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Asphaltblüten
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eBook245 Seiten3 Stunden

Asphaltblüten

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Über dieses E-Book

Das Stop & Go, eine Rast- und Servicestation mit integriertem Bistro, liegt inmitten eines Archipel von Straßen am Rande einer Kleinstadt. Täglich strömen Menschen ein und aus.
Rosi Neuhauser, die Pächterin des Stop & Go, die ihre betagte Mutter Mama Berta nach einem Missgeschick zu sich nehmen muss, der diensteifrige Flüchtling und Tausendsassa Sam ohne Aufenthaltsgenehmigung, der eines Tages wieder Besuch von seinem Schlepper erhält, Vizeleutnant Adi Finder in seinem Rollstuhl, der nach Jahren seiner Exfrau und seiner Tochter begegnet, Ruth Ils, die gerne als Model Karriere machen möchte und Oli Klein, ihr Freund von dem Dating-Portal, der sie finanziell unterstützt, die Prostituiere Daisy, die sich ihren Kindern gegenüber als Krankenschwester ausgibt oder ihr fünfzehnjähriger Sohn Peter, der das Doppelleben seiner Mutter entlarvt – ihnen allen dient das Stop & Go als ein Ort, an dem sie ihre ganz persönlichen Ziele verfolgen. Die Enttäuschung ist groß, als das Stop & Go, als das Zuhause einer großen Familie, geschlossen werden soll. Doch zu guter Letzt wendet sich das Blatt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Apr. 2021
ISBN9783753184272
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    Buchvorschau

    Asphaltblüten - Gabi Paumgarten

    1

    Blutrot ist die Farbe des Lippenstifts, mit dem Daisy zweimal kräftig über ihre Unterlippe fährt. Sie setzt den cremig fetten Stift in der Mitte des Amorbogens an und führt ihn in einem einzigen Zug zuerst in den rechten, dann in den linken Mundwinkel. Sanft drückt sie ihre Lippen aneinander, sodass sich die intensive Farbe gleichmäßig darauf verteilt. Die Lippen sind das Finish ihres Make-ups. Daisys prüfender Blick in den Spiegel zeigt ein blasses, makellos geschminktes Gesicht – der Mund sticht wie ein leuchtendes Ampelsignal hervor.

    Die mandelförmigen Züge ihrer Augen, die durch eine Linie von schwarzem Kajal dezent verstärkt werden, lassen eine Rarität durchschimmern. Eine Rarität, die man sich zu besonderen Anlässen gönnt, die möglicherweise kostspielig, auf jeden Fall aber Genuss versprechend ist. Und für einen Genuss dieser Art ist Daisys Kundschaft gerne bereit, tief in die Tasche zu greifen. Mit einem letzten Griff rückt sie die blauschwarze Pagenkopf-Perücke zurecht. „Daisys" Haare sind ihr unverkennbares Markenzeichen. Die etwas strenge, aber durchaus jugendliche Perücke aus Echthaar muss jeder Bewegung standhalten. Kein noch so kleines Verrutschen darf das Gegenüber an der Echtheit des eindrucksvollen Erscheinungsbildes zweifeln lassen oder gar die darunter verhüllte Haartracht preisgeben.

    Als letzten Schritt fasst sie sich mit beiden Händen an ihre schlanke Taille, um das enganliegende Mieder aus schwarzem Lackleder straffend nach unten zu ziehen. Ihre Figur entspricht noch immer der einer topfitten Mittdreißigerin. Die muskulösen Pobacken, die nur knapp von dem roten Minirock verdeckt werden, lassen eine trainierte Sportlerin erkennen.

    Daisy ist mit ihrem Aussehen zufrieden. Jedes Stück ihres Kostüms ist mit Bedacht gewählt, um der Erwartung ihrer Kunden zu entsprechen.

    Nachdem sie ihre Alltagsklamotten in einem schäbigen Metallspind neben der Toilettentür verstaut hat, schreitet sie auf roten High Heels und mit großen Schritten durch das Bistro des Stop & Go – einer Rast- und Servicestation am Stadtrand – hinaus auf die Straße, hinaus in die Nacht.

    Es ist Montag – und Montag ist gut für das Geschäft. Nach einem Wochenende, das für manche Kerle aus reizlosem Sex bestanden hat, der sie wie Haferschleimsuppe zwar satt gemacht, aber nicht richtig befriedigt hat, verlangt Daisys Kundschaft etwas richtig Scharfes. Sex so scharf wie eine Carolina Reaper, die einem beim gierigen Verzehr den heißen Schweiß aus den Poren jagt und an deren Feuer man sich noch zwei Tage später erinnert.

    Es ist früher Abend und der Feierabendverkehr hat bereits eingesetzt. Die Dämmerung verstärkt das grelle Scheinwerferlicht der Autos, das sich wie ein helles Band durch die dunkle Landschaft zieht. Am Straßenrand stehend, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wartet Daisy – und sie wartet nicht lange.

    Eine auf Hochglanz polierte Limousine hält auf dem staubigen Bankett. Lautlos schiebt sich die Scheibe nach unten. Ein kurzer Blickaustausch und Daisy öffnet die schwere Wagentür an der Beifahrerseite. Wortlos steigt sie ein.

    2

    Im Stop & Go herrscht reger Betrieb und für Sam ist es bereits die vierte Rushhour an diesem Tag. Hinter der kleinen Bar bereitet er zwei Espressi, zwei belegte Brote – leicht erwärmt – einen frisch gepressten Orangensaft und ein kleines Bier zu, während in der winzigen Küche ein Hamburgerlaibchen und eine Bratwurst in der Pfanne brutzeln. Aus der Küche strömt der würzige Duft von in Fett gebratenem Fleisch vermischt mit dem Dampf und Rauch des Bratens. Mit einem Auge behält Sam den Monitor im Blick, der die Zapfsäulen vor der Glasschiebetür anzeigt. Viele Autolenker nutzen die Zeit, um zu tanken, bevor die Preise über Nacht wieder angehoben werden. Mit dem anderen Auge überblickt er die vier Tische im Lokal, von denen drei mit Stammgästen besetzt sind.

    Sam spricht nicht perfekt Deutsch, aber gut genug, um die Wünsche der Gäste einwandfrei entgegenzunehmen. „Kommt sofort, lautet seine Standardantwort, wenn er gerufen wird, denn er hat längst verstanden, dass ein rasches Handeln im Gastgewerbe besonders geschätzt wird. Mit „Merci, „Grazie, „Gracias, „Podziękowanie oder „Spasiba verabschiedet er die Gäste, wenn diese zufrieden das Lokal verlassen.

    Sam mag es, wenn es sich in der kleinen Rast- und Servicestation so richtig dreht, wenn das Auf und Zu der Glasschiebetür zur Melodie wird, die vermengt mit dem Getratsche seinen Arbeitsrhythmus bestimmt. Sam mag das Kommen und Gehen der Menschen, die sich trotz ihres für Reisende typischen Fremdseins miteinander verbunden wissen, aus der Notwendigkeit heraus, eine Rast einzulegen. „Das ist meine Familie", erklärt er schon mal den Leuten in seiner herzlich offenen Art, wenn sie sich für die Dauer eines Espressos in ein kurzes Gespräch einlassen. Diese Art der Begegnung mit den Gästen, und sei sie auch nur kurz, erzeugt in ihm nicht nur das Gefühl, gebraucht zu werden, sondern vielmehr das Gefühl dazuzugehören.

    Sams ganzer Name lautet Elunga Samuel Nmbundo und seine Haut ist braun wie Torferde. Seit fünf Jahren ist er im Stop & Go als Tankwart, Kellner, Barkeeper, Mechaniker, Spaßmacher oder Seelentröster beschäftigt, je nachdem, was die Gäste von ihm brauchen. Fünf Jahre ist es her, dass er – einer Polizeirazzia an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich entkommend, mit einem Ledergurt an den Unterboden eines Lkw geschnallt – als blinder Passagier die Grenze passiert hat. An der ersten Tankstelle, an der der tonnenschwere Truck hielt, ging er von Bord und blieb. An seine Heimat Ruanda denkt Sam nur noch selten. Vor allem an die Geschehnisse von damals will er nicht mehr erinnert werden … auch, wenn der positive Asylbescheid noch immer auf sich warten lässt.

    3

    Eigentlich bewerkstelligt die elektronische Registrierkassa die Abrechnung selbstständig. Eine Tastenkombination als Anweisung genügt und die Maschine spuckt schwarz auf weiß das Resultat eines ganzen Monats aus. Und doch kontrolliert Rosi Neuhauser die computerisierte Datenverarbeitungsmaschine so, als wäre sie eine Mitarbeiterin, der man Ungenauigkeit und Nachlässigkeit zutrauen müsste. Gedanklich geht sie die Zahlenreihen Zeile für Zeile durch, in der ungewissen Annahme, dass sich ein vermeintlicher Fehler eingeschlichen haben könnte. Das Ergebnis ernüchtert die fünfzigjährige Geschäftsfrau jedes Mal aufs Gröbste. Denn nach Abzug aller Kosten bleibt ihr gerade so viel, dass sie ohne unerwartete Ausgaben über die Runden kommt.

    Vor zehn Jahren hat sie nach einer kleinen Erbschaft das Stop & Go von dem Vorbesitzer übernommen, der das Ding, wie er es nannte, nach fünfunddreißig Jahren täglicher Arbeit krankheitshalber aufgeben musste. Für Rosi war es so etwas wie ein Neuanfang, eine Herausforderung, selbstständig auf eigenen Beinen zu stehen. Eine Herausforderung und zugleich ein Beweis sich selbst gegenüber, etwas aus eigener Kraft zu schaffen.

    Der Mineralölkonzern Petrochemie AG International, der nicht nur den Treibstoff liefert, sondern auch die bauliche Ausstattung zur Verfügung gestellt hat, hat sich anfangs großzügig erwiesen und ist ihr finanziell stark entgegengekommen, sodass die unerschrockene Jungunternehmerin die nach Wagenfett und Treibstoff miefende Tankstelle mit Reparaturservice zu einem gemütlichen, kleinen Bistro-Café umgestalten konnte. Nie wird sie das Bild vergessen, als sie zum ersten Mal den Fuß in das Stop & Go gesetzt hat. Wie heruntergekommen und schmutzig die wenigen Räume waren. Aber in Rosis bildlicher Vorstellung haben die Räumlichkeiten bereits die heutige Gestalt angenommen und mit jedem Kübel Farbe wurden sie ein Teil von ihr. Ein Ort, an dem es am Morgen nach eben aufgebackenen Semmeln und heißem Kaffee duftet, zu Mittag neben kleinen Snacks eine frisch gekochte Speise serviert wird und abends mit einer vorzüglichen italienischen Pasta wie auch ein paar Antipasti aufgewartet wird.

    Das Stop & Go liegt wie eine Insel in einem Archipel von Straßen. Von allen Seiten fahren Fahrzeuge zu und ab, während Zebrastreifen in die vier Himmelsrichtungen das vom Verkehr umspülte Eiland mit dem Festland verbinden. Mit seinen ausgedehnten Öffnungszeiten lädt das Bistro großzügig zum Kommen und Bleiben ein, großzügiger als manche karitative Notschlafstelle. Es ist ein Ort, an dem jede soziale Schicht, jeder Stand, jedes Geschlecht, jede Hautfarbe, jede Religionszugehörigkeit, jede politische Ideologie willkommen sind.

    Seit einiger Zeit jedoch hinterlässt ein zermürbender Verschleiß an der Tankanlage überall dort seine Spuren, wo Rosi nicht umgehend Hand anlegt, und er erhöht von heute auf morgen die monatlichen Ausgaben, sodass sie, dringend nach einer Lösung suchend, ein jüngst zugespieltes Angebot nicht mehr lange ausschlagen wird können. Dabei ist es nicht nur das, was ihr schlaflose Nächte bereitet.

    4

    Der Fahrer der schwarzen Limousine ist Daisy bislang unbekannt. Auch wenn sie über eine gute Zahl an Stammkunden verfügt, für die sie alles tut, um sie zufrieden zu machen, so steht sie Neuzuwachs nicht abgeneigt gegenüber. Bereits auf den ersten Blick entspricht er genau der Kategorie Kundschaft, für die sie normalerweise und gerne arbeitet. Alles an ihm steht für einen gehobenen Lebensstil, den er nicht erst seit gestern zu pflegen scheint. Seine Kleidung – ein dunkelgrauer Anzug einer Nobel-Herrenmarke, dazu ein dunkelgraues Hemd und eine dunkelgraue Krawatte, die mit gelockertem Knoten leicht um den Hals hängt –, sein Eau de Toilette nach Amber und Tabak duftend, seine gepflegten, schmucklosen Hände sowie sein glattes, sichtlich mit teuren Cremes gepflegtes Gesicht lassen auf eine gute Einkommensklasse schließen. Ein Herr mit Stil. Und Männer dieser Art machen in einer einzigen Nacht schon einmal ein Sümmchen von fünfhundert Euro locker, wenn sie dafür das an Spaß bekommen, was sie Spaß nennen.

    Nachdem sich Daisy angegurtet hat, gewinnt das noble Gefährt rasch an Geschwindigkeit. Schwere Schwaden ihres betörenden, exotisch duftenden Parfums umnebeln den Freier. Daisy verliert nicht viele Worte. Zum Geschäftlichen würde sie später kommen. Zunächst geht es darum, den Appetit ihrer Kundschaft zu steigern. In dem breiten Ledersitz ihre langen Beine kreuzend, schiebt sich der Minirock bis in die Beuge ihrer Hüften nach oben, den vielversprechenden Anblick auf die exquisite Unterwäsche in knallroter Spitze freigebend. Wie auf die einladende Menükarte eines vorzüglichen Restaurants wirft der Fahrer ungeniert einen ersten Blick auf das, was ihm schon bald seinen Heißhunger stillen wird, während er mit der Zunge über seine feucht gewordenen Lippen wischt.

    „Gibt es einen bestimmten Ort für dich?", fragt Daisy.

    „Hast du was anzubieten?"

    Aus ihrer schwarzen Ledertasche holt sie einen Schlüssel heraus, der an einem mit unzähligen Glitzersteinchen verzierten D baumelt. Wie mit dem Spielzeug für eine Katze schwingt sie damit hin und her, bevor sie sagt: „Circa dreihundert Meter von hier. Eine kleine Pension. Da vorne rechts rein."

    Mit sanftem Druck auf das Gaspedal beschleunigt der Fahrer den Wagen, dem damit ein tiefes Brummen entlockt wird.

    5

    Sam wischt hastig mit einem nassen Lappen den frei gewordenen Tisch ab. Dann holt er eine weiße Tischdecke aus der Schublade und breitet sie ganz nach der Manier eines geübten Kellners aus. In einer schlanken Vase platziert er eine rote Nelke mit etwas Grün in die Mitte des Tisches. Darauf folgt das Gedeck. Rechts je ein Wasser- und ein Weinglas, links einen kleinen Teller für das Jour-Gebäck. Sam beeilt sich sichtlich, denn der Kunde, der jeden Tag erscheint, wird in wenigen Minuten eintreffen und er möchte ihn nicht an den unfertigen Tisch setzen. Mit dem letzten Handgriff schiebt sich die Schiebetür zur Seite und ein hagerer Mann mit Hut rollt in das Bistro.

    Aufrecht wie ein Haftrichter sitzt Adi Finder in seinem Rollstuhl, als er in das Lokal kommt. Kurz bleibt er zwischen zwei Tischen stehen, um dann mit wenigen abgehackten Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen – einem argentinischen Tangotänzer gleich – an ihnen vorbei zu navigieren. Noch bevor er seine Jacke abstreift, die an der Rückenlehne seines rollbaren Gefährts hängen bleibt, zwängt er sich an die für ihn bereitete Tischseite. Seinen Hut schiebt er in den Nacken. Als er endlich in seiner gewünschten Position ruht, schnippt Adi Finder kurz, aber laut mit den Fingern.

    „Kommt sofort", ertönt es vom Tresen, wo Sam mit dem Kassieren des Tankgeschäftes zu tun hat.

    Sam kennt Finders Wünsche auswendig, aber sein Gast legt Wert auf Etikette, weshalb er ihn selbst noch nach Wochen jedes Mal nach seiner Bestellung fragt.

    „Was darf ich Ihnen bringen, mein Herr?"

    „Hast du noch etwas von dem Braida, Barbera d’Asti? Von dem Fläschchen um zweiundfünfzig?"

    „Nicht von dem um zweiundfünfzig, druckst Sam verlegen herum, „aber von dem um einundsechzig.

    „Also gut, ein Gläschen von dem. Und du weißt, ich brauche kein Wasserglas."

    Sam hebt mit einem leichten Grinsen die Schultern und entfernt das Glas.

    „Und zu essen, mein Herr?"

    „Das Übliche", antwortet der Mann im Rollstuhl. Das Übliche ist ein Teller mit verschiedenen kalten, italienischen Vorspeisen, die Sam gekonnt anrichtet und mit zwei Scheiben Ciabatta serviert.

    Adi Finder kommt seit einiger Zeit täglich ins Stop & Go. Dabei verlangt er immer denselben Tisch und dieselben Getränke und Speisen. Weder vertreibt er sich die Zeit mit Lesen, noch spielt er mit anderen Gästen Karten – wie er kaum mit jemandem spricht. Adi Finder kommt, bestellt, speist und geht. Er zählt keineswegs zu den unangenehmen Gästen, wenngleich er trotz seiner täglichen Besuche stets eine gewisse Unnahbarkeit ausstrahlt. Das, was er an Lob für Sams höfliche Umsichtigkeit einspart, wendet er großzügig an Trinkgeld auf, sodass er zu jenen Gästen gehört, die durchaus gerne gesehen sind.

    Mit einem beinahe unmerklichen Nicken nimmt Finder seine Bestellung entgegen. Nach einer kurzen Probe des Weines, den er wie üblich für gut befindet, starrt er essend aus dem Fenster auf die hastige, mobile Welt, wo sein Blick von dem abendlichen Treiben im Haus gegenüber gefesselt wird.

    6

    „Französisch, mit Blasen, mit Gummi, eine Halbe oder eine Ganze?" Nüchtern wie eine Eisverkäuferin, die vom Sommergeschäft schon etwas müde ist, bietet Daisy ihrem Neukunden das Repertoire ihrer Dienste an.

    „Wie viel ist eine Ganze?"

    „Zweihundertfünfzig, mit Gummi."

    „Wie ist es mit Sadomaso?"

    „Eine Ganze, vier Riesen."

    Das kurze, bestätigende Nicken des Freiers genügt Daisy, um es als Übereinkommen zu verstehen. Sie zieht unter dem Bett, dem einzigen Möbelstück im Raum, eine Reisetasche hervor, öffnet sie und noch ehe sich ihre Kundschaft der eleganten Kleidung entledigen kann, um nackt in die Schattenidentität einzutauchen, hält die Domina eine Ledergerte in der Hand. Schnalzend klatscht sie das siebenendige Gezieme ihrem Sklaven entgegen, sodass er jäh vor ihr zu Boden geht.

    Als hätte sie ihr grundsanftes Gemüt mit den Alltagskleidern in die Sporttasche gepackt, zeigt sich Daisy nun als gebieterische Herrin über ihrem erbarmungswürdigen Knecht. Von ihrem Beruf als Krankenschwester weiß sie, wie viel Schmerz ein Mensch bereit ist zu ertragen, wenn das peinigende Gefühl Befriedigung verspricht. Sie weiß auch, dass die Intensität der Qual in einem direkten Verhältnis zur Lust steht, sodass der davon Abhängige ständig nach mehr lechzt.

    Die Domina streckt dem sich kindlich Unterwerfenden die roten High Heels unter das Gesicht, damit er seiner Herrin die Füße küsst.

    Ihre anfängliche Hemmung, Freiern den gewünschten Liebestorturen auszusetzen, hat sie mit den Jahren abgelegt, wie sie sich auch als Schwesternschülerin daran gewöhnte, Patienten für eine gewisse Dauer wenig mitleidvoll einer schmerzhaften Behandlung zu unterziehen. Bedenkenlos ist sie im Stande, das zu bieten, was von ihr verlangt wird, ohne auch nur im Geringsten von echten Gefühlen geleitet zu werden. Die zu einem Wimmern unterdrückten Schmerzensschreie des Mannes lassen sie an das gequälte Stöhnen der verletzten Patienten erinnern, das sie beim schmerzhaften Einrenken eines Knochenbruchs von sich gegeben haben. Unbarmherzig ist Daisy bereit, ihrem Freier die gewünschte Marter zu verpassen.

    „Na, du warst wohl unartig, droht sie dem Knecht zynisch, während sie ihn an den Fesseln zerrt. „So etwas duldet deine Herrin nicht. Du wirst dich bei mir entschuldigen, befiehlt sie ihm, während sie die Geißeln der Gerte auf ihn niederfahren lässt.

    Dem strengen Gebot folgend, bittet er umgehend und unterwürfig wie ein kleines Kind um Verzeihung. Denn was wie eine Szene eines Laientheaters aussieht, entspricht für den Freier einer ernstzunehmenden Wirklichkeit. Als würde Leben oder Tod davon abhängen, beugt er sich widerstandslos den Befehlen seiner Domina.

    Für Daisy hingegen ist es schlicht ein Geschäft, das auf Angebot und Nachfrage beruht. Quasi als besonderes Offert, um auf die Veränderungen des Marktes zu reagieren, hat sie Sadomaso vor einiger Zeit in ihr Repertoire aufgenommen. Obwohl das Gewerbe gerade in den letzten Jahren starken Umbrüchen ausgesetzt ist, indem neue, sehr junge, nicht selten minderjährige Mädchen aus dem Ausland monatlich den Markt überschwemmen, kann sich Daisy nach wie vor als Alteingesessene behaupten.

    Als Dagmar Weinerl alias Daisy vor einem halben Jahrzehnt mit dieser Arbeit begonnen hat, um sich aus einer drohenden Schuldenfalle zu kämpfen, konnte für Liebesdienste noch ein guter Lohn verlangt werden. Heute schuften die Mädchen zu Dumping-Preisen und müssen von der hart verdienten Kohle das meiste abliefern. Diesem Diktat wollte und will sie sich nicht unterwerfen. Für sie war und ist immer klar, dass sie nur in die eigene Tasche arbeitet.

    Wie auf ein vereinbartes Zeichen hin beendet sie das Spiel der erotischen Knechtschaft. Erschöpft, aber sichtlich zufrieden verwandelt sich der unbekannte Freier zurück in den Mann von Welt. Wieder in seinen Kleidern greift er in seinem Jackett nach seiner Geldbörse, um sechs große Scheine herauszuholen, die Daisy ungezählt nimmt und in ihre Tasche steckt.

    „Wenn es für dich gut war, weißt du jetzt ja, wo du mich findest", bietet sie sich für ein nächstes Mal an.

    Mit einem knappen „Okay" öffnet der Mann die Tür und lässt

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