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Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn
Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn
Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn
eBook285 Seiten3 Stunden

Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn

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Über dieses E-Book

Der Leipziger Kommissar Mike Brand hat viel Geld, aber keine Freunde. Als bei einer Schießerei sein Arm zerfetzt wird und seine Kollegin und Verlobte Susan bei einem Einsatz in Heilbronn einem Mordanschlag zum Opfer fällt, tritt Mike blind vor Hass einen Rachefeldzug an. Doch die Mordkommission verfolgt ein Phantom, das seine Spuren in ganz Europa hinterlässt. Der beurlaubte Mike ermittelt auf eigene Faust und trifft auf undurchsichtige Schausteller, zwielichtige Obdachlose und wütende Raubkatzen. Die Jagd nach dem Phantom führt den Leipziger Kommissar von der Heilbronner Theresienwiese ins tschechische Drogen- und Mafiamilieu. Seine eigene schuldhafte Vergangenheit wirft einen langen Schatten auf das Geschehen – Mike und der Mörder sind sich ähnlicher, als es zunächst scheint. Inmitten eines gefährlichen Gespanns aus Menschen, die alles verloren haben, droht Mike die Kontrolle zu entgleiten und selbst zum Gejagten zu werden …
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2013
ISBN9783862822256
Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn

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    Buchvorschau

    Phantomspuren. Das Phantom von Heilbronn - Michael Hetzner

    Prolog

    Leipzig, April 2007

    Er hasste es, zu spät zu kommen. Deshalb saß er jetzt fast eine Stunde vor der Zeit in seinem Maserati und wartete.

    Am Nachmittag hatte er sich hier umgeschaut und den Schuppen entdeckt. Die Türen hingen windschief in den Angeln. Doch sie ließen sich überraschend leicht öffnen. Ein ideales Versteck. Eine Seitentür führte von hier in die stillgelegte Ziegelfabrik. Hinter der Tür führte eine Eisentreppe nach oben. Mike war die rostigen Stufen emporgestiegen. Im ersten Stock hatte er entdeckt, wie ideal dieser Zugang war. Der Raum, in dem die Übergabe stattfinden sollte, lag nur wenige Meter entfernt. So musste er nicht den Haupteingang benutzen und den langen Flur entlang schleichen.

    Eigentlich ging ihn dieser Einsatz nichts an. Oliver Grabowski observierte zusammen mit seinem Kollegen Enrico Klein seit Monaten ein paar albanische Dealer der Leipziger Rauschgift-Szene. Vor sechs Wochen hatte er einen großen Deal eingefädelt und heute Abend würde er zwei Männer aus dem Verkehr ziehen. Doch vor ein paar Stunden hatte sich Enrico Klein krank gemeldet und Oliver hatte sich an Mike gewandt. Immerhin waren die beiden jahrelang Kollegen im Morddezernat gewesen.

    „Ich treffe mich mit den beiden um zwanzig Uhr, hatte Oliver zu ihm gesagt. „Dann ist es dunkel. Du kommst zehn Minuten später, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Oliver hatte Mike Fotos sowie einen Grundriss der alten Fabrik zugeschoben. Mit Textmarker war ein ehemaliges Büro im ersten Stock markiert.

    „Wir schnappen uns die beiden allein. Keine Kavallerie. Auch bei uns gibt es ein paar undichte Stellen und ich will nicht, dass mir jemand die Übergabe vermasselt."

    Oliver war äußerst ehrgeizig und es ging um eine ungeheure Menge Heroin: zehn Kilo. Wenn alles gut ging, wäre Oliver eine Beförderung sicher. Und nun saß Mike in seinem Maserati und dachte an Susan. Warum hatte er es so weit kommen lassen? Hatte er mit seiner Eifersucht alles zerstört oder gab es noch eine Chance für ihre Beziehung?

    Ein Schuss ließ ihn hochschrecken. Mike riss die Autotür auf und stürmte, die Heckler & Koch im Anschlag, nach oben. Er stürzte ins Büro. Oliver, das Gesicht kalkweiß und die Augen ein wenig zusammen gekniffen, warf sich herum und wollte soeben abdrücken, als er Mike erkannte. Er senkte die Waffe und Mike machte einen Schritt auf ihn zu. Einer der Albaner lag auf dem Boden und um seinen Kopf breitete sich eine rote Lache aus. Neben ihm stand ein schwarzer Lederkoffer. Der andere, fast noch ein Junge, hatte die Hände erhoben und starrte Oliver an, die Augen vor Todesangst aufgerissen. Sein Mund war wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Irgendetwas an dieser Szene irritierte Mike. Er machte einen Schritt auf den Dealer zu.

    „Achtung!" Der Schrei von Oliver gellte in Mikes Ohren, aber da war es schon zu spät. Der Dealer hatte unter seine Lederjacke gegriffen und hielt plötzlich eine Waffe in den Händen. Mike hörte, wie ein Schuss aufpeitschte und dann noch einer. Er spürte, wie sein linker Oberarm feucht wurde. Seltsam, fuhr es ihm durch den Kopf, es tut gar nicht weh. Dann wurde er ohnmächtig.

    Als Mike die Augen aufschlug, sah er in das Gesicht von Dr. Langer, dem Polizeipräsidenten. Für einen Augenblick dachte er, er habe nur schlecht geträumt und sitze in seinem Büro. Aber dann bemerkte er all die Schläuche, die aus seinem Körper ragten und hörte einen leisen Piepton. Mühsam drehte er den Kopf und sah schräg hinter sich einen Monitor. Neben seinem Bett hingen an einem Ständer mehrere Infusionen. Als Mikes Augen dem Blick des Polizeipräsidenten folgten, sah er es. Dort wo sein linker Arm sein sollte, war nur noch ein kurzer Stumpf.

    „Wie lange bin ich schon hier?", fragte Mike.

    „Zehn Tage. Sie wurden ins künstliche Koma versetzt. Die Ärzte meinen, Sie sind über den Berg." Der Polizeipräsident versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Mike spürte, wie erschöpft er war und am liebsten hätte er die Augen geschlossen und wäre wieder weggedämmert. Aber der ernste Blick von Dr. Langer ließ ihn nicht los.

    „Innendienst?", fragte Mike leise.

    Der Polizeipräsident nickte mechanisch. Mike wusste selbst, dass er mit einem Arm nur noch fürs Büro taugte.

    „Und Sie werden zum Kriminaldirektor befördert", sagte Dr. Langer. Aber die Anspannung in seinem Gesicht verschwand nicht. Hinter seinem Blick verbarg sich noch etwas Anderes, Schlimmeres.

    „Oliver?", fragte Mike.

    „Dem geht's gut." Noch immer entspannte sich die Miene von Dr. Langer nicht. Eine grässliche Angst stieg in Mike hoch, wie er sie erst einmal erlebt hatte – beim Tod seiner Mutter. Was konnte schlimmer sein, als einen Arm zu verlieren und den Rest seines Lebens in den Innendienst versetzt zu werden?

    „Susan", sagte der Polizeipräsident.

    Da spürte Mike wie ein glühendes Eisen in seinen Armstumpf fuhr und ein rasender Schmerz erwachte zum Leben. Und mit ihm der Hass.

    1

    Heilbronn, Freitag, 25. April 2008

    Als der Schuss fiel, war es fast eine Erlösung.

    Kaum hatte sie gesehen, wie vor ein paar Minuten das Polizeiauto auf den Platz gefahren war, wollte sie mit ihren Fäusten gegen die Fensterscheibe hämmern und rufen: Haut ab! Aber der Schmerz, der in ihrem Körper wütete, nagelte sie auf ihrem Stuhl fest. Regungslos musste sie zusehen, wie draußen alles seinen Lauf nahm.

    Sie hatte bereits seit einer Viertelstunde auf das Transformatorenhäuschen gestarrt, denn sie wusste, dahinter fand gerade ein Deal statt.

    Was sie mit angehaltenem Atem erwartet hatte, trat ein. Einer der Dealer tauchte hinter dem Trafohäuschen auf. Beim Anblick des Streifenwagens blieb er wie erstarrt stehen. Zuerst zeigte sich Angst in seinem Gesicht: Jetzt haben sie mich erwischt. Doch als die beiden Polizisten sich nicht rührten, entspannte er sich. Dann trat jene unbändige Wut in sein Gesicht, die ihn immer überfiel, wenn er eine Polizeiuniform sah. Er blickte sich nach allen Seiten um. Dann zog er etwas aus seinem Rucksack und zog es über sein Gesicht: eine Maske. Er griff zu seiner Waffe. Das Ganze war nur ein dummer Zufall. Die beiden Polizisten in dem Streifenwagen waren harmlos. Sie saßen einfach im Wagen, die Seitenfenster heruntergekurbelt, und machten Mittagspause. Da donnerte ein Güterzug über die nahe gelegene Brücke.

    Der Schuss riss der Polizistin den Kopf zur Seite und sie sank über dem Lenkrad zusammen. Aber warum reagierte der Beifahrer nicht? Warum sprang er nicht aus dem Wagen, griff zu seiner Waffe und verteidigte sich?

    Als sie die schreckliche Szene beobachtete, verschwand der grausame Schmerz in ihrem Körper für einen Augenblick und sie brüllte dem Polizisten zu: „Rette dich." Aber sie wusste, der Mann konnte sie nicht hören. Dann war es auch schon zu spät. Der Mörder rannte um den Wagen, griff nach seiner zweiten Pistole, und schon blitzte ein weiterer Schuss auf. Er zog das Opfer aus dem Wagen und wollte ihm die Waffe aus dem Holster reißen. Doch er bekam die Waffe nicht frei. In blanker Wut zerrte er das Holster mitsamt der Waffe vom Gürtel. Er machte sich noch einmal an dem Opfer zu schaffen und hielt die Handschellen des Polizisten in der Hand. Dann rannte er um den Wagen herum und zerrte die junge Frau aus dem Wagen. Dabei färbte sich sein T-Shirt rot von ihrem Blut. Er warf die Tote wie Abfall auf den Asphalt und nahm auch ihr Waffe und Holster sowie die Handschellen ab. Dann blickte sich der Mörder kurz um. Niemand schien ihn gesehen zu haben. Ohne sich zu besinnen, rannte er los. Geradewegs auf ihren Wohnwagen zu. Die Hände voller Blut.

    An dieser Stelle des Traums zog der langsam wiederkehrende Schmerz ihr Bewusstsein unaufhaltsam an die Oberfläche. Er riss sie aus dem Schlaf und stieß sie in die Vorhölle. In einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem Schmerz und Angst nicht mehr völlig dem Bewusstsein entzogen sind, aber auch noch nicht völlig präsent. So sehr sie sich wünschte, weiter zu schlafen und ihre Ruhe noch einen Moment lang zu behalten – sie wusste, das war nicht möglich.

    Schweißnass von den schrecklichen Träumen wälzte sie sich auf ihrem schmalen Bett in dem Wohnwagen hin und her. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Schmerz und Angst sie wieder völlig im Griff hatten.

    Sie konnte bis heute nicht sagen, was schlimmer war: der Schmerz oder die Angst. Aber der Schmerz hatte auch etwas Gutes: Wenn er von ihr Besitz ergriffen hatte, trat die Schuld in den Hintergrund. Die Ärzte hatten es ihr mehrmals erklärt, dennoch konnte sie bis heute nicht völlig begreifen, wie etwas, das gar nicht mehr da war, so schrecklich weh tun konnte,.

    Als sie völlig wach war, war es wieder da: Das vollkommen klare Bewusstsein darüber, was passiert war. Das Schlimmste war, dass sie mit niemandem über die Tat reden konnte. Obwohl so gut wie alle auf dem Festplatz in Heilbronn, wo ihr Wohnwagen jetzt stand, die Wahrheit kannten. Denn als die Tat geschah, waren keine hundert Meter entfernt die Vorbereitungen des alljährlichen Frühlingsfestes auf der Heilbronner Theresienwiese in vollem Gang gewesen. Aber alle hatten weggeblickt, denn niemand wollte sich mit dem Teufel anlegen. Und mit der Polizei redete man in diesen Kreisen ohnehin nicht. Schweigen war eisernes Gesetz und daran würde auch die ausgesetzte Belohnung nichts ändern.

    Aber eines Tages, darauf hoffte sie, würde jemand kommen und die schrecklichen Qualen von ihr nehmen. Und die Schuld. Sie musste nur geduldig warten, vielleicht war es bald soweit.

    Und dann, so als habe jemand einen Schalter umgelegt und jage ihr zehntausend Volt durch die Nerven, war der Schmerz wieder da. Sie spürte, wie er sie von unten aufschnitt. Sie krümmte ihre Zehen, als stünde sie auf einem glühend heißen Hochseil und eine unerhörte Qual fuhr durch ihre Wirbelsäule. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und zog sich mühsam an den Rand des Bettes. Fett war sie geworden, seit sie die meiste Zeit im Bett lag. Und obwohl man ihr immer etwas Gutes zum Essen hinstellte, ernährte sie sich hauptsächlich von Snickers, Mars, Bounty und Coca-Cola. Ihr Körper stank und das lange Haar, einst ihr ganzer Stolz, war matt und strähnig. Aber für wen sollte sie sich pflegen? Warum sollte sie noch auf ihr Äußeres achten?

    Mit zitternden Fingern griff sie nach dem kleinen Schlüssel in ihrer Hose und öffnete das Vorhängeschloss an der Kiste neben dem Bett. Ganz oben lag ihr Trikot mit der blutroten Schärpe, darunter ihre Schuhe. Doch sie hatte keinen Blick für die Requisiten ihrer Vergangenheit, ihre Hände tasteten sich ganz nach unten, wo die Spritzen und das Pulver lagen. Fast ohnmächtig vor Schmerzen bereitete sie den Schuss zu und stach dann die Nadel in ihre Vene. Zitternd wartete sie, bis die Wirkung einsetzte. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, aber dann wich der Schmerz aus ihrem Körper und sie schloss die Augen.

    Sie wusste nicht, wie lange sie so da gesessen hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, warf sie einen Blick nach draußen. Da stockte ihr der Atem. Nur ein paar Meter von dem Wohnwagen entfernt stand er – ihr Vater. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und starrte den Mann an. Sie wusste genau, dass das nicht sein konnte. Der Mann vor dem Fenster sah sich um und für einen Moment streifte sein Blick ihren Wohnwagen.

    Das Zeichen, schoss es ihr durch den Kopf. Das war das Zeichen. Der Tag war gekommen, an dem sich alles ändern würde. Rasch kramte sie den Schlüssel aus ihrer Hose und öffnete erneut die Truhe.

    2

    Leipzig, Freitag, 25. April 2008

    Der Anruf kam eine Minute nach Mitternacht. Er kannte die leidenschaftslose Stimme am anderen Ende der Leitung nicht. Ihre Botschaft war kurz und einprägsam: „Noch vier Tage. Du hast noch vier Tage Zeit."

    Das war keine leere Drohung. In diesen Kreisen gab es nur eine Warnung, nicht mehr. Jeder wusste, was danach kam. Und davor gab es kein Entrinnen. Auch nicht für ihn.

    Wenn die Sache nicht so verdammt ernst gewesen wäre, hätte er losgelacht. Denn er hatte ja die Ware. Aber er konnte nicht liefern. Nicht in seiner Situation. Wenn er die Ware abgeliefert hätte und in kurzer Zeit so viel Stoff auf den Markt gekommen wäre, wäre er innerhalb weniger Tage aufgeflogen. Zuerst musste er den Verdacht auf jemanden anderen lenken.

    Er wusste, sein eigentliches Problem lag darin, dass er gegen eine der eisernen Regeln verstoßen hatte: Nimm niemals einen Vorschuss. Ware gegen Cash, so lief das. Aber er hatte das Geld für die Anzahlung auf den Bungalow gebraucht. Denn wenn alles vorbei war, würde er keinen Augenblick mehr hier bleiben.

    Sie hatten nicht gezögert, als er um die 500.000 gebeten hatte. Du kannst uns ja nicht davon laufen, hatte der Boss mit seiner rauchigen Stimme gesagt und laut aufgelacht.

    Sein Plan war absolut perfekt gewesen. Nur dass ihm ein dummer Zufall in die Quere gekommen war. Aber so schnell gab er nicht auf. Schließlich hatte er einen Plan B. Und mit dem würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

    Vier Tage, hatte die Stimme gesagt. Du hast noch vier Tage.

    3

    Heilbronn, Freitag, 25. April 2008

    „Fremd bin ich eingezogen,

    Fremd zieh’ ich wieder aus …"

    Er stellte den CD-Spieler ab und der Bariton mit Schuberts Winterreise verstummte. Dann parkte er den roten Maserati zwischen zwei Wohnwagen direkt neben dem General-Wever-Turm. Am 4. Dezember 1944 hatten Bomber der Royal Air Force in einer halben Stunde die gesamte Innenstadt von Heilbronn in Schutt und Asche gelegt. 6.500 Menschen fanden den Tod. Ganze Familien wurden ausgelöscht. Die meisten verbrannten nicht, sie erstickten in dem Feuersturm, der durch die Stadt fegte. Doch der klotzige General-Wever-Turm an der Theresienwiese bot Schutz. Wer es bis hierher geschafft hatte, überlebte. Normalerweise diente die Theresienwiese (der Name geht auf ein Fest zurück, das man im Jahre 1815 zu Ehren von Maria Theresia gefeiert hatte) tagsüber als Parkplatz für Pendler. Doch jetzt wurden auf dem Platz Schießbuden, ein Autoskooter, eine Losbude und Stände aufgebaut, an denen man morgens Bratwürste, Zuckerwatte und gebrannte Mandeln kaufen konnte. Am Riesenrad wurden gerade die letzten Kabinen festgeschraubt. Am Rand des Platzes, nahe am Zaun, hatten die Schausteller ihre Wohnwagen aufgestellt. Eine Wagenburg, mit der sie sich vom Rest der Welt abgrenzten.

    Er stieg aus und hörte, wie knapp hundert Meter entfernt ein Güterzug über die Brücke rast: rattatat, rattatat. Der Bahnhof war nicht weit.

    Ein paar Meter vom Festplatz entfernt lag der Fluss, der vom Standort aus nicht zu sehen war – aber er kannte die Gegend aus den Akten, als sei er hier aufgewachsen. Langsam schritt er über den Platz zur Gedenktafel. Je näher er kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er mit Beton gefüllt. Ein paar Meter weiter, den Rücken ihm zugewandt, starrte ein Mann in den Fluss. Noch zwei, drei Schritte, dann stand er vor der Tafel. Die Sonne fiel auf das Messingschild und ließ es golden aufblitzen. Als er sich vorbeugte, verdunkelte sein Schatten die Tafel. Nur wenige Schritte von hier war sie gestorben. Kopfschuss. Fünfundzwanzig Jahre alt. Am Mittwoch, dem 25. April 2007, um 13.58 Uhr. Sie hatte arglos neben ihrem Kollegen Thomas im Streifenwagen gesessen. Auch Thomas erhielt einen Kopfschuss, aber er überlebte. Und dann geschah, was keiner für möglich gehalten hatte: Thomas wurde wieder völlig gesund. Nur, dass es den Ermittlern nichts half, denn so sehr er sich auch bemühte – die Zeit vor und nach den Schüssen war völlig aus seinem Gedächtnis gelöscht.

    Mike kniete lange vor der Tafel: Hier lag Susan. Die Frau mit dem Schalk in den Augen, dem fröhlichen Lächeln und der hellen Stimme, die er nie wieder hören würde. Wegen seiner Eifersucht hatten sie sich im Streit getrennt. Hätte er auch nur im Entferntesten geahnt, dass es ihr letzter gemeinsamer Abend gewesen wäre, er hätte sie fest in die Arme genommen und nie mehr losgelassen. Doch jetzt war es zu spät. Er griff in die Tasche seines Jacketts und holte die kleine Schachtel heraus. Dann grub er mit der rechten Hand eine Mulde in die Erde, legte die Schachtel hinein und strich fast zärtlich die Erde wieder glatt.

    In diesem Augenblick fiel ein langer Schatten auf die Tafel. Jemand war hinter ihn getreten. Mike stand langsam auf und drehte sich um. Es war der Mann, der in den Fluss gestarrt hatte.

    „Kann ich Ihnen helfen?", fragte der Mann und seine Stimme konnte den leicht polnischen Akzent nicht verbergen. Der Fremde war um die vierzig, mit kurzen Haaren. Das Heino-Blond konnte unmöglich echt sein. Ohne von Mike eine Antwort zu erwarten, streckte er ihm seinen Dienstausweis entgegen.

    „Kommissar Peter Piontek, Kripo Heilbronn." Mike wusste, wer der Mann war. Der Leiter der Soko Parkplatz, ein Pole aus Łodz mit deutschem Pass. Der Kommissar, dessen Schatten ihn groß und bedrohlich hatte erscheinen lassen, war in Wirklichkeit einen Kopf kleiner als Mike. Der Mann war betont modisch gekleidet. Hellblaues Pilotenhemd, cremefarbene Leinenhose, dunkelblaues Jackett und mintgrüne Krawatte. Nur dass die Farben nicht so recht zusammenpassten und ihre Herkunft von Peek & Cloppenburg nicht verleugnen konnten. Der Kommissar trug eine Sonnenbrille, deren Gläser Mike silbern anblitzten und in denen er sein eigenes Spiegelbild sah: Einen großgewachsenen Mann Anfang dreißig. Sein aschblondes Haar und das ovale Gesicht mit den leicht vorspringenden Backenknochen war das Erbe seiner Mutter, einer ehemaligen Prager Schönheitskönigin. Ein Ärmel seines Jacketts war leer. Mikes linker Arm fehlte. Von seiner einst athletischen Figur war nichts mehr zu erkennen. Zwar konnte sein Anzug den dürren Körper halbwegs verbergen, doch sein Gesicht war jetzt spitz und blass. Aus dem im Solarium gebräunten Frauentyp war ein bleicher Knochenmann geworden. Mike griff in die Innentasche seines Jacketts und wollte seinen Dienstausweis herausziehen, doch der Mann winkte ab.

    „Ich weiß, wer Sie sind. Mike Brand, Leiter des Morddezernats I bei der Kripo Leipzig. Der Mann, der kurz nach der Wende seinen Vornamen geändert hat."

    Mike wusste, worauf der Kommissar anspielte. 1990 hatte er seinen Vornamen von Maik in Mike ändern lassen.

    Während der Kommissar Mikes leeren Ärmel musterte, fügte er mit ernster Miene hinzu: „Zur Zeit auf Genesungsurlaub."

    Mike wusste, was der Kommissar damit sagen wollte: Und ohne jegliche amtliche Befugnis.

    Mike fixierte die verspiegelten Gläser der Sonnenbrille, bis der Kommissar seinem Blick auswich.

    „Ich denke, in drei bis vier Monaten haben wir die Täterin, sagte der Kommissar selbstgefällig. „Wir haben über vierzig DNA-Spuren und die stammen alle von einer Frau aus Osteuropa zwischen zwanzig und fünfzig.

    „Die Balkan-Killerin" hatte ein großes deutsches Massenblatt getitelt und viele Blätter hatten diesen Namen aufgegriffen. In den Akten hieß die Gesuchte einfach: die UwP, die unbekannte weibliche Person.

    „Langsam kreisen wir die Täterin ein", setzte der Kommissar hinzu.

    Mike kannte diese Strategie, denn viele Jahre lang war es auch seine eigene gewesen: Alles ist nur eine Frage der Technik. Sammle so viele Informationen und DNA-Spuren, wie du kriegen kannst, und gib sie in den Computer ein. Und irgendwann geht dir der Täter unweigerlich ins Netz. Doch inzwischen war sich Mike nicht mehr so sicher, dass im Leben und bei der Kripo immer alles exakt nach Plan verlief. Sonst wäre Susan noch am Leben.

    Der Kommissar sah den skeptischen Blick in Mikes Gesicht. „Idar-Oberstein, Freiburg, Gerolstein …"

    „… Worms, Mauthausen, Saarbrücken … Ich kenne die Aktenlage." Mike winkte ab. Er und Peter Piontek wussten genau, dass der Name Balkan-Killerin nur die halbe Wahrheit war. Denn vor ein paar Wochen war die Spurenlage sehr viel schwieriger geworden. Da hatte man an zwei Tatorten nicht nur einmal mehr die Hautschuppen der Killerin gefunden, sondern auch eine ganz und gar unbegreifliche Entdeckung gemacht. An den Hautschuppen waren winzige Spuren Blut. Und die gehörten eindeutig zu einem Mann. Also hatte das Massenblatt die gesuchte Person umgetauft und seitdem sprachen alle vom „Zwitter-Killer". Die Spuren, auf die sich Peter Piontek stützte, waren somit eher geeignet, Verwirrung in den Fall zu bringen, als ihn zu erhellen. Man wusste jetzt nicht einmal mehr, ob man einen Mann oder eine Frau suchen sollte.

    „Wir beide wissen genau …", setzte Mike an.

    „… dass wir

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