«, sagte er dann und blickte abwechselnd von ihr zu Steve. »Es ist gut, wenn ihr bleibt. So habt ihr das bestimmt auch noch nie gehört und ich will … ich will das nicht noch einmal machen müssen.«

    Sie sah ihm mit bangem Blick entgegen.

    »Peter, du musst das nicht tun, wenn du –«

    »Doch! Doch, das muss ich«, unterbrach er sie, »schon viel zu lange wurde das aufgeschoben. Es muss vor ihnen laut ausgesprochen werden, hier und jetzt, zumindest dieses eine Mal.«

    Abigail und ich saßen wie versteinert da und starrten Peter an, der sich nun langsam am Kopfende des Tisches niederließ, damit niemand sich den Hals verrenken musste, um ihn anzusehen. Noch nie hatten wir ihn so ernst erlebt und allmählich verwandelte sich das anfänglich heiße Gefühl in meinem Magen in ausgewachsene Angst. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht und ich war mir in diesem Moment nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt wissen wollte, um was es sich dabei handelte. Denn eines war klar, etwas das Peter eine solche Angst in die Augen trieb, konnte auch für uns nichts Gutes verheißen.

    Mr. Grinning sah mit einer Mischung aus wachsender Unruhe und düsterer Faszination zu seinem Pflegesohn hin. Er machte den Eindruck, als hätte er eine Art dunkle Vorahnung von dem, was gleich kommen könnte.

    »Peter, was ist denn los?«, fragte Abigail verstört und lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorn.

    Für einen Moment schien es, als würde Peter mit seinen Worten ringen und nun war endgültig klar, dass hier etwas faul sein musste, denn ein Peter Bride, der nicht wusste, was er antworten sollte, war bisher noch nie dagewesen.

    Er schluckte und schloss für einen Augenblick die Augen. Dann legte er seine Hände vor sich auf den Tisch, sah Abigail direkt ins Gesicht und schaffte es endlich, seinen Mund zu öffnen.

    »Abs, erinnerst du dich noch daran, als ich einmal zu dir gesagt habe, es sei keine Frage des Vertrauens?«

    Sie starrte ihn an und einige Sekunden verrannen, dann …

    »Jaa«, begann sie langsam, »war das nicht genau hier, am Vorabend unserer Abreise? Als du – na ja, ein wenig seltsam drauf warst?«

    Peter nickte.

    »Genau«, antwortete er langsam und es klang, als würde er mehr mit sich selbst, als mit den Versammelten am Tisch reden, deren Augenpaare allesamt gespannt auf ihm ruhten.

    »Genau«, wiederholte er. »Und eben in diesem Punkt lag ich völlig falsch, denn genau das ist es, es ging dabei um Vertrauen, und zwar nur um Vertrauen. Damals habe ich das anders gesehen und mich damit komplett geirrt.«

    Ich sah völlig verständnislos in sein nervöses Gesicht und als er meinem Blick begegnete, schien es endlich aus ihm herauszubrechen.

    »Henry, Abs, ich muss euch von etwas erzählen. Etwas, dass ich euch vermutlich schon vor langer Zeit hätte erzählen sollen.«

    Er schloss erneut die Augen und jeder, der Peter nicht kannte, würde ihm möglicherweise unterstellen, dass er dies tat, um eine dramatische Note zu erzeugen, doch ich spürte, wie schwer es ihm fiel, die folgenden Worte laut auszusprechen.

    »Ich – ich bin krank. Und das schon seit einer sehr, sehr langen Zeit.«

    Mrs. Grinning tat plötzlich etwas sehr Seltsames. Sie hob den Arm schlagartig in die Höhe und es sah so aus, als wollte sie einen imaginären Schalter umlegen.

    Peter schüttelte den Kopf und sie ließ ihre Hand mit einer entschuldigenden Geste sinken und sah peinlich berührt in ihren Schoß hinab.

    »Ich will euch davon erzählen, weil es das einzig Richtige ist und ich denke, es wird nicht nur mir helfen, sondern auch euch. Also … los geht’s«, er atmete nochmals tief ein und begann zu erzählen. »Es hat alles angefangen, als ich noch sehr jung war …«

    Nachdem Peter geendet hatte, war der Raum von einer Stimmung erfüllt, die in Worten nicht beschrieben werden konnte. Eine Stille lag um uns herum, die jedes Geräusch zu betäuben schien. Sie drückte auf die Ohren, auf die Seele, auf das Herz, und jeder hatte Angst, was geschehen würde, wenn jemand es wagen sollte, diese schockgeladene Stille zu durchreißen. Ich selbst fühlte mich, als hätte mir jemand mit einem Baseballschläger fest auf den Schädel geschlagen und mein komplettes bisheriges Weltbild auf den Kopf gestellt. Mein Gehirn schien gar nicht zu begreifen, was Peter uns soeben berichtet hatte. Auch Abigail schien völlig vor den Kopf gestoßen. Stumme Tränen des Entsetzens waren ihr während Peters Ausführungen die Wangen hinuntergelaufen und auch Margret schien am Rande der stummen Verzweiflung angelangt zu sein.

    Mr. Grinning sah schlichtweg fassungslos zu seinem Pflegesohn hinüber. Offenbar hatten die beiden von Peters Krankheit gewusst, aber heute zum ersten Mal wirklich mit eigenen Ohren gehört, welche Qual sich tatsächlich dahinter verbarg. Es war unmöglich zu begreifen, was ich soeben über diesen Menschen erfahren hatte, von dem ich doch eigentlich sicher gewesen war, ihn in der Zwischenzeit wahrhaftig kennengelernt zu haben. Mein Geist befand sich in einer Art Schockstarre und ich sah einfach nur völlig belämmert zu dem jungen Mann am Tischende hin.

    »Peter – ich –«, fing Abigail an und begann verzweifelt mit dem Kopf zu schütteln, während ihr immer neue Tränen in die Augen stiegen. »Ich hatte ja keine Ahnung, ich … ich …«

    Doch ihr fehlten offensichtlich jegliche Worte, die zu sagen an dieser Stelle angebracht wären. Wahrscheinlich gab es auch überhaupt keine passenden für solch eine Situation.

    »Hey – es ist okay, völlig okay«, sagte Peter und ergriff ihre Hände.

    Sie schüttelte nun heftiger den Kopf und klammerte sich verzweifelt an ihm fest.

    »Nein … nein, das ist es nicht, das ist überhaupt nicht okay, nichts daran«, schluchzte sie, »das ist so … so unfair …«

    Peter erhob sich, kam langsam um den Tisch herum und schloss sie in die Arme. Sie zitterte heftig. Peter streichelte ihr beruhigend übers Haar und flüsterte etwas in ihr Ohr, das nur sie hören konnte. Nach einigen Augenblicken gelang es ihm, sie ein wenig zu besänftigen.

    Wie mir auffiel, hatte sich sein Auftreten mit dem letzten Wort seiner Geschichte schlagartig gewandelt. Es wirkte, als wäre er von einer unsichtbaren Last befreit worden. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, als er mich hinter Abigails Kopf hervor anblickte und in seinen Augen konnte ich einen Hauch des Funkelns erkennen, das ich darin schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte.

    Als Peter sicher sein konnte, dass Abigail nicht mehr losheulen würde, setzten sich beide wieder auf ihre Stühle.

    Peter blickte in die Runde.

    »Ihr vier, hier und jetzt, an diesem Tisch, seid mit einer Ausnahme die einzigen Menschen, denen ich jemals so ausführlich und intensiv davon erzählt habe. Ihr kennt jetzt meine größte Schwäche und ich hoffe, dass ich nicht erwähnen muss, welche Bedeutung dieser Vertrauensbeweis für mich hat.«

    Keiner brachte es zu Stande, darauf etwas zu erwidern, sogar Mr. Grinning schienen die Worte zu fehlen. Margret ergriff Peters Hände und drückte sie fest an sich. Auch ihr Gesicht war übersät von Tränen der stillen Anteilnahme.

    »Und – und wie geht’s jetzt weiter? Ich meine, wie sollen wir –«, fing Abigail an und sah verzweifelt zu mir herüber, während sie sich mit dem Ärmel ihres Pullovers übers Gesicht wischte.

    »Nein, Abs«, sagte Peter sofort und mir fiel auf, wie scharf seine Stimme geworden war, »ihr sollt überhaupt nichts. Ich würde gerne sagen, dass sich zwischen uns nichts verändern wird, aber das ist bereits in dem Moment geschehen, als ich euch davon erzählt habe. Aber du kennst mich doch mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich meine Probleme niemals auf andere abwälze. Das wäre unerträglich für mich und in dieser Angelegenheit auch überhaupt nicht nötig. Nein, wie ich euch gesagt habe, geht es mir bereits um so vieles besser und ich habe endlich Hilfe erhalten, eine ganz gewaltige Hilfe. Also, ihr sollt und könnt wirklich überhaupt nichts tun.«

    Sein Blick war mehr als nur eindringlich.

    »Das ist auch nicht der Grund, aus dem ich es euch erzählt habe. Ich habe es euch erzählt, weil ihr, als meine besten Freunde, es einfach wissen solltet und mehr noch, ihr habt in gewisser Weise auch ein Anrecht darauf, es zu erfahren. Aber mit diesem Wissen sollen euch keinerlei Verpflichtungen oder ständige Mitgefühlsbekundungen, noch irgendein anderer Unsinn auferlegt werden. Das würde es nur schlimmer machen und war niemals die Absicht dahinter.«

    Er sah uns abwechselnd mit ernster Miene an, ganz so, als wollte er sichergehen, dass wir auch wirklich verstanden hatten. Dann entstand abermals ein Lächeln auf seinem Gesicht.

    »Hey – es ist im Grunde ganz einfach: Seid einfach wie bisher, seid meine besten Freunde! Wenn ihr das tut, könnt ihr nichts falsch machen. Ganz im Gegenteil, damit macht ihr alles richtig. Ich weiß, und das lässt sich vermutlich nicht vermeiden, dass ihr mich von nun an mit etwas anderen Augen sehen werdet, aber ich bin nach wie vor derselbe! Ich bin der, der ich immer war und den ihr so bereitwillig in eurer Mitte aufgenommen habt.«

    Sein Lächeln wurde breiter.

    »Es war alles echt«, fügte er hinzu und ich kam nicht umhin zu bemerken, wie wichtig es ihm schien, dass wir auch diese Worte wirklich zu beherzigen wussten. »Ich bin genauso, wie ihr mich kennengelernt habt. Es ist nur eine Erkenntnis hinzugekommen, die euch im Übrigen nicht verunsichern, sondern vielmehr dabei helfen soll, mich noch besser kennenzulernen.«

    Er blickte uns aufmunternd an und genauso wie er es sagte, meinte er es auch. Das waren keine daher gesagten Floskeln, mit denen wir uns besser fühlen sollten. Jedes seine Worte war nun wieder zu 100% Peter – der Peter, den ich eine ganze Weile über sehnlichst vermisst hatte. Ich sah ihm in die Augen und nun war es nicht mehr zu übersehen: Das Funkeln in deren tiefem Blau war endgültig zurück.

    Ein paar Tage später im Garten der Grinnings …

    »Ich muss euch noch etwas erzählen«, sagte Peter gerade und sah auf den gefrorenen Weiher, der sich hinter dem Haus der Grinnings in die Landschaft hinein erstreckte und dessen Oberfläche von tiefen Rissen durchzogen war.

    »Oh Gott – das überleb ich nicht«, stöhnte ich in gespielt leidendem Ton und schlug mir seufzend die Hände vors Gesicht.

    Peter stieß ein amüsiertes Schnauben aus und Abigail, die es sich in Peters Armen bequem gemacht hatte, neigte den Kopf argwöhnisch nach hinten.

    »Keine Angst, es geht dabei ausnahmsweise nicht um eine belastende Lebensoffenbarung«, fuhr er grinsend fort und schloss seine Arme noch fester um die bibbernde Abigail. »Es geht vielmehr um das, was ich in den letzten Wochen getan habe.«

    Abrupt ließ ich die Hände von meinen Augen sinken. Die zuvor noch aufgelockerte Stimmung wandelte sich schlagartig und ich sah gespannt in Peters Gesicht.

    »Nun, ihr wisst ja, dass es keine ganz einfache Zeit für mich gewesen ist und ich letztens auch sicherlich nicht gerade ein aufmerksamer und fürsorglicher Freund war. Aber Schoschs Tod und das ganze Drumherum war … war einfach zu …«

    »Grausam?«, warf Abigail traurig ein, den Blick ebenfalls auf den gefrorenen Weiher geheftet.

    »Ja. Ja, das war es in der Tat. Aber nicht nur das, auch der Gedanke daran, dass so ein wunderbarer Junge nun einfach von dieser Welt verschwindet, ohne dass der Großteil der darauf befindlichen Menschen überhaupt Notiz davon nimmt, hat mich auf seltsame Weise wütend gemacht. Ich empfand das als nicht gerecht und daher fasste ich den Entschluss, dass eben genau dieser Umstand geändert werden sollte. Ich konnte ihm nicht mehr helfen, niemand konnte das, aber ich kann jetzt etwas für ihn tun, und zwar versuchen, sein Andenken zu bewahren und dafür zu sorgen, dass er nicht so einfach in Vergessenheit gerät.«

    »Das ist … ein wirklich schöner Gedanke, Peter«, sagte Abigail zaghaft. »Aber meinst du nicht, du hast wirklich schon genug für ihn getan?«

    Sie sah vorsichtig zu ihm auf und auch in mir regte sich ein beunruhigender Gedanke.

    »Abigail hat Recht. Vielleicht ist es besser, jetzt einfach mal, du weißt schon, nach vorn zu schauen. Ich meine, du hast uns erst vor ein paar Tagen erzählt, mit was du selbst Tag für Tag zu kämpfen hast. Du kannst dir doch nicht immer noch mehr und noch mehr aufhalsen. Oder?«

    Ich sah hilfesuchend zu Abigail.

    Vielleicht lag auch ein Stück weit Egoismus in meinen Worten, doch nach all den Wochen der Stille und des Schweigens nun endlich meinen besten Freund wiederzuhaben, war einfach zu schön.

    Peter wirkte nicht verärgert, ja nicht einmal überrascht von unserer Reaktion. Er stand einfach nur da, die Hände weiterhin um Abigail geschlungen und sah zu der gefrorenen Oberfläche des Weihers hinüber, unter der sich die eiskalten Wasserfluten lediglich erahnen ließen.

    »Ich weiß, du machst dir nur Sorgen um mich, Abs. Und Henry, ich weiß, ich war dir in letzter Zeit kein besonders guter Freund und du hast womöglich Angst, dass es nun fortan so weitergehen könnte, doch diese Bedenken sind absolut überflüssig.«

    Abigail öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Peter kam ihr zuvor.

    »Versucht, mich ein wenig zu verstehen. Ich bin es ihm schlicht schuldig gewesen. Ich kann nicht sagen, woher dieses Bedürfnis kam, aber es war einfach da und so klar vor mir, dass ich überhaupt keine andere Wahl hatte.«

    »Moment Mal«, sagte ich und sah nun leicht verwirrt drein.

    »Was meinst du mit ›du hast es schon getan‹?«

    Mein Blick wanderte langsam von Peters Miene zu der von Abigail, die sich nach und nach erhellte.

    »Du hast es getan?«, sagte sie mit schriller Stimme und wirkte nun schlicht weg völlig geplättet, während sie sich langsam aus seinen Armen herausdrehte und zu ihm umwandte. »Du hast es geschrieben? Fertig geschrieben? Über ihn, nicht wahr? Peter?«

    Doch bei ihren Worten war ein träumerischer Ausdruck auf sein Gesicht getreten und er schien für kurze Zeit gedanklich abgedriftet zu sein.

    Eine Sekunde später jedoch war sein Blick wieder vollkommen klar und er sah ihr direkt in die Augen.

    »Ja, Abs, es ist fertig. Genau das habe ich die letzten Wochen über getrieben, ich habe über ihn geschrieben, über Schosch. Besser gesagt darüber, wie ich ihn kennenlernen und was ich alles mit ihm erleben durfte. Schließlich kann ich aus meiner Sicht lediglich über die Zeit mit einem Menschen berichten, in der ich auch tatsächlich bei ihm gewesen bin, daher drehen sich meine festgehaltenen Gedanken auch ausschließlich um das letzte Jahr.«

    »Das soll jetzt aber nicht das bedeuten, was ich gerade denke, oder?«, fragte ich perplex und sah entgeistert in seine blauen Augen. »Du willst uns jetzt nicht ernsthaft weismachen, dass du das Buch geschrieben hast? Das eine, das du immer schreiben wolltest?«

    Schon als ich Peter zum ersten Mal begegnet war, hatte er stets davon geträumt, eines Tages ein eigenes Buch – sein Buch – zu schreiben. Doch wir alle hatten diesen Tag eigentlich noch in weiter Ferne gewähnt und ich wusste, welch enorme Bedeutung dieses Projekt – würde es denn jemals fertig gestellt sein – für ihn besitzen musste. Immer hatte er betont, dass es nicht darum ginge, das Buch dann schlussendlich zu verlegen und damit eine Menge Kohle zu scheffeln, vielmehr zählte für ihn der Moment, in dem er sagen konnte: ›ja, ich hab’s geschafft, es ist getan, ich bin fertig‹.

    Abigail schien einem Nervenzusammenbruch nun nicht mehr allzu fern zu sein und auch ich hatte mir wiederum die Hände vors Gesicht geschlagen, dieses Mal jedoch ohne jede Ironie.

    »Es machte auf einmal alles Sinn, es hat auf groteske Art und Weise irgendwie zusammengepasst. Nie hatte ich eine zündende Idee, über die ich ein Buch hätte schreiben können, doch auf einmal war sie da. Ich dachte eigentlich immer, mein erstes Buch würde von etwas viel Einfacherem, Schönerem und weniger Ernstem handeln, aber als mir der Gedanke in den Kopf geschossen wurde, hatte ich auf einmal keine andere Wahl mehr und musste einfach drauflosschreiben. Innerlich wusste ich – und ich kann euch nicht erklären woher – aber ich wusste, dass es das absolut Richtige sein würde«, antwortete Peter und konnte einen Hauch von Rechtfertigung über die Themenwahl seines Werks nicht

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