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Von Thun nach Aarau in 68 Jahren: Paradies der Erinnerungen - Biografie
Von Thun nach Aarau in 68 Jahren: Paradies der Erinnerungen - Biografie
Von Thun nach Aarau in 68 Jahren: Paradies der Erinnerungen - Biografie
eBook403 Seiten5 Stunden

Von Thun nach Aarau in 68 Jahren: Paradies der Erinnerungen - Biografie

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Über dieses E-Book

Meine Biografie: Ich bin 68 Jahre alt geworden. Als ich noch klein war, glaubte ich nicht, dieses hohe Alter jemals zu erreichen. Und auch im fortschreitenden Alter liessen mich Unpässlichkeiten wie Grippe, Hüft- und Rückenprobleme oder auch mal ein Raucherhusten daran zweifeln. Doch jetzt wo ich es bin, möchte ich die verflossenen Jahre nochmals leben - gedanklich zumindest. Ich bin von Natur aus ein positiv denkender Mensch und habe soweit eine gute Zeit gehabt. Alle meine Lebensstationen - Thun, Erlach, Aarau, Unterentfelden, Lausanne, Engelberg, Südamerika, Zürich, Brüssel, New York City, Weltreise, St. Moritz, Aarau - werden in meiner nachgezeichneten Reise durch meine achtundsechzig Jahre wiederbelebt. Und wenn dann das endgültige Ende in ein paar Jahren naht, wird es wohl so sein, wie Ephraim Kishon gesagt hat: "Altern ist ein hochinteressanter Vorgang. Man denkt und denkt und denkt - plötzlich kann man sich an nichts mehr erinnern."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Nov. 2017
ISBN9783745041408
Von Thun nach Aarau in 68 Jahren: Paradies der Erinnerungen - Biografie
Autor

Urs Scheidegger

Ausbildung zum Bankkaufmann. 6 Monate Südamerika. 10 Monate Weltreise. Über 75 verschiedene Destinationen bereist. Weiterbildung zum Reisefachmann und zum Erwachsenenbildner. IATA/UFTAA International Travel Consultant. 30 Jahre Berufserfahrung in unterschiedlichen Bereichen des Tourismus. Kursleiter und Dozent an der Schweizerischen Reisefachschule Aarau und an der Internationalen Schule für Touristik Zürich. Fotografieren, Sport, Kochen, Lesen von Tages- und Wochenzeitungen, Fachblättern und Büchern aller Genres sowie individuelles Reisen sind seine heutigen Leidenschaften. Und natürlich Bücher schreiben – Romane, Krimis, Reisegeschichten, Erzählungen, Biografien usw.

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    Buchvorschau

    Von Thun nach Aarau in 68 Jahren - Urs Scheidegger

    Von Thun nach Aarau in 68 Jahren - Biografie

    Titel

    Titel - 2

    Bisher erschienene Bücher

    Der Autor

    Ich bin achtundsechzig Jahre alt geworden. Als ich noch klein war, glaubte ich nicht, dieses hohe Alter jemals zu erreichen. Und auch im fortschreitenden Alter liessen mich Unpässlichkeiten wie die Beschwerden einer schweren Grippe oder immer wiederkehrende Hüft- und Rückenprobleme oder ein zwischendurch aufflackernder Raucherhusten daran zweifeln. Doch jetzt wo ich es bin, möchte ich die verflossenen Jahre nochmals leben – gedanklich zumindest. Ich bin, glaube ich, von Natur aus ein positiv denkender Mensch und habe soweit eine gute Zeit gehabt. Aber selbst wenn man mir die Möglichkeit gäbe, mein bisheriges Leben in Wirklichkeit nochmals zu leben, würde ich dankend ablehnen. Nicht dass es gar schlimm gewesen wäre, nur, auf die belastenden Stressmomente gewesener beruflicher Herausforderungen und den ewigen Kampf um gebührende Anerkennung, im Privaten wie im Beruflichen, kann ich verzichten. Wenn ich nochmals auf dieser Welt antreten müsste, dann müsste das Leben unbeschwerter ablaufen. Ich meine, dann dürften sich nur die schönen Dinge meines bisherigen Lebens wiederholen. Ich hasse damals wie heute die die Seele quälenden Momente, wo ich weinte vor Verdruss, Verärgerung über andere oder über mich selbst oder wo ich nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Ich bin zwar immer wieder aufgestanden und konnte diese negativen Lebensphasen verdrängen, aber sie sind trotzdem in meinem Innersten haften geblieben. Meine Erinnerungen mögen in einigen Fällen verblasst oder in Bruchstücke zerfallen sein, dennoch freue ich mich auf die nachgezeichnete Reise durch meine achtundsechzig Jahre.

    Aus Respekt vor der Privatsphäre meiner Familie werden deren Namen in diesem Buch nicht erwähnt.

    Von Thun nach Aarau in 68 Jahren

    Paradies der Erinnerungen

    Biografie

    Von Urs Scheidegger

    Autor: Urs Scheidegger

    Copyright: F0D3 2014 Urs Scheidegger

    Fotos und Bilder: Urs Scheidegger

    Auflage 2014

    Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Erstes Kapitel

    Kindheit

    Ich bin am 19. Februar 1946 am Pfarrhausweg in Thun mit blauen Augen und blonden Haaren geboren, wog sechseinhalb Pfund und war circa 52 cm gross und genau so süss wie die meisten Neugeborenen.

    Meine Eltern heissen Hans Scheidegger, mit sechsundsiebzig verstorben, und Hedi Scheidegger, geborene Graf, heute bereits sechsundneunzig Jahre alt und immer noch in guter geistiger Verfassung. Das schreibe ich deshalb, weil ich an die ersten drei oder vier Lebensjahre überhaupt keine Erinnerung habe und mich auf jene meiner Mutter verlassen muss.

    Vor mir kamen bereits meine Brüder Hansruedi und Peter zur Welt. Hansruedi wurde später der Einfachheit halber von allen Familienmitgliedern Ha genannt und Peter Pe. Und das ist bis heute so geblieben. Ich selber bekam den Übernamen Örsu. Von uns Dreien sei ich der liebste gewesen, was so viel heisst, dass ich kein Schreihals gewesen bin.

    Nach mir hielten dann noch Hanni und Heinz in die Familie Einzug. Heute würde man das schon fast als Grossfamilie bezeichnen, damals aber waren fünf Kinder mehr oder weniger normal. Mein Vater neckte meine Schwester oft mit Hannöggeli, was sie aber gar nicht mochte.

    Vater war für uns der Vati und Mutter s’Mueti. Mein Vater war ein Bauernsohn und arbeitete nach der Schulzeit als Monteur in den Thuner Betrieben der Armee. Seine Freizeit verbrachte er unter anderem beim Kunstturnen und war derart erfolgreich, dass er es zum Strättliger Oberturner schaffte.

    Meine Mutter lernte Schneiderin und flickte und schneiderte später neben ihrer Tätigkeit als Mutter und Mitarbeiterin im Geschäft meines Vaters viele Jahre ihres Lebens Kleider aller Art für Verwandte, Bekannte und sonstige Kundschaft.

    Kennengelernt hatten sie sich, wie es zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs verbreitet vorkam, bei der Verlegung der Soldaten in die nördlichen Gefilde der Schweiz. Sie wohnte im Aargau in Hausen bei Brugg, wo mein Vater sein Herz an sie verlor.

    Mein Vater war ehrgeizig und wollte mehr sein als ein einfacher Büetzer. So bemühte er sich, innerhalb des Betriebs aufzusteigen und befördert zu werden. Doch sein Chef vertröstete ihn immer wieder mit Ausreden auf später. Aber mein Vater konnte nicht warten, bis er endlich an der Reihe war. Also suchte er ausserhalb seiner angestammten Arbeit nach einer anderen Beschäftigung, nach etwas, das ihn herausforderte. Dank der Hilfe eines Fürsprechers konnte er schliesslich einen Laden, ein Comestible in Erlach am Bielersee, übernehmen.

    Rund zwei Jahre nach meiner Geburt zügelten wir ins Stedtli Erlach. Neben der Führung des Comestibles war mein Vater im lokalen Fahrdienst tätig.

    Meine Mutter erinnert sich vor allem an das kuriose Bild, das wir drei Brüder abgaben, wie wir vor allem im Sommer oft hintereinander an den Bielersee stolzierten. Der älteste und grösste von uns vorne weg und ich als der jüngste und kleinste hinter her.

    Mein eigener Blick in die Vergangenheit in Erlach beschränkt sich auf nur wenige Ereignisse. Da gings regelmässig hinauf Richtung Jolimont bis zum Schloss und wieder in rasendem Tempo auf einem rollenden Untersatz hinunter ins Städtchen. Schürfwunden waren oft das Resultat, wenn wir mit unserem Gefährt das Gleichgewicht verloren und stürzten.

    Oder ich sehe noch genau vor mir, wie meine Mutter ihr viertes Kind, Tocher Hanni, die im Spital in Bern zur Welt gekommen war, stillte. Ich lugte verschmitzt, als obs verboten gewesen wäre, hinter einem Tuch über meinem Kopf hervor und sah, wie meine kleine Schwester an der Brust meiner Mutter saugte. Das war neu für mich, obschon ich ja selber noch vor nicht allzu langer Zeit dasselbe getan hatte.

    Eine heikle Situation hatte ich zu überstehen, als ich zusammen mit zwei Kumpanen dem Postbeamten einen Streich spielte. Klein gewachsen wie wir noch waren, erforderte dieses Unternehmen schon ein wenig Mut. Wir kletterten auf den ziemlich hohen Fenstersims der Post und klopften an die Scheibe. Der Posthalter erhob sich, das konnten wir durchs Fenster beobachten, und machte eine unmissverständliche Drohgebärde, die uns mehr Angst einjagte als erhoffter Jubel über unseren Streich. Wir jagten davon, jeder in eine andere Richtung. Ich selber nahm den kürzesten Weg in den unweit von der Post liegenden Laden unserer Eltern, sauste durch den kleinen Verkaufsraum und hinein ins Warenlager dahinter, versteckte mich spontan in irgendeiner grossen Kartonschachtel und landete, oh weh, in einer Eierschachtel. Was das für Konsequenzen für mich hatte, kann man sich wohl vorstellen. Einerseits musste sich mein Vater beim Posthalter für meinen Schabernack entschuldigen und andererseits erlitt er wegen der zerborstenen Eier einen erheblichen Schaden.

    Noch in Erlach wurde mein kleiner Bruder Heinz im Spital von Biel geboren. Jetzt waren wir fünf Geschwister.

    Bald einmal hatte meine Mutter Langezeit nach dem Aargau, aus dem sie stammte. Dazu kam, dass sich meine Eltern Gedanken darüber machten, wo denn später ihre Kinder in die Lehre gehen sollten. La Neuveville und Biel schienen ihnen zu weit weg und vor allem zu teuer. So kam es, dass mein Vater zur Freude meiner Mutter nach einer neuen Beschäftigung im Aargau suchte. Erstaunlich ist, dass diese Sehnsucht meiner Mutter nach dem Aargau, ihrer ursprünglichen Heimat, noch heute mit 96 Jahren besteht. Sie lebt nämlich inzwischen seit einigen Jahren wieder in Thun und spricht immer noch Aargauer Dialekt. Der Berner Dialekt geht ihr, wie sie mir einmal im Verborgenen gestand, manchmal auf die Nerven.

    Auf alle Fälle konnte mein Vater ein Lebensmittelgeschäft an der Tannerstrasse 8 in Aarau für fünf Jahre in Miete übernehmen und engagierte sich gleichzeitig als der erste Stadtbuschauffeur von Aarau. Das war im Jahr 1950. Vor diesem Datum gab es in Aarau ausser den SBB und dem Tram nach Schöftland keinen öffentlichen Verkehr. Mit einem Occasionsbus, dem ältesten aus Luzern, wie meine Mutter meint, verwöhnte mein Vater seine Kundschaft mit seinem gemütlichen Berner Dialekt, seiner Frohnatur, die er Zeit seines Lebens war, und vor allem auch dadurch, dass er sich nicht immer an offizielle Haltestellen hielt, sondern die Leute an jeder Gartentür aus- und einsteigen liess. Er war sehr beliebt.

    Auch der Lebensmittelladen, den verständlicherweise grossenteils meine Mutter führte, florierte, lag er doch im Wohnquartier Zelgli, das sich damals vor allem Wohlhabende leisten konnten. Von Lädelisterben war noch keine Rede, an der Tannerstrasse rechts von unserem Geschäft gab es einen Konsum, eine Post und eine Metzgerei und links die Bäckerei Ruckstuhl.

    Geschlafen habe ich in einem Etagenbett im Dachzimmer zusammen mit meinen älteren Brüdern.

    Man muss sich nun mal vor Augen führen, wie diese Umstellung vom Bernbiet in den Aargau für uns Kinder war. Hier in Aarau sprachen wir für die Aarauer sozusagen eine Fremdsprache. Die Aarauer Ausdrucksweise wiederum tönte in unseren Ohren wie plattes, gellendes Züridütsch. Mit den Nachbarkindern auf der rechten Seite unseres Hauses hatten wir jedenfalls Mühe und bekämpften uns mit hässlichen Worten und manchmal mit Wasser aus dem Wasserschlauch durch das uns trennende Drahtgitter.

    Einem ähnlichen Unverständnis diesen aus unserer Sicht andersartigen Menschen gegenüber ist es wohl zuzuschreiben, dass wir einem schlaksigen, rothaarigen Jungen aus der Renggerstrasse hinter vorgehalterner Hand Schorschgaggo hinterherriefen. Schorschgaggo, eine Kasperlifigur. Uns dafür abzuschlagen, wäre für ihn kein Problem gewesen, denn er war klar stärker als wir. Wir aber waren flinker und konnten abhauen.

    Hinter unserem Haus stand ein Holzschopf. Eines Tages beobachtete ich einen Lieferanten, der, nachdem er seine Ware im Laden abgeliefert hatte, hinters Haus ging und etwas Unanständiges, ja Unverschämtes tat. Er pisste doch tatsächlich an unsern Holzschopf. Hätten wir Kinder das getan, hätten uns unsere Eltern eine gehörige Schelte erteilt. Wir waren nämlich wohlerzogene Kinder. Ich konnte damals einfach nicht verstehen, dass ein Erwachsener so etwas tat und rief ihm zu, das dürfe er nicht tun. Er drehte beim Schliessen seines Hosenladens seinen Kopf in meine Richtung und schaute mich mit bösen Augen an. Das hätte ich wohl nicht sagen dürfen und sein Blick war mir deshalb Zeichen genug abzuhauen, hatten wir doch ziemlich viel Respekt vor den Erwachsenen. Genau so, wie es unsere Eltern uns noch gelehrt hatten: Zeigt Respekt vor dem Alter. Ja, wir waren recht wohlerzogen, denn die Hausfrauen, die bei uns einkauften, sagten auch mal zu meiner Mutter: «Sie haben aber liebe Kinder.»

    In demselben Holzschopf, wo unsere Eltern Gartengeräte, Brennholz und Warenvorräte lagerten, taten wir trotz guter Erziehung Dinge, die heutzutage wohl eher als widerwärtig taxiert würden. Wir sammelten Maikäfer, es gab derart viele, dass man sie aus Gebüschen und Bäumen schütteln konnte, warfen sie zu Hunderten in heisses Wasser eines Bottichs und zertrampelten sie regelrecht. Hätten meine beiden Töchter dreissig Jahre später im selben Alter Gleiches getan, ich hätte ihnen einen Vortrag über Tierschutz oder Tierquälerei gehalten. Aber damals in unserer Kindheit hatten Tiere offiziell halt noch keine Seele.

    Und der Ausdruck Rassismus war noch längst nicht in aller Munde. Am Ausgang der Kirche beispielsweise stand der Opferstock mit einem kleinen Negerlein drauf, das dankbar nickte, wenn man seinen Obolus in Form einer Münze in den Schlitz fallen liess. Dass man die Bezeichnung Neger für Schwarzafrikaner verwendete, war ganz normal. Noch störte sich niemand daran. Erst ab den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts finden sich in den deutschen Wörterbüchern Hinweise auf eine abwertende oder diskriminierende Bedeutung des Begriffs.

    Diskriminierend oder menschenverachtend würde man heute auch gewisse Attraktionen damaliger Jahrmärkte bezeichnen. So etwa mein kostenpflichtiger Besuch im hölzernen Zirkuswagen, wo ich die dickste Frau der Welt begaffen konnte. Ich sehe sie noch genau vor mir: Sie sass phlegmatisch auf einer Querbank und füllte die ganze Wagenbreite aus. Echt menschenunwürdig.

    Den Kindergarten und das erste Schuljahr brachte ich im Gönhardschulhaus hinter mich, wo Jahre später auch meine ältere Tochter zur Schule ging. Um zum Schulhaus zu gelangen, mussten wir Kinder aus dem Zelgli die Entfelderstrasse überqueren, was nicht ohne Gefahren war, denn Ampeln oder eine Unterführung wie heute gab es damals noch nicht und die Gleise des Suhrentaltrams verliefen auf der Strasse. Es kam tatsächlich zu einschneidenden Unfällen, wie jener eines Klassenkameraden, der unter welchen Umständen auch immer unters Tram kam und dabei ein Bein verlor. Später zeigte er uns seinen Beinstumpf und die Protese. Ein schrecklicher Anblick wars.

    Meine erste Teilnahme am Umzug des Maienzugs, einem der wichtigsten Feste Aaraus, war für mich eine Zumutung, musste ich doch in kurzen Hosen und mit weissen Socken und vor allem mit einem Mädchen mit einem Blumenkränzchen im Haar Hand in Hand vor allen Zuschauern durch die Strassen ziehen. Mit einem Mädchen, man stelle sich das mal vor. Damals, mit einem Mädchen, nein, meinen Frust von damals vergesse ich nicht. Wir Buben schämten uns fast ein wenig. Irgendwie waren wir zu jener Zeit scheinbar schon kleine Machos.

    Mein Vater hatte Gefallen gefunden am Personentransport, denn da war er immer mit Leuten unterwegs, es war abwechslungsreich und einen Bus fahren zu dürfen, bedeutete zu jener Zeit noch Anerkennung. Man war jemand. Der alte Bus aus Luzern fiel mit der Zeit langsam aber sicher auseinander, also musste ein neuer her. Doch die Stadt verweigerte das notwendige Geld. Dies geschah im Jahr 1952. Schnell hatte sich mein Vater entschieden, selber zu handeln. Er hatte es satt, nur Krämer zu sein und wollte selbstständig werden und nicht mehr von andern abhängig sein. Das Fernweh hatte ihn gepackt. Das Lebensmittelgeschäft gab er auf und kaufte sich mit dem Ersparten erst einmal einen achtplätzigen rot-weissen VW-Bus, mit dem er die auswärtigen Fabrikarbeiter von Sprecher & Schuh vom Sprecherhof nach Erlinsbach und zurück fuhr.

    Ein Haus im Bau am Bollweg auf dem Distelberg, ganz nahe von Aarau, war zum Verkauf ausgeschrieben. Ein idealer Standort für sein neues Reiseunternehmen, fand er. Nur die ursprünglich vorgesehene Garage für einen Personenwagen musste auf die Grösse eines Reisecars um- beziehungsweise ausgebaut werden, denn jetzt kaufte er sich auch noch seinen ersten eigenen Reisecar, einen vierundreissigplätzigen Mercedes für 78 000 Franken. Nun hatte er ein eigenes Haus und eine Garage für seinen neuen Car.

    Das Haus war toll, verfügte über fünf Zimmer, einen Balkon Richtung Süden, einen riesigen Garten und lag unmittelbar am Waldrand. Uns Kindern gefiel das ausserordentlich. Um uns fünf Kinder unterzubringen war es dann aber doch etwas eng. Meine beiden älteren Brüder teilten sich das neben dem Elternschlafzimmer grösste im ersten Stock mit Blick auf Unterentfelden und ins Suhrental. Sie schliefen in einem Kajütenbett. Ich bekam für mich allein ein kleines ebenfalls im ersten Stock auf der Nordseite mit einem Fenster genau oberhalb des gedeckten Hauseingangs. Um auf einen der geteilten Estrichbereiche zu beiden Seiten des Hauses zu gelangen, musste man mein Zimmer durchqueren, weil sich hier die eine Türe befand. Die Schwester schlief vorerst noch zusammen mit dem kleinen Bruder im letzten verbleibenden Zimmer.

    Als dann später die Geschäfte mit dem Carunternehmen zu laufen begannen, brauchten meine Eltern ein Büro. Es reichte nicht mehr, dass man das Geschäftliche in der Küche oder in der Stube erledigte. Also nutzte man eben dieses Zimmer auch als Büro, was bedeutete, dass nur noch ein Bett drin Platz fand. Mein kleiner Bruder durfte oder musste dort bleiben. Musste deswegen, weil das Telefon auch dann läutete, wenn er bereits eingeschlafen war. Für die Schwester wurde die recht grosse Stube zweigeteilt. Ein Schreiner fügte eine Trennwand aus Holz mit einer Schiebetüre ein und so hatte auch die Schwester ihr eigenes Refugium. Nur, diese Holzwand war überhaupt nicht gegen Lärm isoliert, sodass sie notgedrungen den Lärm, den das Radio, der Schwarz-Weiss-Fernseher, die Eltern und wir drei älteren Brüder abends in der Stube machten, aushalten musste.

    Endlich hatte Aarau ein eigenes Carunternehmen. Über Aufträge konnte sich mein Vater nicht beklagen. Die Personentransporte für die Firma Sprecher & Schuh nahmen zu. Die Kirchgänger aus Unterentfelden fuhr mein Vater sonntags und an Feiertagen nach Suhr, hatte Unterentfelden doch noch kein eigenes Gotteshaus. Es folgten Altersausflüge, Vereinsausflüge aller Art, Schulreisen kamen dazu, Betriebsbesichtigungen, Hochzeitsausflüge und andere Fahrtaufträge. Auf seinen Fahrten trug er wie das auch bei Postchauffeuren üblich war, einen Arbeitsmantel, genau so, wie ihn auch heute noch Ärzte oder Apotheker zur Arbeit benutzen.

    Bald einmal wagte er sich, Tagesausflüge zu veranstalten. Dass er nun plötzlich in die Phalanx der eingesessenen Firmen wie Erismann aus Schönenwerd, Bachmann aus Kölliken oder Maurer aus Safenwil einbrach, störte ihn keineswegs, es stachelte ihn eher an, denn schliesslich war er der Einzige aus Aarau. Die Geschäfte liefen gut. Er war fast immer unterwegs und unsere Mutter erledigte unsere Erziehung, Haus und Herd und Bürokram. Eine grossartige Mutter war sie und als Geschäftsfrau, die sie notgedrungen sein musste, war sie erfolgreich und allseits beliebt.

    1956 kam ein 22-plätziger Setracar dazu. Ein Schmuckstück. Doch um den auch noch in einer Garage unterbringen zu können, musste eine Garagehalle her. Dies geschah auf dem gleichen Grundstück, Platz gab es dazu genug. Allerdings musste sie in die Erde hineingebaut werden. Was hat sich mein Vater doch aufgeregt, weil das Bauunternehmen das Grundwasser nicht in den Griff bekommen und es zu monatelangen Verzögerungen und Zusatzkosten geführte hatte, bevor die Halle endlich bezugsbereit war. Aber wie immer, was lange währt, wird gut.

    Jeder Car, der in den Folgejahren zur Flotte dazu kam, erhielt einen Namen. Vorne links unterhalb der Frontscheibe wurden sie mit Sämi, Gusti, Rosa, Louise, Hausi (das war der Spitzname meines Vaters), Lotti, Evi und so weiter beschriftet.

    Wir Kinder waren stolz auf unsere Eltern, die allerorts angesehen waren. Was uns auch ganz besonders passte, war, dass wir an schulfreien Tagen und Sonntagen mit unserem Vater auf Reisen gehen durften. Zum ersten Mal in unserem Leben lernten wir die Schweiz näher kennen, überquerten Schweizer Pässe und erblickten die wunderschönen Schweizer Seen. Das war ein grosses Privileg.

    Ich und mein Bruder Pe bei Andermatt

    Und als 1957 auch noch Badeferien an der Adria angeboten wurden, war für uns die Welt komplett in Ordnung. Denn nun waren wir Kinder privilegiert, durften wir doch ans Meer in die Ferien reisen, was in diesen Jahren sicher noch nicht jedermann möglich gewesen war. Ganz so einfach wie heute eine derartige Ferienreise abläuft, wars damals noch nicht. Werfen wir einen Blick ins erste Reiseprogramm:

    Wir fahren ab 3. Juni bis Ende September

    jeden Montag mit modernsten Autocars für 6 oder 13 Tage

    Wir bieten

    Aarau-Kerenzenberg-Davos-Flüela-Zernez (Mittagessen)-Ofenpass-Sta. Maria-Meran-Bozen-Trento-Riva-herrliche Galeriestrasse des Gardasees-Desenzano (Hotelunterkunft).

    Desenzano-Verona (Besichtigung der Arena, Grab von Romeo und Julia)-Vicenza (Mittagessen)-Padua-Ferrara-Ravenna-Cervia.

    Unterkunft in nur erstklassigen Hotels. Verpflegung im Grand Hotel Cervia. Ferien am Meer zu Ihrer freien Verfügung. Günstige Bademöglichkeiten, Strand 9 km lang (Badekosten und Kabinen im Preis inbegriffen).

    Ausflugsmöglichkeiten nach Venedig, Rimini, Riccione, Cattolica, Assisi, Ravenna, San Marino (die kleinste Republik der Welt).

    Rückfahrt über Bologna-Modena-Parma-Piacenza-Mailand-Chiasso-Lugano-Gotthard-Aarau

    Günstig

    Fahrt, Unterkunft und Verpflegung in erstklassigen Hotels, der Preis Badekabinen usw. alles inbegriffen

    6 Tage im Juli und August Fr. 195.-, im Juni und September nur Fr. 160.-

    13 Tage im Juli und August Fr. 330.-, im Juni und September nur Fr. 250.-

    Sie benötigen entweder gültiger Reisepass oder Identitätskarte, die auf jeder Gemeindekanzlei zu Fr. 1.- bezogen werden kann (Bei der Anmeldung abgeben).

    Das waren noch Zeiten! Mein Vater war einer der ersten Carunternehmer der Schweiz, wenn nicht der erste, der regelmässige Badeferienfahrten an die Adria offerierte. Car und Chauffeur blieben vor Ort für die Betreuung der Gäste und für die angebotenen Ausflüge.

    Im selben Jahr wurden zusätzlich zwölf verschiedene mehrtätige Rundreisen ausgeschrieben: u.a. Tulpenblüte Holland (7 Tage Fr. 295.- Vollpension), Rom und italienische Riviera (6 Tage Fr. 245.- Vollpension), französische Riviera (4 Tage Fr. 170.- Vollpension), Schweizrundfahrt (5 Tage Fr. 75.- nur Fahrt), Bayerische Königsschlösser (2 Tage Fr. 75.- Vollpension), Wien und Grossglockner (7 Tage Fr. 245.- Vollpension), Rheinland und Moseltal (3 Tage Fr. 130.- Vollpension), Südtirol und Dolomiten (3 Tage Fr. 125.- Vollpension), Oktoberfest München (3 Tage Fr. 55.- nur Fahrt). Von solchen Preisen kann man heute nur noch träumen.

    Bereits 1958 erhielt mein Vater von der Daimler Benz AG in Stuttgart eine Gratulationsurkunde zum 200 000. gefahrenen Kilometer mit einem Reisecar der Marke Mercedes.

    Nach diesem kurzen Exkurs in die Anfänge der Fernreisen zurück zu meiner Person und zu meinen Geschwistern. Abgesehen von Badeferien am Meer mussten wir auch ein paar weniger positive Dinge in Kauf nehmen. So zum Beispiel wurden wir von unsern Eltern angehalten, die Cars am Abend nach der Rückkehr von einem Ausflug oder einer Reise im Innern zu putzen. Der Chauffeur erledigte das Waschen der Karrosserie und das Auftanken. Leidig bleiben mir die Fettflecken an den Fenstern in Erinnerung, die von den Köpfen der Gäste stammten. Oder das Leeren der Aschenbecher. Man durfte im Car rauchen. Die Zigarettenstummel wären ja noch gegangen, aber was die Leute da alles reinstopften, war grässlich, vor allem dann, wenn man den Unrat ‒ Öpfelgörpsi, Papierhandtücher, Kaugummis ‒ mit den Fingern herausklauben musste. Als wir noch klein waren, war diese Arbeit auch gar nicht so schlimm, später als Teenager hassten wirs, denn vor dem Putzen durften wir nicht in den Ausgang gehen.

    Eines Abends in unserer Stube herrschte ein wenig Unruhe, weil ein Chauffeur überfällig war und schon längst wieder hätte zurück sein sollen. Vater und Mutter werweissten, ob ihm etwas zugestossen war, einen Unfall hatte oder ob er irgendwo herumtrödelte. Denn dieser Car musste noch für den nächsten Morgen bereitgestellt werden. Ich hörte mit. Und als der Chauffeur dann endlich langsam vor unserer Stube vorbei zur Garage fuhr, trat ich auf den Balkon und sagte in kindlicher Unschuld zu ihm durch das geöffnete Carfenster: «So, so, sind Sie endlich zurück!?» Ich begriff nicht, warum mich meine Eltern danach tadelten, ich hätte das nicht sagen dürfen. Im Nachhinein verstand ich, dass der Chauffeur erahnen konnte, dass meine Worte nicht die meinen, sondern jene meiner Eltern waren, was ihnen dann doch wieder nicht recht war, weil sie ihren Angestellten nicht verärgern wollten. Ich habe diese peinliche Episode in meinem späteren Leben nie mehr vergessen.

    Astor, unser Mischlingshund, war ein ganz Lieber. Er bescherte uns wenig Arbeit. Zum Fressen bekam er die Resten vom Tisch, ausführen zum Pipimachen mussen wir ihn auch nicht, denn er lief immer frei herum. Robybags waren noch längst nicht erfunden. Also musste man auch den Hundekot nicht auflesen. Nur manchmal, wenn er seit ein paar Stunden nicht mehr gesichtet worden war, schickte uns die Mutter auf die Suche nach ihm. Ab und zu fanden wir ihn ziemlich weit weg in einem Garten zuoberst auf dem Distelberg, wo er wohl einer Hündin nachstellte, manchmal im Wald oder in der Nähe eines nahegelegenen Bauernhofs.

    Nebenbei bemerkt, nicht nur Astor zog es auf den Distelberg. Auch wir Buben waren ab und zu dort und hockten uns am Waldrand ins Gras oberhalb der Distelbergstrasse ‒ die Umfahrungsstrasse gab es damals noch nicht ‒ und zählten die vorbeifahrenden Autos. Autos zählen und erraten, welcher Marke sie waren, machte echt Spass. Dieses kleine Vergnügen ist wohl der Grund dafür, dass ich auch heute noch interessiert fast allen Autos auf der Strasse nachschaue.

    Ein gewaltiges Hochgefühl bereitete mir das Herumhangeln in den Ästen der mächtigen Bäume am Waldrand, die an unsern Garten grenzten. Ich kam mir vor wie Tarzan. Ich kletterte von einem Baum zum andern. Ich glaube, ich schaffte schon mal vier oder fünf Bäume, ohne je den Boden berührt zu haben. Manchmal musste ich einen Sprung wagen, um einen geeineten Ast des nächsten Baums zu erreichen. So kam es, wie konnte es anders sein, dass ich mal den Halt verlor und rücklings zu Boden stürzte, was mir augenblicklich den Schnauf abstellte. In tödlicher Angst rannte ich ins Haus zu meiner Mutter, die mich mit Worten besänftigte und mit ihren Händen meinen Rücken rieb, sodass ich schnell wieder auf den Beinen war.

    Wie gesagt, waren wir artige Kinder, grundsätzlich zumindest. Doch wenn ich daran denke, wie sich ab und zu meine beiden älteren Brüder in ihrem Schlafzimmer anschrien und die Köpfe zerschlagen haben, dann zweifle ich, dass wir es wirklich waren. Als ich aus dem Bubialter herausgewachsen und körperlich stärker geworden war, stritt auch ich mit den beiden. Der älteste Bruder drängte mich eines Tages bei einem solchen Zwist ins Büro, stiess mich mit seinen starken Armen vorwärts bis ich am Bürotisch nicht mehr weiter zurückweichen konnte. Zur Abwehr boxte ich ihm mit meiner Faust direkt ins Gesicht. Er wich nun endlich selber zurück und hielt seine Hand an die blutende Oberlippe. Seine Gesichtsfarbe wechselte auf Rot. Seine Augen blitzten vor Wut. Nur, er traute sich jetzt nicht mehr, mich weiter zu belästigen. Aber in Worten tat er es umsomehr: «Du Arschloch, das werde ich dir heimzahlen.» Hat er aber nicht getan!

    An der Primarschule Unterentfelden absolvierte ich die zweite bis zur fünften Klasse in den engen, harten Holzbänken. In der zweiten und dritten Klasse unterrichtete uns eine Lehrerin, ein sprödes, hochgewachsenes, in die Jahre gekommenes Fräulein. Die beiden restlichen Jahre an der Schule in Unterentfelden unterwies uns ein älterer Herr mit einem dicken Bauch. Er war sehr streng, was auch manchmal wirklich nötig war, zählte unsere Klasse doch tatsächlich fünfzig Schülerinnen und Schüler.

    Einer war zum Beispiel der Sohn vom Bären, ein anderer kam aus einer Bauersfamilie, einer von der Käserei, einer war der Sprösslich eines Beamten und ich vom Carunternehmer. Eine kunterbunt zusammengemischte Bande von Buben, die oft Unsinn im Sinn hatten.

    Von den Mädchen weiss ich leider nichts mehr. Ausser vielleicht, dass ich gerne die gescheite Regula als meine Freundin gehabt hätte, doch sie bevorzugte einen andern. Mehr Glück hatte ich mit der zierlichen Esther. Freilich beruhten solche Beziehungen nicht immer auf absoluter Gegenseitigkeit. Meine Gefühle übermittelte ich der Angebeteten jeweils während des Unterrichts, indem ich ihr im Geheimen, dann wenn der Lehrer mit dem Rücken zu uns an der Wandtafel stand, ein Zettelchen mit den rührigen Worten «Ich liebe dich» zuschob. Es kam selbstverständlich vor, dass sich der Lehrer in genau diesem Moment zu uns umdrehte und sah, was ich da machte. Die Strafe folgte auf dem Fuss. Aber was bedeuteten schon diese Freundschaften, es ging vor allem darum, bei den Kameraden angeben zu können, dass man eine Freundin hatte, mehr war da nicht, zu jung waren wir.

    Zweimal war ich in eine Schlägerei verwickelt. Das erste Mal auf dem Pausenplatz vor unserem Schulhaus. Ob es bei diesem heftigen Streit bereits in meinem jungen Alter um ein Mädchen ging ‒ Regula oder Esther vielleicht ‒, weiss ich nicht mehr. Auf alle Fälle liess ich mich von einem Buben aus einer andern Klasse provozieren. Und ich provozierte zurück. Meine Schulkameraden standen im Kreis um uns herum und sagten immer wieder zu mir, ich soll aufhören, denn der andere sei stärker. Es half nichts, er schubste mich, ich fiel zu Boden, stand wieder auf und stiess ihm die Faust ins Gesicht. Und so ging es weiter bis

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