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Der rote Brunnen: Seligenstädter Krimi
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eBook520 Seiten6 Stunden

Der rote Brunnen: Seligenstädter Krimi

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Über dieses E-Book

Am "Roten Brunnen" wird die Leiche von Marina Leistner gefunden – erstochen.
Der Mord gleicht den Wochen zuvor begangenen Tötungen an zwei Frauen im Kreis Offenbach. Weil jedoch der geistig verwirrte Mann festgenommen und wieder in die psychiatrische Klinik zurückgeführt werden konnte aus der er entflohen war, gehen die Erste Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihr Team davon aus, es mit einem Nachahmungstäter zu tun zu haben. Bleibt die Frage, woher er detaillierte Kenntnisse hatte, die nie veröffentlicht worden waren?
Erneut rückt das Personal der Klinik in den Fokus der Ermittlungen, ebenso der Ehemann des Opfers. Auskünfte über ein gut gehütetes Geheimnis liefert Katrin Jäger, die Freundin von Marina.
Aber auch die selbst ernannte Senioren-Soko, unter der Leitung von Helene und Herbert, sind im Besitz dieser Information. Als Katrin Jäger einen Tag später überfallen und dabei fast zu Tode kommt, steht fest: Sie sind auf der richtigen Spur. Voller Elan stürzen sie sich in ihre weiteren Ermittlungen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Sept. 2020
ISBN9783752915150
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    Buchvorschau

    Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig

    Die Geschichte zum „Der rote Brunnen"

    In Seligenstadt wurde der erste Marktplatzbrunnen schon im Jahre 1588 errichtet. Mehrere öffentliche und viele Hausbrunnen folgten im Laufe der folgenden Jahrhunderte.

    Der „Rote Brunnen" war einer der öffentlichen Brunnen. Bei der Seligenstädter Bevölkerung nimmt er einen besonderen Platz ein, ranken sich doch um ihn schöne Geschichten und Anekdoten.

    So wird den kleinen Schlumbern (Seligenstädter Kinder) erzählt, dass ihre Mütter Wasser aus dem „Roten Brünnche getrunken hätten, damit der „Storch Adebar ihnen ein Baby bringt – aber nur, wenn die Eltern genügend Zuckerstückchen auf ihre Fensterbank gelegt hatten.

    Ein Schild, vor einem Fachwerkhaus in der Großen Maingasse zeigt besagten Storch sowie den Weg zum „Roten Brunnen".

    Der Storchenschnabel als Wasserspeier am Sandsteinbecken des Brunnes unterstreicht diese Aussage zusätzlich. Ebenso wie die zwei, sich rechts und links am Wasserablauf emporhangelnden, gleichfalls aus Sandstein modellierten, nackten Babys.

    Mär oder Wahrheit? Die Entscheidung darüber bleibt jedem selbst überlassen!

    Einem Bericht von Lokalhistoriker Seibert, soll das Wasser des „Roten Brunnens" in früherer Zeit sogar als heilsam gegolten haben.

    Im Jahre 1607 brach in Aschaffenburg und der Mainzer Region die Pest aus, weshalb Johann Schweikhard von Kronberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz mit seinem ganzen Hof nach Seligenstadt übersiedelte, das von der Seuche verschont geblieben war. Auf Anraten seiner Ärzte trank er das Wasser des „Roten Brunnens" und blieb, mit seinem gesamten Gefolge, wohlbehalten.

    Der rote Brunnen

    Prolog

    Gleißendes Licht fiel durch vergitterte Fenster. Staubpartikel schwebten auf langen, fingerartigen Sonnenstrahlen durch den Raum; nur hin und wieder unterbrochen, durch sich geisterhaft bewegende Gestalten, entrückt jeglicher Realität. Der Geruch von Kamillentee und Desinfektionsmittel lag in der Luft und – eine unterschwellige Unruhe und Furcht.

    Blumen oder auch nur eine Grünpflanze, hätten dieser Tristesse womöglich den Anschein von Lebendigem vermittelt. Doch derartiges Schmuckwerk suchte man hier vergebens.

    Neun quadratische Metalltische, exakt angeordnet in Dreierreihen und im mausgrauen Linoleumboden verankert, mit jeweils zwei gegenüberstehenden Stühlen waren die einzigen Möbelstücke.

    Drei in weiß gekleidete, kraftstrotzende Männer, deren Augen unentwegt durch den kahlen Raum glitten, unterhielten sich leise.

    An einem der Tische saßen sich zwei Männer gegenüber. Minutenlang stierten sie bewegungslos auf ein leeres, auf der Tischplatte aufgemaltes und kaum noch erkennbares Schachbrett. Einer der beiden streckte seine Finger aus und platzierte eine imaginäre Figur außerhalb des Spielbrettes.

    „Schachmatt."

    Sein Mitspieler blickte erbost auf. „Das war ein Springer. Du kannst mit einem Springer kein Schachmatt herbeiführen."

    „Das war der König. Hast du keine Augen im Kopf?"

    „Und ich sage, es war der Springer, beharrte der andere. „Ich hab’s genau gesehen. Du bist ein Betrüger!

    Beide sprangen gleichzeitig auf. Ihre Stühle kippten nach hinten. Hart aufschlagendes Metall zerteilte die bislang trügerische Stille.

    Eine Frau in einem rosafarbenen Morgenmantel – sie hatte pausenlos das gleiche Kinderlied gesummt – verstummte. Sie presste ihre Puppe an sich und flüsterte mit ängstlicher Stimme: „Aufhören, bitte seid doch leise, meine Tochter schläft." Sie lehnte sich an die Wand, ging in die Hocke und wiegte sich und die Puppe sanft hin und her.

    Währenddessen schrie ein kleiner, hutzeliger Mann in Filzpantoffeln und in einem, ihm viel zu großen rotblau gestreiften Bademantel hysterisch: „Dämonen! Die Dämonen! Sie sind wieder da. Er schlurfte auf die beiden Schachspieler zu und hob abwehrend seine Hände. „Weiche, Satan! Ich befehle es dir.

    Zwei der Weißgekleideten stürzten herbei. Eine Minute später kehrte wieder diese friedlose Ruhe ein. Die Injektionen taten ihre Wirkung und die beiden Verursacher des kurzen Aufruhrs setzten sich und glotzten erneut mit entrücktem Gesichtsausdruck auf die Tischplatte.

    Aus der entgegengesetzten Ecke des Raums ertönte ein keckerndes Lachen. Der Mann – ein Hüne von 1,89 Meter – kauerte auf dem Fußboden und hielt seine Beine umschlungen. Trotz seines glasigen Blicks hatte es den Anschein, als amüsierte er sich.

    ***

    Philipp Keilmann hörte und sah nichts von dem, was sich ein Stockwerk tiefer ereignete. Trotzdem wusste er, was sich dort unten abspielte. Er selbst hatte es, während der ersten Tage seines Aufenthalts in der Klinik, erlebt. Vierunddreißig Tage war es jetzt her; vorausgesetzt er konnte sich auf die Aussage seiner Ärztin verlassen.

    Der Aufenthaltsraum, in dem er sich befand, war mit Holztischen und Holzstühlen ausgestattet. Bilder an den Wänden, mit abstrakter Malerei, sollten eine angenehme Stimmung erzeugen und die psychische Situation erträglicher machen; ebenso die vor sich hin blubbernde Kaffeemaschine auf dem Tresen und die kleinen süßen Törtchen, die jeden Nachmittag bereitstanden.

    All das konnte Philipp nicht wirklich vergessen lassen, wo er sich befand und … warum.

    Auch jetzt tauchten wieder nebulöse Gedankenfetzen vor seinem geistigen Auge auf, ergaben aber noch immer kein Gesamtbild; jedenfalls keines das ihm erklärte, weshalb er auf dem Dach der Commerzbank gestanden hatte und wie er dort hingelangt war. Erst lautes Stimmengewirr und wild gestikulierende Menschen hinter ihm, hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgebracht – ihn erschrocken umsehen lassen – in der Hoffnung, dass die Aufmerksamkeit nicht ihm galt. Außer ihm stand da aber niemand an der Ummauerung.

    Nun schüttelte er den Kopf und die Erinnerungsfetzen verteilten sich. Er blickte hinaus auf die sorgfältig gemähte Rasenfläche und auf die zwei Frauen auf der Bank, am Rande des Kieswegs. Die Jüngere strich immerfort über die Hände der Älteren. Deren Blick war jedoch starr nach vorn gerichtet. Philipp wusste, die alte Frau lebte in ihrer eigenen Welt. Nur hin und wieder erlaubte sie Außenstehenden einen kurzen Einblick. Vor zwei Tagen hatte er die Ehre. Danach war er sehr traurig; während die alte Frau in ihr für sich geschaffenes Universum zurückkehrte und lächelte.

    „Philipp, Doktor Scherer erwartet Sie."

    Philipp zuckte zusammen.

    „Ist alles in Ordnung?", fragte der Weißgekleidete mit ernster Miene.

    „Ja, ja. Ich war nur in Gedanken, antwortete Philipp. „Alles bestens.

    Claudia Scherer begrüßte Philipp mit einem strahlenden Lächeln und bat ihn mit einer Stimme, bei der Philipp an dunkelroten Samt denken musste, auf ihrem bequemen Sofa Platz zu nehmen, während sie sich, ihm gegenüber, in einen Sessel setzte.

    Ihre bloße Gegenwart gab ihm ein sicheres Gefühl. Wogegen ihm alles andere um ihn herum Angst machte. In manchen Momenten fragte er sich, ob er wohl so enden würde wie die beiden Schachspieler? Hätte er die Wahl, so wäre ihm das Schicksal der alten Dame schon lieber; lächelnd in einer anderen Welt gefangen.

    „Sie haben enorm gute Fortschritte gemacht, Philipp, begann Claudia Scherer das Gespräch. „Ich denke, in etwa einem Monat können Sie uns verlassen.

    „Oh, schon?" Philipp traf diese Nachricht völlig unvorbereitet. Sein Herz klopfte stark.

    „Ja, freuen Sie sich denn nicht?" Claudia Scherer beugte sich vor. Der dezente Duft ihres Parfüms vermittelte Philipp ein Gefühl des Geborgenseins. Ganz anders als die Gerüche, die durch die abscheulichen Gänge und Räume der Anstalt waberten und eine seelenlose Atmosphäre verbreiteten.

    Sie stand auf und setzte sich neben ihn.

    „Sie sind wieder gesund. Es war nur eine, nennen wir es, Fehlinformation in Ihrem Gehirn. Natürlich müssen Sie noch, bis auf weiteres, ihre Medikamente nehmen."

    Ganz beiläufig ergriff sie Philipps Hand „Sie zittern. Ist Ihnen nicht gut?"

    „Eh … nein", stotterte Philipp. Wie hätte er ihr sagen können, dass er sich, seit seinem ersten lichten Augenblick, in diese grünblauen Augen, mit denen sie ihn jetzt ansah, verloren hatte. Solche Augen, deren grün schimmernde Pupillen mit einem fast dunkelblauen Rand umgeben waren, hatte er zuvor noch niemals gesehen.

    Er senkte den Blick und murmelte: „Ich ... ich dachte nur, ich wäre noch nicht soweit."

    „Denken Sie das oder hoffen Sie es, Philipp?"

    Er erschrak. War er so leicht zu durchschauen? Er kam sich vor wie ein Teenager, der seiner ersten großen Liebe gegenüber saß und nicht wusste, was er nun tun sollte.

    Natürlich wollte er raus, aus dieser Stätte des Wahnsinns und das so schnell wie möglich, bevor er selbst zu einem Teil dieses Tollhauses werden würde. Aber wie sollte sein Leben dort draußen weitergehen – ohne sie? Darüber zerbrach er sich in manchen Nächten den Kopf. Auch wollte er nicht wieder in seinen alten Job zurück; was ohnehin nicht möglich wäre, denn kein Bankhaus würde einen Mann einstellen, der das Geld anständiger Sparer verspekuliert hatte, wenn auch nur auf Anweisung seines Vorgesetzten. Doch das hatte ihm vor Gericht schon niemand geglaubt und beweisen konnte er es nicht.

    Das Gegenteil war der Fall: Die Beweise gegen ihn waren zu belastend und genutzt hatte es letztendlich den Opfern auch nicht. Ihr Erspartes war futsch. Nur einen geringen Anteil zahlte ihnen die Bank aus, sozusagen als Wiedergutmachung. In erster Linie jedoch, um den Imageverlust zu begrenzen.

    Hingegen sah er, Philipp, sich einem unbarmherzigen Blitzlichtgewitter und Buhrufen ausgesetzt, als er das Gerichtsgebäude verließ.

    Gerade in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Finanzwirtschaft mehr als angeschlagen war, hofften viele der geprellten Anleger auf ein Urteil, das wenigstens ihr moralisches Weltbild wieder ins Gleichgewicht brachte. Stattdessen erhielt Philipp nur eine Bewährungsstrafe. Ein Affront gegenüber den Betrogenen, wie viele meinten, und für die Presse ein gefundenes Fressen.

    „Philipp? Ihre samtene Stimme und der Druck ihrer Hand brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück. „Sie sorgen sich, wie die Welt dort draußen Sie aufnehmen wird, stimmt’s? Und Sie machen sich gewiss Gedanken, wie Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen sollen?

    Philipp nickte.

    „Ja, das verstehe ich. Die Psychotherapeutin stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. „Ich habe mit einem guten Bekannten gesprochen. Er ist Immobilienmakler in Seligenstadt und sucht einen zuverlässigen Mitarbeiter. Hier. Sie reichte Philipp eine Visitenkarte. „Ich habe ihm erzählt, dass Sie sich beruflich verändern möchten. Das ist ja nicht einmal gelogen, nicht wahr? Wenn Sie wollen, könnten Sie am nächsten Ersten in seiner Agentur anfangen."

    Philipp schaute auf die Karte.

    Dr. Claudia Scherer bemerkte sein Zögern. „Nun ja, ich weiß, es ist nicht gerade ein Traumjob für jemanden der …"

    „Nein, nein, warf Philipp ein. „So meinte ich das nicht. Es ist nur – ich verstehe nichts von Immobilien.

    „Sie verstehen etwas von Zahlen und haben keine Probleme im Umgang mit Menschen. Das sollte genügen."

    „Haben Sie ihm erzählt, dass ich …?"

    „Was? Dass Sie einer meiner Patienten sind? Aber nein, Philipp; wo denken Sie hin. Sie wissen doch … die ärztliche Schweigepflicht."

    Natürlich hatte sie nichts erzählt, verwarf Philipp seine panischen Gedanken. Das würde Claudia niemals tun.

    Er hatte nicht angenommen, dass sein Wiedereinstieg in die Welt dort draußen so bald erfolgen würde – schon gar nicht in beruflicher Hinsicht. Er war mehr als überrascht.

    „Nun, was sagen Sie? Wäre das eine Perspektive für ein neues Leben?"

    „Danke."

    „Soll das ein JA bedeuten?"

    Philipp nickte erneut.

    „Na fein. Dann wäre das auch geklärt." Dr. Claudia Scherer nahm wieder neben Philipp Platz.

    „Und keine Sorge. Ich werde auch weiterhin über Sie wachen. Ich muss es sogar. Sie werden einmal wöchentlich in meine Sprechstunde kommen müssen."

    Philipp hob langsam den Kopf. Von müssen kann keine Rede sein, dachte er.

    Sonntag – 13. Mai 2018 / 09:35 Uhr

    Zwischen den Ritzen der heruntergezogenen Rollos drängte die Sonne in den Raum. Nicole Wegener blinzelte ins Halbdunkel des Schlafzimmers. Schon seit Wochen hatte sie nicht mehr so gut geschlafen und rekelte sich in ihrem Bett.

    Der Fall „Hausfrauenmörder" hatte die Soko in Atem gehalten; ganz besonders sie selbst. Zum ersten Mal, seit sie Anfang des Jahres zur Ersten Kriminalhauptkommissarin ernannt worden war, musste sie eine Soko anführen und wollte … nein, durfte sich keine Fehler erlauben. Das zehrte gewaltig an ihren Nerven. Entsprechend beeinflusste ihre Nervosität ihre Partnerschaft.

    Zum Glück war Andreas Dillinger sehr verständnisvoll. Als Kriminalhauptkommissar – früher ebenfalls an vorderster Front, bis er sich nach einem Dienstunfall freiwillig ins Archiv des Polizeipräsidiums versetzen ließ – wusste er von der körperlichen … aber mehr noch der psychischen Belastung, die ein solcher Mord mit sich bringen konnte.

    Aber jetzt war der Täter gefasst. Obwohl, gefasst war vielleicht das falsche Wort. Er saß wieder in der psychiatrischen Klinik, aus der er zuvor geflohen war. Aber das Motiv blieb, nach wie vor, unklar.

    Seine Opfer – zwei Frauen – legte er stets an öffentlichen Plätzen ab.

    Die erste Leiche fanden Kirchgänger am 16. April, einem Sonntagmorgen, auf den Stufen der Christuskirche in Offenbach. Wenige Tage danach erfolgte der zweite Mord.

    Ein Mann, der gegen 22 Uhr 45 noch eine späte Runde drehte, beobachtete am Wegkreuz in Flörsheim, wie der Täter sich mit einem Messer über die Frau beugte. Auf sein Zurufen wäre der nicht einmal erschrocken, sondern setzte sich gemächlich in Bewegung und verschwand in Richtung Rathausplatz.

    Der Passant rief die Polizei. Als diese, keine zehn Minuten später, eintraf und den näheren Bereich absuchte, fand sie einen Mann auf einer Bank sitzend. Er ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen. Das blutverschmierte Messer hielt er noch in der Hand.

    Beiden Frauen war, mit aufgefundenem Messer, in den Unterbauch gestochen worden. Das war vorerst die einzige Gemeinsamkeit und – die über dem Bauch gefalteten Hände, in die jeweils ein Rosenkranz gewickelt war.

    Die Frauen unterschieden sich sowohl von der Haarfarbe als auch vom Typ, sodass man nicht von einem bestimmten Beuteschema ausgehen konnte. Ein sexueller Übergriff konnte ebenfalls ausgeschlossen werden.

    Das erste Opfer – eine 35-jährige Frau – verheiratet und kinderlos. Die zweite Frau war 39 Jahre alt; ebenfalls verheiratet, Hausfrau und Mutter von zwei Kindern im Alter von 12 und 16 Jahren.

    Die Vernehmung des mutmaßlichen Täters – er nannte sich Michael Lambrecht und hatte keinerlei Ausweispapiere bei sich – gestaltete sich schwierig. Auf die Beamten machte er einen verwirrten Eindruck.

    Ein sofort durchgeführter Drogentest und eine spätere Blutentnahme ergaben, dass der Mann keine bewusstseinshemmenden Substanzen eingenommen hatte; Alkohol konnte auch ausgeschlossen werden.

    Auf die Frage, welchen Bezug er zu den Frauen hatte, antwortete er nur: „Gott gab mir den Auftrag sie zu töten, um ihre Seelen zu retten."

    Das absonderliche Verhalten des Mannes erklärte sich, als eine psychiatrische Einrichtung, in Hofheim/Taunus, die Abwesenheit eines Patienten anzeigte. Wie sich herausstellte, handelte es sich um besagten Michael Lambrecht.

    Wie der Mann aus der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie entkommen konnte, konnte niemand erklären. Auch die Aufzeichnungen der Überwachungskameras an den Eingängen ergaben keinen Treffer.

    Die Befragung der Angestellten, sowie des Pflegepersonals und der Ärzte brachten keine hinreichenden Indizien für einen Durchsuchungsbeschluss; weshalb der Richter, nach dem vorgelegten Gutachten der psychologischen Leiterin der Institution, Dr. Claudia Scherer, schnell zustimmte, den Mann wieder in deren Obhut und somit in die Anstalt zurückzuführen.

    Begründung: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen, nach § 20 STGB und § 21 STGB. Ein gesondertes Verfahren sollte klären, inwieweit eine Verletzung der Aufsichtspflicht der zu betreuenden Personen vorlag.

    Weiterhin blieb offen, woher Lambrecht die Wohnorte seiner Opfer kannte und deren Vorleben. Beide Frauen hatten im jugendlichen Alter eine Abtreibung vornehmen lassen.

    Letztlich ein alles andere als befriedigendes Resultat, weder für die Kriminalkommissarin, noch für die Angehörigen der Opfer. Alle hätten es lieber gesehen, wenn die Morde endgültig aufgeklärt worden wären und der Mörder lebenslänglich ins Gefängnis gekommen wäre.

    Nicoles Hand tastete zur Seite … leer. Demnach standen die Chancen auf ein ausgiebiges Frühstück nicht schlecht. Das leise Klappern von Porzellan gab ihr recht.

    Vielleicht ein schöner Spaziergang durch den Klostergarten und am Main entlang? Oder auch nur chillen …? Mal sehen, was sich so ergibt.

    Mit diesen Gedanken öffnete sie die Schlafzimmertür und schon waberte der Duft von Kaffee und anderen Köstlichkeiten um ihre Nase.

    „Guten Morgen, mein Schatz, wurde sie von Andy begrüßt. „Gut geschlafen?

    „So gut wie schon lange nicht mehr", erwiderte Nicole und legte ihre Arme von hinten um die Taille ihres Lebensgefährten.

    Über seine Schulter auf die Pfanne blickend fragte sie: „Was zauberst du da? Das riecht köstlich."

    „Eier und Speck, Würstchen, gebratene Champignons, Tomaten. Ein fast perfektes Schottisches Frühstück. Aber, Black Pudding magst du ja nicht."

    „Nein, bloß nicht. Angewidert verzog Nicole das Gesicht. „Wer isst schon zum Frühstück gebratene Blutwurst? Welcher vernünftige Mensch isst überhaupt gebratene Blutwurst?

    „Wurstähnliche Gerichte aus Blut sind so alt wie die Menschheit. Erste schriftliche Zeugnisse eines ähnlichen Gerichts finden sich im Jahr 800 vor Christus in der Odyssee von Homer.

    Gerade in der armen Bevölkerung hatte man sehr darauf geachtet, sämtliche Teile eines geschlachteten Tieres zu verwenden, auch das Blut. Ob Blutwurstprodukte allerdings von den Römern bei ihrer Eroberung Europas verbreitet wurden oder ob die Mauren es nach Frankreich brachten und von dort nach England oder einen ganz anderen Weg auf die britische Insel fanden, ist kaum noch endgültig zu klären. Fest steht … in England war Black Pudding regelmäßiges Frühstück des Königs Henry VIII, wenn er große Bankette am Hampton Court abhielt."

    Nicole zog die Stirn in Falten. „Du weißt aber schon, dass er zwei seiner sechs Ehepartnerinnen hinrichten ließ? Lag vielleicht am Black Pudding."

    „Ist ja schon gut. Andy hob abwehrend die Hände. „Bevor du mir den Kopf abschlägst … Kaffee ist fertig. Koffein bringt dich hoffentlich auf andere Gedanken.

    Nicole nippte kurz an dem schwarzen heißen Getränk und verschwand im Badezimmer.

    Zehn Minuten später saßen die beiden gut gelaunt am Frühstückstisch, bei offener Terrassentür. Die Sonne wärmte mit bereits 20 Grad, wie das digitale Thermometer an der Außenwand anzeigte, und es sollte am Nachmittag noch wärmer werden.

    „Wie wäre es mit einem Spaziergang? Ich dachte an Altstadt, Klostergarten und vielleicht ein Eis?", versuchte Andy seine Partnerin zu locken.

    „Zwei Dumme, ein Gedanke, erwiderte Nicole lächelnd. „Hatte ich auch schon in Erwägung gezogen.

    „Nicht nur zwei Dumme, widersprach Andy. „Helene rief an, ob wir nicht Lust auf einen Spaziergang hätten. Später würde Herbert gerne die Grillsaison eröffnen.

    „Hört sich gut an. Klar, machen wir. Wann?"

    „Ich habe gesagt, das macht ihr Mädels unter euch aus."

    Nicole nahm sofort ihr iPhone zur Hand. Sie freute sich, mit ihrer mütterlichen Freundin und deren Lebensgefährten ein paar schöne Stunden verbringen zu können. Viel zu lange hatten sie sich schon nicht mehr gesehen.

    Ein paar Sekunden später meldete sich Helene.

    „13 Uhr 30 passt gut … Ja, auf jeden Fall, Steak ist prima … Ok, bis dann."

    Sonntag / 14:20 Uhr

    „Welche Bedeutung haben die Kinderfiguren beidseits am Stein; dort, wo das Wasser herausfließt?", fragte Andy.

    Die vier saßen, mit je einem Eis in der Hand, auf der Bank gegenüber des „Roten Brünnchens".

    „Des hat mit den Seligenstädter Babys zu tun, antwortete Herbert verschmitzt. „Wenn die Frau, die ein Kind habe will, des Wasser aus dem Brunne trinkt und danach Würfelzucker auf die Fensterbank legt, bringt der Storch bald ein Baby.

    „So einfach ist das?" Nicole lachte.

    Ein etwa fünfjähriges Mädchen blieb vor dem Brunnen stehen und beugte sich zu den Sandsteingebilden. Dann drehte sie sich um, blickte Herbert direkt ins Gesicht und schüttelte dabei ihre langen blonden Haare.

    „Du bist schon so alt und weißt nicht, dass die Babys aus Mamis Bauch kommen?"

    „Bist du dir da ganz sicher?, fragte Herbert todernst. „Also, bei uns in Seligenstadt müssen die Mamis aus dem Brunnen trinke. Des ist nämlich ein ganz besonderes Wasser. Hat dem Kurfürst Schweikert auch schon geholfe. Der hat vor ganz langer Zeit gelebt.

    „Wollte der auch ein Baby?", fragte das Mädchen; jetzt doch etwas verunsichert.

    „Nee. Der hat nur Angst gehabt, dass ihn die Pest erwischt."

    „Melina! Eine unübersehbar schwangere Frau eilte heran. „Entschuldigen Sie bitte, wandte sie sich an Herbert. „Meine Tochter ist immer so neugierig."

    Der winkte ab. „Is schon gut."

    „Was ist die Pest", wollte Melina wissen und blieb, wie angewurzelt vor Herbert stehen.

    „Des war eine ganz schlimme Krankheit. Die gibt’s aber heut net mehr."

    Das Mädchen schaute argwöhnisch zu ihrer Mutter, dann wieder zu Herbert. „Meine Mama hat ganz bestimmt nicht aus dem Brunnen getrunken; wir sind nicht von hier. Aber, meinst du, ich könnte trotzdem meinen Bruder, der noch da drin ist, sie deutete auf den Bauch ihrer Mutter, „hier abgeben? Vielleicht möchte eine andere Mama den haben.

    „Melina!", rief die Mutter erschrocken.

    Herbert lächelte, schüttelte aber gleichzeitig energisch den Kopf. „Nein, des geht auf gar keinen Fall. Ihr kommt ja net von hier."

    „Mist", hörten Herbert und die anderen noch, während die Mutter alle Mühe hatte, ihre Tochter hinter sich herzuziehen.

    „Die Kleine hast du jetzt aber ganz schön an der Nase herumgeführt", sagte Helene und schmunzelte.

    „Net ganz. Des mit dem Kurfürsten stimmt …ist schriftlich hinterlegt", entgegnete Herbert.

    Sonntag / 17:45 Uhr

    Der Anruf kam nicht direkt überraschend. Trotzdem hatte Dr. Jochen Rössner gehofft, wenigstens am Sonntag mal Ruhe zu haben. Er seufzte.

    Seit Michael Lambrecht zurück in der „Geschlossenen" war, stand er permanent unter speziellen starken Arzneimitteln; dennoch kam er nur stundenweise zur Ruhe.

    Nun hatte er einen der Pfleger angegriffen und dessen herbeigeeilten Kollegen hatten ihre Mühe, den 35 Jahre alten, fast 1 Meter 90 großen und kräftigen Mann zu bändigen.

    Auch wenn Dr. Rössner es weitgehend vermeiden wollte, in diesem Fall würde er wohl nicht umhinkönnen, den Patienten in einem Kriseninterventionsraum – volkstümlich Gummizelle genannt – zu verwahren.

    Bevor er wegfuhr, schaute er noch kurz ins Schlafzimmer, wo Claudia, seine Frau, mit starken Kopfschmerzen im Bett lag. Leise schloss er die Tür hinter sich.

    Wenig später kam Dr. Rössner in der Klinik an und guckte in besagten Kriseninterventionsraum. In einer Ecke der Weichzelle kauerte Michael Lambrecht und starrte mit leeren Augen vor sich hin.

    „Wir mussten ihm die doppelte Dosis verabreichen", informierte Peter Foster, ein langjähriger Mitarbeiter der Einrichtung. „Ich verstehe das nicht. Er war doch früher, bevor er von hier abgängig wurde, nicht so. Jetzt brabbelt er ständig so Zeugs wie … nicht meine Schuld und böse Menschen vor sich hin. Wissen Sie, was er damit meinen könnte? Seine Opfer vielleicht?"

    Dr. Rössner schüttelte den Kopf. „Ich kann es mir auch nicht erklären. Auch nicht, weshalb die Medikamente nicht anschlagen. Wir machen nochmals einen TDM."

    Peter Foster eilte davon, um die erforderlichen Utensilien zu besorgen. Danach führte Dr. Rössner die Blutentnahme durch und reichte die Röhrchen dem Pfleger.

    „Schicken Sie die morgen früh als erstes ins Neurochemische Labor der Universitätsklinik in Mainz, damit wir in maximal 48 Stunden ein Ergebnis vorliegen haben und schauen Sie, in regelmäßigen Abständen nach Herrn Lambrecht. Wenn er sich in den nächsten Stunden noch immer ruhig verhält, bringen Sie ihn wieder in sein Zimmer. Ansonsten … Na ja, Sie wissen schon."

    Peter Foster nickte und Dr. Rössner ging noch schnell in sein Büro, wo er sich einige Notizen machte. Er musste mit Claudia über den Fall sprechen. Letztendlich war Michael Lambrecht, bis zu seinem Verschwinden aus der Klinik, ihr Patient gewesen und, nur aus rein juristischen Gründen und auf Anraten ihres Anwalts, hatte er sich um die weitere Behandlung von Lambrecht gekümmert.

    Sonntag / 19:15 Uhr

    Philipp Keilmann räumte die Reste seiner Pizza in den Kühlschrank. Danach stellte er die Teetasse in die Spüle und sammelte die Krümel vom Küchentisch und warf sie in den Abfalleimer. Er wunderte sich über sich selbst. Früher war er nie so ordentlich gewesen. Da kam es häufig vor, dass das Geschirr einer ganzen Woche in der Küche verteilt stand und er kaum noch ein sauberes Hemd im Schrank hatte.

    Wenn er jetzt seinen Kleiderschrank öffnete, hingen dort seine Hemden und Hosen auf Bügeln, die Shirts akkurat zusammengelegt im Regal und selbst seine Socken waren paarweise zusammengerollt.

    Früher, dachte er. Klingt, als sei es eine Ewigkeit her, und dennoch ist kaum ein halbes Jahr vergangen.

    Bereits vier Monate arbeitete er jetzt im Immobilienbüro und Bernd Maurer, der Inhaber, schien mit seinen Leistungen zufrieden. Aber, noch wichtiger war, Maurer stellte keine Fragen; genau wie Dr. Claudia Scherer es vorausgesagt hatte.

    Weder wollte Herr Maurer wissen, weshalb Philipp seinen vorherigen Arbeitsplatz aufgegeben hatte, noch weshalb er in psychotherapeutischer Behandlung gewesen war. Die kleine Wohnung, nahe der Seligenstädter Altstadt, verdankte Philipp ebenfalls seinem neuen Chef.

    Alles lief wie am Schnürchen. Fast alles. Wären da nicht noch immer diese Albträume und – was noch schlimmer war – die Stunden, die ihm fehlten … wo er nicht wusste, was zwischenzeitlich geschehen war.

    Im Normalfall stand er um sieben Uhr auf, machte sich fertig und kam zwischen halb neun und neun im Büro an, je nachdem ob ihm nach Einnahme seiner Tabletten übel wurde und er sich noch ein paar Minuten hinlegen musste.

    Es war aber auch schon passiert, dass er erst um zehn Uhr die Tür zur Agentur aufschloss, und nur weil sein Chef gerade an diesen Tagen einen Außentermin hatte, fiel sein Zuspätkommen nicht auf.

    Was in diesen Fehlstunden geschehen war – er konnte sich nicht erinnern, so sehr er sich auch anstrengte. Auch konnte er sich nicht erklären, wie er an die Orte gelangt war, an denen er wieder zu sich kam.

    Einmal stand er vor dem Brunnen im Klostergarten der ehemaligen Benediktinerabtei – ein anderes Mal befand er sich an der Fähre am Mainufer und letzte Woche kam er, auf der Treppe der Basilika sitzend, in die Gegenwart zurück.

    Waren es Anzeichen, dass er wieder in der Psychiatrie musste … in diese kalte, emotionslose Einrichtung, zu den apathisch dahinvegetierenden Menschen?

    Lange hatte er gezögert mit seiner Ärztin, Dr. Claudia Scherer, darüber zu sprechen. Als er sich letzte Woche doch dazu überwand, beruhigte diese ihn jedoch schnell.

    Jedem von uns wäre es doch schon mal passiert, dass er in Gedanken wahllos in der Gegend herumspaziert sei. Und, nach dem was er durchgemacht hatte, wäre das nicht verwunderlich und schon gar nicht besorgniserregend.

    Durchgemacht hatte Philipp wahrlich eine ganze Menge. Ohne Claudias Hilfe – wenn er an sie dachte, nannte er sie beim Vornamen – hätte er es niemals geschafft; davon war er überzeugt. Ein Grund mehr, weshalb er Angst hatte, irgendwann … vielleicht schon bald, ohne sie auskommen zu müssen. Er wusste selbst, dass dies ein Widerspruch in sich war. Einerseits wollte er diese dunkle Seite hinter sich lassen – andererseits fürchtete er sich vor einem Leben ohne sie.

    Die Gefühle, die er für Claudia Scherer mittlerweile empfand, gingen weit über das hinaus, was man eine Patienten-Therapeuten-Beziehung nennen mochte. Ihm war aber auch bewusst, dass es keine andere Beziehung geben würden … schon gar keine romantische.

    Claudia war verheiratet.

    Es wird Zeit, dass du dein Leben wieder selbst in die Hand nimmst, maßregelte er sich. Du bist ein erwachsener Mann von fünfunddreißig Jahren und kein pubertierender Teenager.

    Entschlossen ging er ins Schlafzimmer, tauschte seine Jogginghose und sein zerknittertes Shirt gegen eine Jeans und ein kariertes Kurzarmhemd. Im Flur warf er seinem Pendant im Spiegel ein Lächeln entgegen.

    Es gelang nur halbwegs.

    Die warme Abendluft trieb mehr Menschen aus ihren Häusern, als er angenommen hatte. Der Außenbereich des von ihm bevorzugten Restaurants war entsprechend voll besetzt oder nur noch einzelne Plätze an Tischen frei. Ihm war aber nicht danach, sich zu wildfremden Leuten setzen, weshalb er seinen Weg fortsetzte, zu der einige Meter entfernten Pizzeria.

    Im dortigen Biergarten fand er einen leeren Tisch und bestellte ein großes Weizenbier.

    Er sah sich um. An den Tischen saßen fröhlich plaudernde Menschen und auch einige verliebte Pärchen.

    Philipp stellte sich vor, hier mit Claudia zu sitzen. Was wäre das wohl für ein Gefühl sie in den Armen zu halten, ihre warme Haut zu spüren und sich in ihren magischen grünblauen Augen zu verlieren?

    „Ihr Weizenbier, bitte sehr."

    Eine etwa dreißigjährige Frau mit großen dunkelbraunen Augen stellte das Getränk mit einem herzlichen Lächeln vor Philipp ab. Dabei fiel ihr langer, dunkler Zopf über ihre Schulter.

    „Möchten Sie vielleicht auch etwas essen?"

    „Oh, eh … danke … nein, stammelte Philipp. „Ich muss gestehen, ich hatte gerade eine halbe Pizza. Microwelle, fügte er schnell hinzu.

    „Aus der Mikrowelle? Die junge Frau schüttelte verständnislos den Kopf und lächelte. „Kein Wunder, dass Sie nur die Hälfte gegessen haben.

    Sie reichte Philipp eine kleine Speisekarte. „Wenn Sie doch noch ein wenig Hunger verspüren …"

    „Sie verstehen Ihr Geschäft."

    „Wenn es nicht so wäre, hätte ich schon lange schließen müssen."

    „Ach, Sie sind die Inhaberin?"

    „Ich bekenne mich schuldig. Nun lachte sie. „Deshalb muss ich mich jetzt auch um meine anderen Gäste kümmern.

    „Eine Kleinigkeit könnte ich doch noch vertragen, sagte Philipp, als sie sich bereits abwandte. „Was würden Sie mir empfehlen?

    „Vielleicht eine Vorspeise? Unser „Italienischer Teller mit Parmaschinken, Käse und Salami. Oder auch das „Krabbenpfännchen in Öl und Knoblauch."

    „Krabbenpfännchen hört sich sehr verlockend an. Aber, ich muss morgen wieder arbeiten. Eine Knoblauchfahne macht sich da nicht so gut. Mit dem Parmaschinken könnte ich mich anfreunden."

    „Kommt sofort, der Herr."

    Gerade eben noch wünschte Philipp sich Claudia an seiner Seite, ihr tief in die Augen zu schauen und ihrer samtartigen Stimme zu lauschen und nun starrte er dieser italienischen Schönheit hinterher.

    Zwei total verschiedene Frauen, aus gänzlich unterschiedlichen Welten und doch spürte er, dass beide eine geheimnisvolle Ausstrahlung umgaben.

    Mit der Vorspeise brachte ihm die Inhaberin des italienischen Restaurants auch ein Glas Rotwein.

    „Auf Kosten des Hauses und natürlich aus meiner Heimat."

    „Und wo ist das?", fragte Philipp.

    „Die Toskana, Bella Italia."

    Ein sehnsüchtiges Lächeln überzog das hübsche Gesicht.

    Sonntag / 23:57 Uhr

    Michael Heinze war auf dem Rückweg von einer Feier mit seinen Freunden in Frankfurt und fuhr in Richtung Mainkai, als er im Radio von dem Unfall hörte.

    Ein Radfahrer war von einer Straßenbahn erwischt worden, weshalb die Polizei einen Teilabschnitt der Straße sperrte, und bat die Unfallstelle zu umfahren.

    Das galt nicht für ihn. So schnell es der Verkehr zuließ, fuhr er zum Unfallort und schob sich durch die schaulustige Menschenmenge nach vorne. Der Schwerverletzte wurde gerade vom Rettungsdienst behandelt und Minuten später in den Krankenwagen geschoben. Michael Heinze hatte eine schöne Großaufnahme vom Opfer und etliche Aufnahmen vom Unfallort. Das Video würde ihm etliche Follower bringen und damit seine Finanzen aufstocken.

    Nun saß er an seinem Computer und bearbeitete die Aufnahmen, als ein Schrei ihn aufhorchen ließ. Vielleicht hatte ein Pärchen wieder ein bisschen Spaß. Kam in der engen Gasse am „Roten Brunnen" öfter vor.

    Er schnappte sich seine Kamera und rannte durch die offene Terrassentür. Auch dieses Video wäre fürs Internet bestens geeignet. Es gab so viele Perverse, die sich solche Bilder gerne anschauten und auch noch dafür bezahlten.

    Natürlich würde er die Gesichter derer, die sich in der nur von wenigen Häusern einzusehenden Gasse amüsierten, wie immer, verpixeln. Er wollte ja niemandem schaden oder gar denunzieren.

    Er suchte sich sein Ziel. Es befanden sich tatsächlich Personen am „Roten Brunnen". Aber irgendwie stimmte da etwas nicht. Er zoomte näher ran, filmte und stand wie gelähmt. Ein wegfahrender Wagen befreite ihn aus seiner Starre. Er spurtete an seinen Rechner.

    Das Video hatte er schnell hochgeladen und sah sich das Ganze noch einmal an. Er vergrößerte die Aufnahmen, bis sie den gesamten Bildschirm einnahmen. Eine der zwei Personen, die in Minutenabständen um die blutende und scheinbar leblose Frau herumschlichen, erschien ihm bekannt.

    Er holte das Letzte an Kontrast aus der Aufnahme heraus.

    „Das kann doch nicht sein, murmelte er dann vor sich hin. „Das ist doch der Typ aus der Nachbarschaft.

    Hatte er gerade einen Mord gefilmt … und den oder die Täter gleich mit dazu?

    Dieses Video – in Teilabschnitten auf YouTube präsentiert – würde ihm mehrere Hundert, wenn nicht sogar Tausende Follower sichern. Die Geldquelle würde sprudeln. Aber erst, wenn er den Typ selbst zur Rede gestellt hatte.

    Trotz der Gräueltat, die gerade quasi vor seiner Haustür passiert war, grinste er.

    Montag – 14. Mai 2018 / 00:25 Uhr

    Der Oberkörper der Frau lehnte gegen die Ummauerung des „Roten Brunnens"; genau in der Höhe, wo das Wasser zwischen den aus Sandstein modellierten Kinderfiguren herauslief. Ihre leeren Augen blickten ihn an. Sie hielt einen Rosenkranz in ihren, wie zum Gebet gefalteten Händen und aus ihrem Bauch pulsierte das Blut unaufhaltsam auf das Pflaster.

    Philipps Herz pochte so laut, dass er meinte, es springe ihm gleich aus der Brust. Er riss sich vom Anblick der Toten los und lief den steilen, zwischen den eng stehenden Häusern verlaufenden Weg – von den Alteingesessenen „Gänseweg" genannt – hinauf zur Kleinen Maingasse.

    Danach verschwamm alles im Nebel.

    Erst, als er seine Wohnung betrat, kam er wieder zu sich. Er schaute auf die Uhr. Null Uhr dreiundzwanzig. Wie konnte das sein?

    Gegen halb elf hatte er mit Stella, die sich immer mal wieder zu ihm setzte, wenn es ihre Zeit erlaubte, ein letztes Glas Wein getrunken. Die Frau gefiel ihm, und sie hatten sich gut unterhalten. Danach machte er sich, zufrieden mit sich und der Welt, auf den Weg zu seiner Wohnung – keine zehn Minuten von dem italienischen Lokal entfernt.

    Und doch habe ich fast zwei Stunden gebraucht? Nicht schon

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