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Prager Requiem
Prager Requiem
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eBook340 Seiten4 Stunden

Prager Requiem

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Über dieses E-Book

Prag, Frühjahr 1996. Eine Mordserie erschüttert die Goldene Stadt. Der Täter mordet immer an Jahrestagen von Heiligen und liebt grausame Inszenierungen. Der ermittelnde Major Svátek und seine Assistentin Eva Krásná stehen vor einem Rätsel. Welche Rolle spielt der reiche Geschäftsmann Jan Fajn, der als Spätberufener kurz vor seiner Priesterweihe steht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden seiner Pflegetochter und den Morden? Der Fall nimmt eine dramatische Wendung, als Eva entführt wird. Svátek muss nun schnell und unkonventionell handeln, um das Geheimnis des Prager Requiems zu lüften. Spannend und mitreißend schreibt Michael Hetzner über die Abgründe der Goldenen Stadt.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum16. Juli 2012
ISBN9783862820962
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    Buchvorschau

    Prager Requiem - Michael Hetzner

    Introitus

    25. April 1996

    Der Tod besitzt etwas Schönes und Erhabenes. Wie er da so hängt, still und friedlich, strahlt er eine Würde aus, die er in seinem ganzen armseligen Leben nicht gekannt hat.

    Die alten Meister wussten um die Würde des Todes. Ihre Bilder spiegeln die Ehrfurcht, die sie ihm entgegenbrachten. Sie wussten um den weihevollen Ernst des Todes, den wir heute nicht mehr kennen.

    Auch ich habe ein Kunstwerk geschaffen. Aber was für eine mühsame Arbeit, was für eine Plackerei. Das viele Blut. Unästhetisch.

    Doch jetzt empfinde ich dieses herrliche, wunderbare, nie gekannte Gefühl. Ich bin voller Ruhe und

    Genugtuung?

    Freude?

    Siegestaumel?

    Mag sein, aber dahinter verbirgt sich etwas Größeres, Erhabeneres Lust!

    Jetzt weiß ich, was mich an den Märchen und Sagen, die mir Vlasta als Kind erzählte, so faszinierte. Vor allem an der Sage von der Wilden Šárka. Es war die Lust am Töten.

    Prag, die Hunderttürmige und Goldene, ist vor allem eins ein Opferstein der Geschichte.

    Ich habe ein Opfer hinzugefügt. Die Inszenierung hat etwas von der Schönheit alter Heiligenbilder. Ein vom Schmerz verklärtes Gesicht, das dieser Welt bereits entsagt hat.

    „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang", heißt es bei Rilke.

    Und das ist es: Der Anfang meines neuen Lebens.

    Teil 1

    Requiem aeternam

    29. und 30. April 1996

    Exakt um 13.31 Uhr trafen Václav Svátek und Eva Krásná ein. Vor dem Haus in der Přistavní 27 stand ein Wagen der Stadtpolizei und sperrte den Zugang ab. Aus dem Wagen drang gedämpfte Countrymusik. Neben dem Wagen gingen zwei Polizisten auf und ab. Die ersten Schaulustigen hatten sich vor der Absperrung versammelt. Ganz vorne stand eine junge Mutter mit einem Säugling auf dem Arm, die blanke Neugier im Gesicht.

    Svátek nickte dem älteren der beiden Polizisten zu: „Ahoj, Karel."

    Der Mann erwiderte Sváteks Gruß und wies über den Hof: „Dort hinten, Herr Major."

    Mit offenem Mund starrte Karels Kollege Eva an. Seine Augen wanderten langsam von ihren hohen Pumps über die langen Beine und den engen Rock hinauf zu ihren großen Brüsten. Die glänzend blonde Mähne fiel locker über ihre Schultern. Nur kurz verharrten seine Augen auf ihrem schönen slawischen Gesicht. Dann begann er erneut, sie mit seinen Blicken auszuziehen.

    Schließlich starrte er Svátek an. Dieser konnte die Verachtung förmlich spüren. Für den kleinen Polizisten sah der Leiter der Prager Mordkommission nach zu viel Geld aus. Sváteks hellgrauer Leinenanzug, das marineblaue Hemd und die maisgelbe Seidenkrawatte mussten ein kleines Vermögen gekostet haben. Genauso wie die Schuhe mit dem kleinen Messingschild: Milano Torresi. Auch Sváteks randlose Brille war sicher nicht billig gewesen. Und erst recht nicht der Cadillac Sixty Two, mit dem er vorgefahren war. Einen Augenblick lang spürte Svátek den Blick des Polizisten auf der langen Narbe an seinem Unterkiefer ruhen. Bis heute dachten viele, daran wäre ein Messerstecher schuld. Nur wenige kannten die Wahrheit. Es waren die Kommunisten gewesen.

    Svátek schritt mit Eva zum Tatort. Ein schlanker, groß gewachsener Mann mit kurzem weizenblonden Haar und aristokratischen Gesichtszügen. Er hörte noch, wie Karel seinem Kollegen zuflüsterte: „Das ist der berühmte Major Svátek. Und er hörte auch, was der andere Polizist antwortete: „Svátek, der Heilige. Haben wir nicht schon genug Heilige in diesem Land?

    Entschlossen ging Svátek auf den Tatort zu. Das Miethaus auf der rechten Seite sah aus wie das schrundige Gesicht eines alten Mannes. An den weißen Doppelfenstern blätterte die Farbe ab, der Putz bröckelte, die Dachrinnen waren durchgerostet und das Pflaster krumm getreten. Die Bewohner lehnten sich weit aus den Fenstern und starrten auf den Hof. Ein paar von ihnen hatten sich ein Kissen auf die Fensterbank gelegt. Jetzt fehlten nur noch das Urquell und die Erdnüsse. Ein Mann im Erdgeschoss, bleich, knochig, kahl, starrte Svátek vorwurfsvoll an: Wie könnt ihr nur zulassen, dass so etwas hier passiert? Der Mann kam Svátek auf eine fremde Weise vertraut vor. Das knochige Gesicht erinnerte ihn an Pokorný.

    Am Ende des Hofes standen in einer Reihe fünf Garagen mit rostbraunen Stahltüren, daneben eine alte Halle mit Flachdach, die weiträumig mit einem Plastikband abgesperrt war. Vor der Absperrung humpelte eine alte Frau wie ein grimmiger Kettenhund auf und ab. „Na endlich, ich hab um eins angerufen, warum lasst ihr euch so viel Zeit? Man bezahlt schließlich seine Steuern, bellte sie Svátek mit verkniffenem Gesicht an. Die Alte trug zerschlissene Hausschuhe mit riesigen Löchern, aus denen ihre Hühneraugen ins Freie blickten. Auf ihrer Arbeitsschürze ließ sich mühelos der Speiseplan der letzten Wochen ablesen, und die Warze auf ihrer Nase funkelte Svátek böse an. Schon setzte die keifende Stimme erneut ein. „Ich bin die Maierová. Dann brach ein lauter Redeschwall aus ihr heraus: über den Gestank im Hinterhof, über die Katzen der Fischerová, die hier alles vollscheißen würden, und wie sie schließlich in die Halle gegangen sei, weil dieser Geruch doch irgendwie sonderbar war. Jedes Wort ein Biss, jeder Satz ein Hieb. Sváteks Augen wurden schmal, als er dicht vor die Alte trat und leise fragte: „Und was haben Sie in der Halle gesehen?"

    „Nichts, antwortete sie, „da drin ist es so dunkel wie in einer Höhle.

    „Und woher wissen Sie dann …?"

    „Weil ich den Krieg erlebt habe. So riecht es nur, wenn einer schon halb verfault ist."

    Svátek dachte an seine Kindheit in Berlin. An all die Trümmer und Leichenberge. Er nickte.

    „Das da drin, quasselte die Maierová weiter, „kann nur der Jiří Schwarz sein, dieser Zuchthäusler.

    „Woher kennen Sie Jiří Schwarz?"

    „Der wohnt bei uns im Haus. Er hat die schönste Wohnung gekriegt."

    Svátek warf einen Blick auf den Mann am Fenster. Der starrte ihn noch immer an. Mit einer energischen Handbewegung schnitt Svátek der Alten das Wort ab, zog mit raschem Griff seine Luger aus dem Halfter und schaltete die große Stablampe ein. Entschlossen schritt er auf die Halle zu und stieß die Tür mit einem heftigen Tritt auf. Er verschwand in der Halle, um keine zehn Sekunden später wieder herauszutaumeln. Nach Luft japsend lehnte er sich an die Wand und kotzte.

    „Was ist da drinnen?", fragte Eva.

    Er zuckte mit den Schultern, würgte erneut.

    „Dieser Gestank …"

    Svátek sog die frische Luft tief in sich ein. Dann ging er zurück zur Hallentür und stieß die beiden Flügel mit dem Fuß auf.

    Eva griff in ihre Handtasche und nahm einen Flakon Parfüm heraus. Sie tränkte ihr Taschentuch mit Passion und hielt es sich unter die Nase. Dann reichte sie den Flakon Svátek. Mit einem Taschentuch unter der Nase schritt dieser erneut auf die Tür zu. Eva folgte ihm.

    „Was wir da wohl finden werden?", fragte sie.

    „Dem Gestank nach ein gutes Dutzend toter Katzen oder einen toten Zuchthäusler."

    Vorsichtig, um keine Spuren zu verwischen, betraten sie die Halle. Ein süßlicher Geruch schlug ihnen entgegen.

    Durch die geöffnete Tür drang Tageslicht herein, dennoch lag der größte Teil der Halle im Dunkeln. Svátek suchte den Lichtschalter, vergeblich. Eva leuchtete ihm. Im Schein der Lampe sah er, dass ihn die geöffnete Motorhaube eines Porsche Targa anstarrte wie das hungrige Maul eines Haifischs. Der Motor fehlte. Dieser stand auf einer Werkbank. Sváteks Blick wanderte zur Decke. Etwas unterhalb der hohen Betondecke verlief eine Eisenschiene. Sie führte von der linken Seitenwand in einem Bogen zur Mitte der Halle, dann nach hinten, wo sie in einem zweiten Bogen an der Wand endete.

    Da setzte die Musik ein.

    Re qui em ae ter nam do na e is, Do mi ne:

    et lux per pe tu a lu ce at e is.

    Nach dem Introitus erwartete Svátek das Kyrie. Doch nach einer kurzen Pause erklang erneut der Introitus:

    Re qui em ae ter nam

    Mozarts Requiem, komponiert auf dem Sterbebett.

    In diesem Augenblick ging das Licht an. Eva hatte den Schalter gefunden. Jetzt konnten sie sehen, woher der Gestank kam. Im hinteren Teil der Halle hing etwas an einer Kette von der Decke – ein Mensch. Man sah nur ein paar behaarte Beine, Kopf und Oberkörper steckten in einem rostigen Fass, das fast bis zum Rand mit einer zähen, dunklen Flüssigkeit gefüllt war. Svátek ging langsam auf den Toten zu. Die Beine waren mit einer schweren Kette zusammengebunden, die zu einem Elektromotor an der Decke führte. Soweit er sehen konnte, war der Tote völlig nackt.

    Eva blickte in das Fass. „Altöl."

    Füße und Beine waren bereits in Verwesung übergegangen und die Kette hatte sich tief ins Fleisch gegraben. Svátek presste sein Taschentuch auf Mund und Nase.

    „Maden. Da werden sich die Schneemänner freuen", sagte er.

    Es war das Schlimmste, was er je gesehen hatte; einschließlich der Morde des Prager Zerhackers. Svátek ging in die Knie. Das Fass stand beinahe einen halben Meter über dem Boden auf einigen Steinen. Er streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über, nahm einen Schraubenzieher von der Werkbank und stocherte unter dem rostigen Fass herum. Asche und Schlacke.

    „Wer immer den Kerl umgebracht hat, hat ihn vermutlich vorher noch gefoltert."

    Um das Fass herum war der Lehmboden schwarz vom Öl, ein paar Fußabdrücke zeichneten sich ab. Auf der Werkbank herrschte ein gewaltiges Chaos. Schrauben, Muttern, Unterlegscheiben, Dichtungsringe, ein paar Schraubenschlüssel, ein Hammer, ein Bandmaß, Schraubenzieher, eine Bohrmaschine und ein Winkelschleifer, alles lag wild durcheinander. In einem mit Ölflecken verschmierten Karton von Giovannis Pizzaservice lag eine angebissene, mit Schimmel überzogene Pizza. Daneben stand eine halbleere Flasche Asti Spumante. Svátek nickte Eva zu. Fürs Erste hatten sie genug gesehen. Sie verließen die Halle.

    Der Alte lehnte noch immer im Fensterrahmen und starrte zu ihnen herüber. Svátek griff zu seinem Handy und rief die KTU an. „Wir haben hier etwas für euch. Das volle Programm. Kommt so schnell ihr könnt."

    Knapp fünfzehn Minuten später waren sie da. Petra Kuhnová führte die Schneemänner in ihren weißen Schutzanzügen an.

    „Was, wann, wie, und das alles möglichst sofort, begrüßte ihn die Kuhnová. „Ich weiß.

    „Wir lassen euch in Ruhe arbeiten", entgegnete Svátek.

    Die Schneemänner setzten ihre Gesichtsmasken auf und streiften sich dünne Latexhandschuhe über. Dann gingen sie in die Halle und packten ihre Metallkoffer aus. Fotoapparate, Blitzlicht, eine Videokamera, Plastiktüten, Pulver, Flüssigkeiten und Werkzeuge.

    Es war gut, dass die Kuhnová diesen Tatort übernommen hatte. Sie war ein resolutes Weib von knapp drei Doppelzentnern, die nicht viele Worte machte, aber ihre Arbeit mit zäher Verbissenheit verrichtete. Ihr entging nichts, und ihre Berichte waren so scharf wie ein Rasiermesser.

    In diesem Augenblick kamen Sváteks Kollegen Baloun und Fischer über den Hof. Baloun, groß, massig und mit nur unvollkommener Rasur, schritt wie ein König auf Svátek zu. Er trug, was er immer trug: Eine mausgraue Hose und ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen, das sich über seinem veritablen Bauch spannte. Einen dunkelblauen Blouson, der an den Ärmeln etwas abgewetzt war und dessen Kragen ein Meer voller Schuppen bedeckte. Die leicht fettigen Haare waren nach hinten gekämmt und standen am Kragen auf. Äußerlich war er die Inkarnation des Bierund Knödeltschechen, wovon nicht zuletzt sein rundes Gesicht und die roten Wangen zeugten. Jeder, der ihn so sah, hätte ihn für einen einfachen Menschen mit schlichtem Gemüt gehalten. Aber Baloun war weder das eine noch das andere. In seinem runden Gesicht saßen zwei wache Augen, die jeden kritisch musterten und deren spöttischer Ausdruck fast niemanden verschonte. Seine bissigen Bemerkungen über seine Vorgesetzten, mit Ausnahme von Svátek, wurden von vielen Kollegen wie die Aussprüche eines Weisen behandelt.

    Einen Schritt hinter Baloun kam Fischer. Auch er, hager und gut zwei Köpfe kleiner als Baloun, blieb der vor vielen Jahren gewählten Kleidung treu: Altmodischer dunkelgrauer Anzug mit Fischgrätmuster und dunkelbraune Schuhe, wie sie vor zwei oder drei Jahrzehnten im Kreis biederer Bürger der Sozialistischen Republik schick gewesen sein mochten. Dazu eine dunkelblaue Krawatte. Morgen würde er eine silberne tragen und übermorgen wieder die dunkelblaue. Das war das Äußerste, was er sich an Abwechslung gönnte, denn wie bei Baloun war Konstanz sein Markenzeichen. Und seine unerschütterliche Treue zu Baloun. Die beiden würden am gleichen Tag in den Ruhestand gehen. Auf die Minute genau. Ein perfekteres Team konnte man sich kaum vorstellen.

    „So etwas Scheußliches habe ich noch nicht gesehen", begrüßte Svátek die beiden.

    „Das schau ich mir an, sagte Baloun und ging, ohne zu zögern, in die Halle. Wenig später kam er zurück. Sein Blick fiel auf die Hausbewohner an den Fenstern. „Die haben heut einen Logenplatz.

    Der knochige Mann im Erdgeschoss führte gerade eine Bierflasche zum Mund.

    „Prost", sagte Baloun trocken.

    „Also, sagte Svátek, „fangen wir an.

    Die Klingeln an der Haustür verrieten, dass in dem Wohnblock neun Parteien lebten. Jeweils zwei Wohnungen lagen einander gegenüber. Im obersten Geschoss gab es nur eine Wohnung. Wie immer fingen Baloun und Fischer unten an, während Svátek und Eva die oberste Wohnung, die des Toten, durchsuchten. Die Tür war mit drei Schlössern gesichert, und bislang hatten sie nirgends einen Schlüssel gefunden. Sie streiften sich erneut Latexhandschuhe über, Svátek zog ein Lederetui mit einem Bund kleiner Stifte und Schlüssel hervor, und nach wenigen Handgriffen sprang die Tür auf.

    Verschaff dir zuerst einen Überblick. Den Rat seines alten Mentors, Hauptmann Sterzik, hatte Svátek zu seiner Maxime gemacht. Der Hauptmann war ein sanfter Mensch und überzeugter Kommunist gewesen. Für ihn hatte das Verbrechen nur existiert, weil die gesellschaftliche Entwicklung noch nicht abgeschlossen war. So wenig Svátek diese Meinung teilte, so viel hatte er von dem erfahrenen Kriminalisten gelernt. Wenn du einen Raum betrittst, achte auf den ersten Eindruck. Auch diese Regel des Hauptmanns war Svátek in Fleisch und Blut übergegangen. In der Wohnung von Jiří Schwarz bemerkte Svátek eines sofort: Die Bilder passten nicht zusammen. In der Halle überall Unordnung und Schmutz, während die helle Penthousewohnung mit Designermöbeln ausgestattet war.

    Sie fingen mit der Küche an. Eine Theke mit drei eleganten Sitzen aus gebürstetem Aluminium beherrschte den Raum. Der Kühlschrank war bis auf ein Glas mit sauren Gurken und ein paar Eiern leer. Auf einem Teller lag ein Stück Apfelstrudel, auf einem anderen ein paar Scheiben mit vertrocknetem Rauchkäse. Aus dem offenen Backofen drang der schwache Geruch von Zwiebeln und Knoblauch.

    Auch im Schlafzimmer war alles peinlich sauber und aufgeräumt. Über die ganze Länge einer Wand verlief ein begehbarer Schrank aus Mahagoni. Sämtliche Hosen, Jacketts und Anzüge waren schwarz. Auch ein Smoking hing dort, sorgfältig in eine Zellophanhülle verpackt, als sei er soeben aus der Reinigung gekommen. Die Hemden waren fast alle weiß, nur hin und wieder gab es ein beiges oder ein hellblaues. Dazu jede Menge Krawatten. Auf dem Boden standen italienische Schuhe aus feinem Leder.

    Sie schauten sich gründlich um, blickten unter die Teppiche und hinter die Bilder. Nichts. Auf dem Nachttisch lag die Brieftasche des Toten mit dreihundertfünfundsiebzig Kronen und zweiundzwanzig Heller sowie einer Kundenkarte der Komerčni banka. Keine Kreditkarte, keine EC-Karte.

    Eva war es, die schließlich die Handschellen entdeckte. Eine an jedem Bettpfosten. Das erklärte auch den kleinen Schlüssel auf dem Nachttisch. Eva probierte ihn aus. Er passte in alle vier Schlösser. Sie nahm einen Kugelschreiber, hob eine der Handschellen hoch und entdeckte ein paar winzige dunkelrote Spritzer. Blut? Die gleichen Spuren fanden sich auch an den anderen Handschellen.

    „Hier hat sich offensichtlich jemand heftig gewehrt."

    Eva fand noch etwas. In der Mitte der Matratze schimmerte etwas durch das dünne Leintuch. Vorsichtig hob sie das Tuch hoch. Ein kleiner Fleck.

    „Könnte Blut sein."

    Das Wohnzimmer war riesig. Über seine gesamte Länge erstreckte sich eine Fensterfront aus getöntem Glas und bot einen herrlichen Blick über die Stadt.

    Irgendetwas irritierte Svátek.

    Sein Blick glitt suchend durch den Raum. Die Sitzgruppe aus schwarzem Nappaleder und der dunkle Marmortisch standen genau in der Mitte. Hinter ihnen eine hohe Schrankwand. Neben der Sitzgruppe hingen drei Kunstdrucke, der Größe nach geordnet: Das weiße Pferd von Gaugin, Signacs Leuchtturm bei Groix und van Goghs Blick auf Arles. Doch auf der linken Seite hing nur ein Bild, die Nymphéas von Monet. Zwei kaum sichtbare Ränder aus feinem Staub zeugten davon, dass hier zwei weitere Bilder gehangen hatten. Auf dem Beistelltisch neben dem rechten Sessel stand eine Bronzefigur, eine nackte Frau mit endlos langen Beinen und riesigen Brüsten. Der Sockel der Figur hatte die Form einer Ellipse. Exakt das gleiche Beistelltischchen stand neben dem linken Sessel. Svátek kniete sich davor, neigte den Kopf und blickte auf die Tischplatte. Auf der staubigen Oberfläche erkannte er den kaum sichtbaren Abdruck eines Ovals. Irgendjemand hatte die Symmetrie des Raumes zerstört. Svátek nahm die Bronzefigur in die Hand und drehte sie um. Eine Reproduktion aus Taiwan. Dafür würde niemand morden.

    „Fällt es dir auch auf?", fragte er Eva.

    „Die Wohnung eines schwachen Menschen. Nur ein schwacher Mensch braucht so viel Symmetrie."

    Während sie ihre Augen durch den Raum schweifen ließ, fügte sie hinzu: „Und eines einsamen. Es gibt so gut wie nichts Persönliches, keine Fotos, keine Briefe, nicht einmal einen Kontoauszug oder ein Telefonverzeichnis."

    „Der letzte Brief war eine Aufforderung des Finanzamts, die Steuererklärung bis zum September des vergangenen Jahres einzureichen."

    Einsam sein, das kannte Svátek.

    Sein Blick fiel auf das Telefon. Er nahm den Hörer ab und drückte auf Wahlwiederholung. Auf dem Display erschien eine Nummer, die er sich notierte. Dann betätigte er die Kurzwahltasten. Nichts.

    Es läutete an der Tür. Draußen stand die Kuhnová.

    „Das müsst ihr euch ansehen."

    Als sie in die Halle kamen, umstanden die Schneemänner das Fass mit dem Toten. Neben ihnen Baloun und Fischer.

    „Zeigt’s ihnen", sagte die Kuhnová. Zwei der Schneemänner zogen an der Kette und hievten den Leichnam nach oben. Dann banden sie die Kette mit einem Seil an der Werkbank fest. Die starken Scheinwerfer der KTU tauchten die Szene in ein gespenstisches Licht.

    Träge tropfte das Öl von dem Toten. Und dann sahen sie es. Der Mann trug einen Strahlenkranz um den Kopf, der im Licht der Halogenlampen silbrig blitzte. Der Mörder hatte seinem Opfer lange Schrauben in den Kopf getrieben, die weit abstanden.

    „Vašek, schau." Wie viele Kollegen sprach die Kuhnová Václav Svátek mit der Verkleinerungsform seines Vornamens an. Nun nahm sie einen kleinen Pinsel und strich ein wenig Öl von der Schläfe des Toten, genau dort, wo eine der Schrauben steckte. Eine schmale Blutkruste wurde sichtbar.

    „Das entstand post mortem. Sonst hätte die Wunde viel stärker geblutet."

    Als Svátek näher trat sah er, dass Kopf und Oberkörper des Toten rundum mit Brandblasen übersät waren. Man hatte ihn gekocht wie ein Stück Fleisch.

    Svátek fühlte sich müde und fror.

    „Die Tonne, der Strahl von Kuhnovás Stablampe glitt in eine Ecke, die im Schatten der großen Scheinwerfer lag, „stand zunächst dort hinten und zwar leer. Sonst wären die Abdrücke auf dem Lehmboden tiefer. Dann wurde sie hierher gerollt und mit Öl gefüllt.

    „Und woher kam das Öl?"

    Der Strahl der Stablampe glitt in eine andere Ecke, wo rostige Kanister kreuz und quer übereinander lagen. Der Lichtstrahl wanderte weiter zu einem großen Kohlenhaufen.

    „Die Fußabdrücke rund um das Fass sind Größe sechsundvierzig. Der Tote hatte dreiundvierzig."

    „Der Mörder muss groß und kräftig sein", sagte er.

    „Oder auch nicht, widersprach die Kuhnová. „Die Abdrücke in dem aufgeweichten Boden müssten eigentlich viel tiefer sein.

    „Das heißt, entweder haben wir es mit einer ziemlich leichten Person zu tun, die außergewöhnlich große Füße hat. Oder jemand hatte Schuhe an, die ihm einige Nummern zu groß waren."

    „Könnte es sich um eine Frau handeln?"

    Alle sahen Eva an. Daran hatte bislang noch niemand gedacht.

    „Wohl kaum, bemerkte die Kuhnová, „es sei denn, sie wäre tschechische Meisterin im Gewichtheben.

    Dann wies sie mit der Hand auf einen schwarzen Klumpen auf dem Boden. Im Licht eines der Scheinwerfer erkannten sie ein kleines Kätzchen. Tot.

    „Dem Tier wurden zuerst ein Teil des Fells und das linke Auge angesengt, sagte die Kuhnová, „dann wurde es erstochen. Sie hob einen dünnen Schraubenzieher vom Boden auf. „Vermutlich damit."

    Warum nur so viel Grausamkeit? Warum nur so viel Hass?

    Svátek wandte sich an die Kuhnová und fragte: „Wann?"

    Sie blickte ihn fest an. „Sobald mein Bericht vorliegt, wissen wir mehr."

    Svátek und Eva versiegelten die Wohnung des Toten, dann begannen sie mit der Befragung der Hausbewohner. Während sie vor der Wohnungstür von Paní Maierová warteten, ging Svátek ein Gedanke durch den Kopf. Irgendetwas an diesem Tatort war seltsam. Das Ganze wirkte so … so … Er konnte sein diffuses Gefühl nicht in Worte fassen.

    Die Maierová wiederholte in weinerlichem Tonfall ihre Geschichte, ohne dass sie etwas Neues erfuhren. Dann senkte sie ihre Stimme wie eine Verschwörerin.

    „Der Schwarz hat schon einmal gesessen, dieser Zuchthäusler. Und was der für Geschäfte machte …"

    „Was wissen Sie darüber?" Sváteks Stimme klang gereizt.

    „Man hört und sieht so Manches, sagte sie kryptisch. „Und den Rest kann man sich denken.

    „Ach ja?"

    „Nun, Herr Major, nicht dass Sie glauben, die Maierová sei ein Klatschmaul …"

    Genau das glaubte er.

    „Ich will über niemanden etwas Schlechtes sagen, und über Tote schon gar nicht. Regelmäßig gearbeitet hat der Schwarz aber nicht. Geld besaß er trotzdem immer, trieb sich mit Weibern herum und brachte jede Menge Flittchen mit nach Hause."

    Nach einem tiefen Seufzer fuhr sie fort.

    „Ich will nicht behaupten, dass früher keine Fehler gemacht wurden. Aber im Großen und Ganzen ging es den Menschen besser."

    Svátek hatte genug. Er stand auf.

    „Was denn, Herr Major? Wollen Sie schon gehen? Ich hab Ihnen doch noch gar nicht alles gesagt. Da war zum Beispiel dieser …"

    „Ich denke, es genügt", sagte Svátek müde. Er wollte nichts mehr von diesem Unsinn hören.

    „Da will man den Behörden behilflich sein, und das ist der Dank", maulte die Alte, wobei sie ihn vorwurfsvoll anblickte.

    Jetzt reichte es Svátek endgültig. Sein ausgestreckter Zeigefinger stach durch die Luft. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was wirklich wichtig ist, rufen Sie uns an." Er nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

    „Er war ein feiner Mensch, der Herr Schwarz. Immer freundlich und hilfsbereit." Paní Fischerová hatte Eva und Svátek in die Küche geführt, von der aus sie auf die Halle und den Hinterhof blicken konnten. Sie trank gerade Kaffee und bot ihnen auch eine Tasse an. Eva nahm dankend an, Svátek bat um ein Glas heißes Wasser. Als Paní Fischerová das Glas vor ihn hinstellte, zog er einen Beutel Klub čaj, einem milden tschechischen Schwarztee, aus dem Jackett.

    Es gab frische Buchteln.

    „Erst heute Mittag gebacken, sagte Paní Fischerová. „Greifen Sie zu.

    Die mit Puderzucker bestreuten Hefeknödel waren mit Pflaumenmus gefüllt und schmeckten köstlich.

    Svátek und Eva saßen eng beieinander. Ihre Stühle berührten sich fast und er spürte ihren Körper und den warmen Atem, der seine Wangen leicht und erregend umspielte. Mit großen Augen blickte er seine schöne Assistentin an. Wenn nur dieser verfluchte Altersunterschied nicht wäre. Eva war gut dreißig Jahre jünger als er.

    „Meinen Mann, sagte Paní Fischerová, „den haben die Nazis geholt. Seither bin ich allein. Was soll eine Frau machen, wenn der Wasserhahn tropft oder ein Fenster nicht mehr richtig schließt? Da hab ich den Herrn Schwarz gefragt. Er war zwar ziemlich verschlossen, aber geholfen hat er mir immer. Dafür hab ich ihm manchmal etwas gebacken. Einen Strudel, ein paar Buchteln. Das hat er immer gern gegessen. Nehmen Sie doch noch. Paní Fischerová schob ihnen den Teller hin. „Er war ein schicker Mensch. Wenn er am Abend in seinen eleganten Anzügen ausging, da haben sich die Weiber sicher nach ihm umgedreht. Nur in den letzten Monaten …" Paní Fischerová schwieg und presste ihre Hände auf den Mund, als habe sie bereits zu viel gesagt.

    Svátek nickte der Paní aufmunternd zu.

    „Sie dürfen uns nichts verschweigen, jedes Detail kann wichtig sein."

    Zögernd sprach Paní Fischerová weiter.

    „Also in den letzten Monaten, da hat sich der Herr Schwarz irgendwie verändert. Er wirkte nervös und gehetzt, grüßte nur kurz und schien

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