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Immer wenn es regnet
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eBook275 Seiten3 Stunden

Immer wenn es regnet

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Über dieses E-Book

Anna ist tot. Esthers Aufgabe besteht darin, herauszufinden was geschehen ist. Und Sunny wollte heute eigentlich nur eine Runde joggen gehen, wird aber unwillkürlich zu einer der Hauptpersonen in der Geschichte um Annas Leben, ihren Tod und dessen Aufklärung.

Wie ist es möglich, dass jemand, der durch einen Sturz aus einem Fenster ums Leben kam, tot auf dem eigenen Bett liegt? Was ist der Unterschied zwischen stoßen, werfen und schmeißen? Und wie ist es möglich, dass Sunny die unfreundliche, sture Polizistin Esther, die den Tod ihrer Jugendfreundin Anna untersucht, am Ende auch noch sympathisch findet? Auch elf Semester Psychologie gekrönt mit einem Diplom helfen Sunny nicht immer weiter, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen. Und auch nach Jahren im Polizeidienst muss Esther sich schwer über sich selbst wundern, als sie sich plötzlich dabei erwischt, wie sie die bockige Psychologin als ebenbürtige Partnerin betrachtet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Juni 2021
ISBN9783765091391
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    Buchvorschau

    Immer wenn es regnet - Jessica Braun

    Karlsruhe, 10. September 2013

    Sunny!

    Obwohl es mir leid tut, tut es mir nicht im Geringsten leid.

    Es tut mir nicht im Geringsten leid, was ich zu Dir gesagt habe, denn ich hatte recht und habe es noch.

    Du hast keine Ahnung, wie es mir ging und geht.

    Natürlich waren Martin und ich glücklich miteinander!

    Natürlich tut er mir gut!

    Er hat mir immer gut getan!

    Und darum ist er auch zu mir zurückgekehrt, reumütig, weil ich die bin, die er immer wollte und auch heute noch will.

    Aber jetzt sitze ich hier ohne Dich. Und obwohl ich bis an mein Lebensende wütend auf Dich sein werde, spüre ich die Einsamkeit wie ein großes, klaffendes Loch an der Stelle, die zuvor Dein Platz in meinem Herzen war.

    A.

    Sonntag, 08. Mai 2016, 4:15 Uhr

    Wohnung von Anna Henkes

    Karlsruhe, Hirschstraße

    Es ging Esther um das erste Gefühl, das ein Ort in ihr auslöste — darum, was der Ort mit ihr machte, wohin er sie mitnahm. Sie wusste, dass sich das total seltsam anhörte, aber es war ja eben so: Sie studierte den Negativabdruck einer Person und zog daraus ihre Schlüsse. Auf ihrer persönlichen Ordentlichkeitsskala erhielten die Räume eine mittlere Punktzahl: nicht wirklich ordentlich, aber auch nicht wirklich unordentlich. Die Besitzerin hatte es geschafft, mit offensichtlich wenigen Mitteln eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen.

    Irgendwie, fand zumindest Esther.

    So eine Mischung aus abgedreht-stylish und liebenswert-schrullig mit einem Quäntchen Glitzertrash. Auf jeden Fall interessant.

    Die Einrichtung bildete eine wilde Mischung aus schwedischem Möbelhaus, Trödel, Sperrmüll und Einfallsreichtum. Die offenen Regale im Wohnzimmer waren voller Nippes. Esther erkannte unter anderem eine faustgroße bunte Murano-Glaskugel, eine kleine lasierte Tonschale voller Murmeln und eine Schneekugel, in der ein Foto zweier lachender junger Mädchen steckte. Als Tisch diente ein altes auf die Seite gedrehtes Aquarium, auf dem sich neben einer roten Friedhofskerze, einem überquellenden Aschenbecher und einer halbvollen Schachtel Zigaretten auch ein Tischfeuerzeug in Form einer auf einem Felsen sitzenden Meerjungfrau befand. Esther musste unwillkürlich grinsen. Sie warf einen kurzen Blick in die angrenzende Küche, einen gemütlichen Raum von vielleicht fünfzehn Quadratmetern Größe. Obwohl auch diese nicht aussah, als würde ihre Besitzerin übermäßig großen Wert auf Ordnung legen, bemerkte die Ermittlerin auf den ersten Blick, dass sich hier etwas Ungewöhnliches zugetragen haben musste. Zwei der drei Stühle waren umgekippt und lagen inmitten einer Wasserlache voller Scherben und Zigarettenkippen auf dem steinernen Fußboden. Eine leere Weinflasche war zwar unversehrt geblieben, befand sich aber ebenfalls zu ihren Füßen in einer teilweise bereits angetrockneten roten Pfütze. Als sie glaubte, genug gesehen zu haben, begab sie sich langsam in Richtung des Schlafzimmers, in dem sich, wie sie bereits wusste, die Tote befand. Der Raum war der einzige unbeleuchtete in der Wohnung und lediglich der spärliche Schein einer Straßenlaterne, der durch ein kleines Fenster fiel, ermöglichte es Esther, sich hier zu orientieren. Gerade dieses Detail aber machte einen Großteil der Atmosphäre des Tatortes aus. Auf der Schwelle atmete Esther noch einmal tief durch, um sich zu sammeln. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, machte sie einen beherzten Schritt vorwärts, hielt aber sofort wieder inne. Sie hatte von ihren Kollegen von der Streife erfahren, dass die Tote auf dem Bett lag. Die beiden hatten die Vermutung geäußert, dass die Leiche von jemand anderem so arrangiert worden war, doch hatten sie dies nicht begründet.

    Jetzt wusste Esther, was sie zu dieser Einschätzung gebracht hatte: Anna Henkes war regelrecht aufgebahrt worden. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, über das sich ihr langes schwarzes Haar in einem perfekten Fächer ergoss. Die Hände lagen auf ihrem Bauch, und jemand hatte versucht diese zu falten, was ihm aber nur leidlich gelungen war. Sie trug ein leichtes fliederfarbenes Sommerkleid, und ihre nackten Füße steckten in offenen hochhackigen Schuhen - beides nicht unbedingt die ideale Kleidung für diesen momentan noch recht kühlen Mai. Auf ihrem Hals lagen mehrere bunte Ketten aus Glasperlen.

    Vielleicht war es zu schwierig, ihr die post mortem anzulegen.

    Sowohl auf dem Bett als auch auf dem Fußboden waren ungefähr ein dutzend Rosen verstreut worden.

    Schneewittchen, schoss es Esther durch den Kopf.

    Sie trat näher an das Bett heran und beugte sich über das Gesicht der Toten.

    „Ach du Scheiße!", entfuhr es ihr unwillkürlich. Hastig wich sie zurück.

    Warum hat mir das keiner gesagt?

    „Matthias, rief sie mit fester Stimme nach dem einen ihrer beiden uniformierten Kollegen, „bitte geh so schnell wie möglich runter auf die Straße und schau, ob du da unten eine größere Blutlache findest! Ich glaube nicht, dass die Frau noch einen einzigen heilen Knochen im Leib hat. Ihr Körper ist völlig verschoben, und ihr Gesicht sieht aus, als hätte sie einen ICE geknutscht.

    Sonntag, 08. Mai 2016, 9:10 Uhr

    Karlsruhe, Hirschstraße

    Erst als sie registrierte, dass die Mundwinkel ihres Chefs belustigt auf und ab hüpften, erwachte Esther Marquart aus ihrer Starre. Schnell schnappte sie nach dem Schlüssel, den Manfred Gartner ihr entgegenstreckte und stieg hinter das Steuer des Dienstwagens. Er selbst nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

    „Hör zu Esther, ich bin bisher wirklich zufrieden mit deiner Arbeit. Du hast dich bei der ersten Teambesprechung heute Morgen gut geschlagen. Das ist der Grund, warum ich deinem Wunsch nachgebe, und du diese Aufgabe übernehmen darfst. Das ist jetzt also deine Spur und somit auch deine Befragung. Ich bin nur als stummer Zuhörer dabei, weil ich genau wie du glaube, dass diese Frau eine wichtige Zeugin sein könnte, und ich mir das nicht entgehen lassen will. Wenn es gut läuft, lasse ich dich danach allein weitermachen."

    Esther verstand und nickte stumm.

    Jetzt also bloß nicht verkacken.

    Sie bewunderte Manfred wirklich. Er war der beste Ermittler, der ihr jemals begegnet war, und sie und ihre Kollegen knobelten regelmäßig darum, wer seinen Verhören beiwohnen durfte. Manfred war Esthers direkter Vorgesetzter, und obwohl er offiziell nur der Leiter des Unterabschnittes Ermittlungen der Karlsruher Mordkommission war, galt dem Kriminalhauptkommissar der Respekt der gesamten Abteilung. Es war weithin bekannt, dass er das Amt des Kommissionsleiters nicht erst einmal abgelehnt hatte. So kam es, dass er regelmäßig die Rolle desjenigen übernahm, bei dem sämtliche Informationen zu einem Fall zusammenliefen und der die Ergebnisse der Arbeit der Kollegen der anderen Unterabschnitte sammelte und koordinierte, wobei er es sich jedoch nie nehmen ließ, selbst aktiv an der Ermittlungsarbeit teilzunehmen. Er war eine Größe, an der man in Karlsruhe nicht vorbeikam. Trotzdem fand Esther ihn bislang zu vorsichtig, was ihre Person anging. Zwar predigte Manfred ihnen andauernd, dass man im Voraus nie wissen konnte, welche Spur sich als entscheidend erweisen würde, doch sie hatte den Verdacht, dass er das nach über 35 Jahren im Polizeidienst eben doch konnte und sie ganz bewusst immer wieder in der Peripherie eines Falles abstellte.

    Heute aber sah es endlich so aus, als würde sich das Blatt für sie wenden.

    Es waren gerade einmal fünf Stunden vergangen, seit sie mit der Mitteilung, in der Südweststadt sei eine weibliche Leiche gefunden worden, und es bestehe der dringende Verdacht auf Fremdverschulden, zu der Wohnung von Anna Henkes gerufen worden war. Auf der kurzen Fahrt dorthin hatte sie versucht, Ruhe zu bewahren, was ihr aber nur schwer gelungen war. Natürlich wurde sie nicht das erste Mal zu einem Leichenfund gerufen, und natürlich hatte sie schon etliche Tatorte inspiziert. Es war auch schon vorgekommen, dass sie als diensthabende Beamtin der Mordkommission als erste vor Ort gewesen war. Allerdings war das schon verhältnismäßig lange her. Und da Esther es in der letzten Zeit das ein oder andere Mal geschafft hatte, richtiggehend zu glänzen – Manfred hatte sie mehrmals vor versammelter Mannschaft gelobt, was schon einiges hieß – machte sie sich nun Hoffnungen, dass sie, vorausgesetzt sie würde heute einen guten Job machen, bei dieser Ermittlung eine zentralere Rolle würde einnehmen können. Die Frage, ob sie womöglich geisteskrank war, weil sie sich darüber freute, dass hier ein ungeklärter Todesfall vorlag, dass eine junge Frau zu Tode gekommen war, schob sie dabei gekonnt beiseite. Sie freute sich ja schließlich nicht darüber, dass Anna Henkes gestorben war, sondern darüber, dass sie gerade Bereitschaftsdienst gehabt hatte, als das passiert war. Sie war eben gerne Polizistin.

    Sonntag, 08. Mai 2016, 11:50 Uhr

    Waldstück in der Nähe von Landau/Pfalz

    Sunny war mittlerweile recht gut trainiert und lief die 10 km in deutlich weniger als einer Stunde. Darum – und weil sie die Übelkeit eigentlich schon zuhause in sich hatte aufsteigen spüren – erhöhte sie ihr Tempo weiter. Sie lief gegen die Übelkeit und den Brechreiz an, die sie seit beinahe anderthalb Stunden quälten.

    Ich werde nicht auf meine Laufrunde kotzen,

    dachte sie verbissen. Doch in ihrem Kopf dröhnte es.

    Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma.

    Sie kannte das schon. Ab einem gewissen Grad der Anstrengung schaffte sie es nicht mehr, ihre Gedanken willentlich zu steuern. Ihr Gehirn nahm sie dann mit auf eine Reise durch ihre eigenen Assoziationen. Trotzdem startete sie einen Versuch.

    Hör auf, hör auf, hör auf. Na bitte.

    Es funktionierte. Aber Sunny wusste, dass sie all ihre Konzentration darauf würde verwenden müssen, dass ihre Gedanken nicht wieder dahin abglitten, wo es dunkel und fürchterlich war. Sie durfte sich jetzt noch keinen Triumph gönnen. Das schlechte Gefühl ließ zwar langsam nach, war aber noch immer da und lauerte aufs Neue hinter jedem Stein und jeder Unebenheit. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte auf und ab, sodass ihre Haarspitzen im immer gleichen Rhythmus auf ihren verschwitzten Nacken tippten, was sie normalerweise ganz wahnsinnig machte, ihr heute aber, genau wie ihre Atmung und ihre Schritte, half, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie wusste, dass der direkte Heimweg von hier aus noch über zwei Kilometer betrug, bog sie nach links ab und verlängerte ihre gewohnte Runde so um dieselbe Strecke. Sie lief und lief und lief vor den Bildern davon, die sie verfolgten, um sich in ihr Gehirn einzubrennen, seit die beiden Polizisten am Morgen bei ihr gewesen waren.

    Kurz nach 9 Uhr hatte das Telefon geklingelt, und eine Frau, die sich ihr als Kriminaloberkommissarin Esther Marquart vorstellte, hatte ihr erklärt, dass sie sich zusammen mit einem Kollegen auf dem Weg zu ihr befände und einige Fragen an sie habe. Soweit Sunny sich erinnern konnte, hatte die Frau sie nicht gefragt, ob sie Zeit habe oder zu einem Gespräch bereit sei. Sie hatte sie lediglich auf polternd-autoritäre Art darüber informiert, dass ein solches in weniger als einer halben Stunde stattfinden würde, ohne dabei Anstalten zu machen, ihr den Grund hierfür zu nennen. Wenn sie ihre kleine Tochter Felicitas, die in genau diesem Moment bereits im Auto ihrer Mutter saß, nicht noch durch das Fenster hätte sehen können, wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle vor Schreck und Sorge um ihr Kind tot umgefallen. Aber was kümmerte das Kriminaloberkommissarin Esther Marquart, deren Beamtengehalt jeden Monat pünktlich überwiesen wurde? Sunny hatte den Telefonapparat beiseite gelegt und verächtlich das Gesicht verzogen.

    Es braucht die Bullen nicht zu wundern, dass keiner sie mag.

    Weil ihr ja aber nun nichts anderes übrig geblieben war, als ihren geplanten Waldlauf zu verschieben, hatte sie sich eine Tasse Kaffee genommen und sich an den Küchentisch gesetzt, um zu warten. Sie wäre in diesem Moment wirklich gerne gelaufen, denn ihr Schädel hatte noch vom vielen Rotwein gebrummt.

    Unweigerlich waren ihre Gedanken zu Thomas gewandert, der ihr gestern Abend mal wieder über den Weg gelaufen war. Seit sie vor etwas über einem halben Jahr mit Fee zurück zu ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Bianca gezogen war, baggerte er sie ständig an. Immer vorausgesetzt natürlich, seine Alte war nicht in der Nähe. Vor Jahren hatte er sie wegen der Tussi sitzen lassen und jetzt dachte er wohl, sie hätte die ganze Zeit nur darauf gewartet, als Zweitfrau wieder in seine Arme sinken zu dürfen. Gut, sie war tatsächlich wieder mit ihm ins Bett gegangen, aber nur zweimal und nur aufgrund einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Rachlust. Zwischenzeitlich bereute sie das wirklich, denn das Gefühl, ihn jederzeit haben zu können, das sie anfangs genossen hatte, hatte sich heimlich und schleichend in das genaue Gegenteil verkehrt: in die Gewissheit, dass er sie hatte haben können.

    Gestern auf der Geburtstagsfeier hatte er sie mit verstohlenem Blick in Richtung der Tür, durch die seine Tussi gerade entschwebt war, gefragt ob sie mit dem Auto da sei und dabei dreckig gegrinst. Was er damit gemeint hatte, hatte Sunny nur zu genau gewusst. Sie war innerhalb einer Sekunde rasend wütend geworden und hatte ihm zugezischt, er solle verschwinden. Er aber hatte sich mit diesem verständnislos-beleidigten Blick getrollt, den sie noch von früher kannte, und der ihr, zumindest im Nachhinein, deutlich machte, dass ihre Wut auf ihn nach so langer Zeit vielleicht doch etwas unverhältnismäßig war. „Verdammte Ausbildung", murmelte Sunny vor sich hin und nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee, den sie kurz im Mund behielt, um seinen Geschmack voll auszukosten. Sie hatte sich im Zuge der Psychotherapeutenausbildung, die sie nach ihrem Psychologiestudium absolviert hatte, stundenlang eingehend mit sich selbst beschäftigen müssen:

    Sunny als Kind und als Heranwachsende, Sunnys zu dicker Hintern, Sunny von oben, von unten und von der Seite, Sunny mit und ohne Kirschen und blablabla.

    Sie hatte ihre Ausbildung nicht gemocht und letztlich nur aufgrund äußerer Zwänge absolviert. Noch immer konnte sie die beschwörende Stimme ihrer Mutter hören: „Kind, ohne Approbation, um Himmels Willen, Kind da bist du doch gar nicht konkurrenzfähig!"

    Die Langeweile, die sie in jedem einzelnen der Seminare, die sie hatte besuchen müssen, verspürt hatte, hatte ihr recht gegeben. Das Ende vom Lied war nun aber jedenfalls, dass sie sich selbst viel besser kannte, als sie es jemals gewollt hatte. Sie konnte es meist recht schnell und zuverlässig erkennen, wenn ihre eigenen Reaktionen mehr mit ihr selbst als mit der aktuellen Situation zu tun hatten. Aber die Freiheitsgrade, die ihr dieses Wissen hätte verschaffen sollen, blieben reine Theorie, denn es war nun einmal nicht Sunnys größtes Talent nachzudenken, bevor sie handelte. Und so musste sie sich meist damit abfinden, dass sie den gleichen Mist machte wie alle anderen und hinterher noch nicht einmal die Verantwortung auf die äußeren Umstände schieben konnte, sondern sie zähneknirschend selbst übernehmen musste.

    Wenigstens kann ich mich verstehen,

    versuchte sie sich manchmal zu trösten. Was Thomas betraf, war die Lektion relativ einfach. Sunny wusste genau, warum sie ihn hasste. Doch noch ehe es ihren Gedanken möglich war, zum tausendsten Mal in Richtung dieses Themas zu wandern, was ihr den Morgen mit Sicherheit endgültig vermiest hätte, nahm sie schnell einen weiteren Schluck Kaffee und zwang sich, an etwas anderes zu denken.

    Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart bereits zehn Minuten überfällig war, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ihre Laune war dank Thomas ohnehin schon im Keller.

    Was also soll jetzt noch kommen, das es noch schlimmer machen könnte?

    Doch noch im selben Moment klingelte die Antwort auf diese Frage an der Tür mit dem selbst gemachten, hölzernen „Herzlich willkommen bei Familie Decker"- Schild, das von einem hart erarbeiteten Idyll zeugte, welches eben jetzt wieder einmal auf eine ernste Probe gestellt werden sollte.

    Sunny bat die Marquart und ihren Kollegen in die Küche, wo sie sich an den massiven Tisch setzten, an dem sich ein Großteil ihres Familienlebens abspielte. Sie schenkte Kaffee ein und ließ sich den Beamten gegenüber nieder, die sie ebenso forschend musterten, wie sie die beiden. In Situationen wie dieser, wenn sie weder wusste, wie ihr Gegenüber zu ihr stand, noch was auf sie zukam, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, heimlich psychopathologische Befunde ihrer Gesprächspartner zu erstellen, wie sie es zu Beginn jeder Therapie routinemäßig bei ihren Patienten tat. Vordergründig machte ihr das Spaß und verlieh ihr eine gewisse Befriedigung und Macht. Aber eigentlich, so wusste sie, half es ihr vor allem dabei, nicht vor lauter Verunsicherung schreiend davonzulaufen.

    Frau mit gepflegtem, jugendlich-sportlichem Äußeren,

    begann es in Sunnys Kopf zu arbeiten.

    Freundlich und kooperativ, dabei aber etwas burschikos und dominant. Spricht laut. Wach und orientiert. Kein Anhalt auf Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Antrieb und Psychomotorik weitestgehend unauffällig, leichte Tendenz zur Ungeduld, leichte Agitiertheit. Affekt weitestgehend unauffällig, stellenweise etwas gereizt. Punktuell umständliches Denken und Vorbeireden. Kein Anhalt auf Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, jedoch thematische Einengung auf das Thema Verbrechen. Kein Anhalt auf Eigen- oder Fremdgefährdung.

    Sunny musste zugeben, dass sie streng sein musste, um überhaupt etwas zu finden, das sie in den Befund der Marquart packen konnte. Die Frau machte leider einen geistig völlig gesunden Eindruck. Irgendwie war ihr die Polizistin sogar fast sympathisch. Sie war in ihrem Alter und hatte eine schlanke Figur. Ihr langes dunkles Haar fiel glatt über die Schultern und den Rücken. Sie trug wenig, gezielt angebrachtes Make-Up. Tatsächlich fand Sunny, dass die Marquart mit ihrem hübschen runden Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gitarristin der Muppet-Show hatte. Dabei war sie etwas größer als Sunny selbst, die ihrerseits immerhin 1,73 m maß. Sie trug eine zerknitterte Jeanshose, wie man sie auch in Sunnys Schrank hätte finden können, und eine speckige schwarze Lederjacke, die ihre besten Tage vermutlich irgendwann in den frühen Achtzigern gefeiert hatte. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnlich tiefe, rauchige Stimme. Außerdem erinnerten ihre kantigen Bewegungen sie angenehm an ihre Schwester Bianca. Sunny glaubte deutlich zu erkennen, wie sehr die andere um ein sicheres, Vertrauen erzeugendes Auftreten bemüht war und vermutete, dass hinter diesem Verhalten eine gehörige Portion Unsicherheit steckte.

    Warum eigentlich?,

    fragte sie sich, doch dann kam ihr der Gedanke, dass der Kollege wahrscheinlich kein echter Kollege, sondern ein Vorgesetzter war. Diese Vermutung lag nahe, denn obwohl Sunny sich nicht mehr an den Dienstgrad erinnern konnte, den er

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