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Der Ausklang - Edition 2022
Der Ausklang - Edition 2022
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eBook324 Seiten3 Stunden

Der Ausklang - Edition 2022

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Über dieses E-Book

Mit dem epochalen Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung zum Grundrecht erklärt. Bis zu diesem Urteil hat der Verein Sterbehilfe Pionierarbeit geleistet, denn der Verein war der einzige, der in Deutschland Suizidassistenz leistete – trotz der vielen Politiker und Staatsanwälte, die diese Tätigkeit für moralisch verwerflich oder gar strafbar hielten.

Das Urteil aus Karlsruhe hat dem Verein Recht gegeben: Seine Tätigkeit war nie in einer rechtlichen Grauzone. Die Unterstützung der Vereinsmitglieder bei der Verwirklichung ihres Grundrechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung war also schon vor diesem Urteil legitim.

Im Buch werden alle 470 Fälle geschildert, in denen der Verein Sterbehilfe in den letzten 12 Jahren seinen Mitgliedern beim Suizid half. So erfährt der Leser und die Leserin, was das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben im Alltag bedeutet.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum1. Apr. 2022
ISBN9783754365076
Der Ausklang - Edition 2022
Autor

Jakub Jaros

Jakub Jaros wohnt in Zürich. Nach Studium der Makroökonomie in Bratislava wechselte er die Universität Aalborg, wo er das Studium der Sozialwissenschaften, Schwerpunkt Menschenrechte, mit dem M.Sc.-Diplom abschloss. Seit 2013 ist er Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe. Er vertritt den Verein nach außen und verantwortet die inneren Abläufe des Vereins.

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    Buchvorschau

    Der Ausklang - Edition 2022 - Jakub Jaros

    Verein Sterbehilfe

    Kuttelgasse 4

    8001 Zürich

    Tel. 0041 43 542 6326

    www.sterbehilfe.de

    Deutschlandbüro

    Schanzenstraße 36

    20357 Hamburg

    Tel. 0049 40 2351 9100

    info@sterbehilfe.de

    In der Schriftenreihe des Vereins Sterbehilfe sind bisher erschienen:

    Band 1 Kusch/Spittler: Weißbuch 2011

    Band 2 Spittler: Ärztliches Ethos und Suizid-Beihilfe (2011)

    Band 3 Kusch: Sterbehilfe aus christlicher Nächstenliebe (2011)

    Band 4 Kusch/Spittler: Weißbuch 2012

    Band 5 Kusch/Spittler: Der Ausklang Edition 2013

    Band 6 Kusch/Spittler: Der Ausklang Edition 2014

    Band 7 Benzin: Der Ausklang Edition 2015

    Band 8 Saliger: Selbstbestimmung bis zuletzt (2015)

    Band 9 Kusch: Der Ausklang Edition 2016

    Band 10 Kusch/Hecker: Handbuch der Sterbehilfe, 1. Auflage 2020

    Band 11 Kusch/Hecker: Handbuch der Sterbehilfe, 2. Auflage 2021

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Abschiedsbrief posthum

    1. Glück – von Roger Kusch

    Ludwig Marcuse

    A. Paul Weber

    Macht Geld glücklich?

    Zu viel Geld macht unglücklich

    Die Linien des Glücks

    Das Grüne Licht als Glück

    2. Suizidbegleitung nachGL

    Erläuterungen zu den Kapiteln 2 und 3

    18 – 24 Jahre

    25 – 29 Jahre

    30 – 34 Jahre

    35 – 39 Jahre

    40 – 44 Jahre

    45 – 49 Jahre

    50 – 54 Jahre

    55 – 59 Jahre

    60 – 64 Jahre

    65 – 69 Jahre

    70 – 74 Jahre

    75 – 79 Jahre

    80 – 84 Jahre

    85 – 89 Jahre

    90 – 94 Jahre

    95 – 99 Jahre

    100 – 104 Jahre

    3. GLohne Suizidbegleitung

    18 – 24 Jahre

    30 – 34 Jahre

    35 – 39 Jahre

    40 – 44 Jahre

    45 – 49 Jahre

    50 – 54 Jahre

    55 – 59 Jahre

    60 – 64 Jahre

    65 – 69 Jahre

    70 – 74 Jahre

    75 – 79 Jahre

    80 – 84 Jahre

    85 – 89 Jahre

    90 – 94 Jahre

    95 – 99 Jahre

    4. KeinGL

    30 – 34 Jahre

    35 – 39 Jahre

    40 – 44 Jahre

    45 – 49 Jahre

    50 – 54 Jahre

    55 – 59 Jahre

    60 – 64 Jahre

    65 – 69 Jahre

    70 – 74 Jahre

    75 – 79 Jahre

    80 – 84 Jahre

    85 – 89 Jahre

    90 – 94 Jahre

    5. Zahlen, Analysen, Bewertungen

    5.1 Historie

    5.2 Mitglieder und Suizidbegleitungen

    5.3 Männer / Frauen

    5.4 Altersverteilung

    5.5 GL

    5.5.1 Bedeutung für das Mitglied

    5.5.2 Herausforderung für den Verein

    5.5.3 Die Zeit nach GL

    5.6 Suizidwünsche in drei Kategorien

    5.7 Die drei Suizidmethoden

    5.7.1 oral / Mitarbeitende

    5.7.2 oral / Angehörige

    5.7.3 intravenös / Arzt oder Ärztin

    5.8 Die Sicherheit der Durchführung

    5.8.1 Natrium-Pentobarbital

    5.8.2 Intravenöse Suizidbegleitung

    5.8.3 Orale Suizidbegleitung

    5.9 Finanzielles

    6. Politik – von Roger Kusch

    Wir wollen mehr Demokratie wagen

    Mehr Fortschritt wagen

    Der neue Bundestag ist teilweise der alte

    Selbst-Test

    Gesetzentwurf Heil/Stark-Watzinger

    Bundesverfassungsgericht als Hoffnung

    7. Statuten

    8. Ethische Grundsätze

    9. Abkürzungen, Links und Literatur

    Vorwort

    Am 21. Januar 2010 half unser Verein erstmals einem Mitglied beim Suizid, S•027 → S. →. Bis Ende 2021 kamen weitere 469 Suizidbegleitungen hinzu, die alle einzeln im Kapitel 2 dargestellt werden. Mag die Lektüre auch etwas spröde sein, ist es mir doch ein gesellschaftspolitisches Anliegen, die Tätigkeit unseres Vereins so transparent wie möglich zu machen.

    Mit dem epochalen Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung zum Grundrecht erklärt. Bis zu diesem Urteil haben wir Pionierarbeit geleistet, denn unser Verein war der einzige, der in Deutschland Suizidassistenz leistete – trotz der vielen Politiker und Staatsanwälte, die unsere Tätigkeit für moralisch verwerflich oder gar strafbar hielten. All die Hausdurchsuchungen und Ermittlungsverfahren, bis hin zum Polizeigewahrsam von Roger Kusch, waren für uns schwere Belastungen.

    Das Urteil aus Karlsruhe hat unserem Verein Recht gegeben: Wir arbeiten nicht in einer rechtlichen Grauzone. Die Unterstützung unserer Mitglieder bei der Verwirklichung ihres Grundrechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung war also schon vor diesem Urteil legitim. Möge durch dieses Buch anschaulich werden, was das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben im Alltag bedeutet.

    Zürich, den 1. Februar 2022

    Jakub Jaros

    Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe

    Abschiedsbrief posthum

    Liebe Beate,

    heute vor neun Jahren hast du mich zum ersten Mal angerufen. Du hast lange von deinem Leben erzählt, über dein Leid berichtet, über deine Absicht, dein Leben zu beenden.

    Als du das Grüne Licht vom Verein bekamst, warst du erleichtert, und als ich dir die Idee vorgestellt habe, für den Verein als Sterbebegleiterin zu arbeiten, warst du einverstanden. Ich konnte mit der Vorstellung, dass eine so junge und sympathische Frau „nur" aufgrund von psychischem Leid aus dem Leben scheiden möchte, nicht zurechtkommen.

    Ich habe unsere gemeinsame Zeit genossen, denn wir waren ein starkes Team. Du hast für den Verein großartige Arbeit geleistet. Nach sechs Monaten gewann dein Leid wieder die Oberhand. Schweren Herzens haben wir deinen Wunsch erfüllt.

    Ich denke oft an dich. Du hast mir gezeigt, wieviel Kraft es kostet, sich gegen psychisches Leid anzustemmen. Danke für alles!

    Dein Jakub

    Zürich, den 10. Januar 2022

    1. Glück – von Roger Kusch

    Nach meinem Abitur 1973 in Esslingen absolvierte ich den – damals obligatorischen – Wehrdienst in Böblingen, Calw und wieder Esslingen. Ab 1974 studierte ich drei Semester lang Jura in Tübingen. Erst danach, mit 21 Jahren, fand ich den Mut, mich aus dem familiär vorgegebenen Großraum Stuttgart zu lösen und das Jurastudium in Hamburg fortzusetzen.

    Üblicherweise war mit dem Wehrdienst die Abnabelung vom Elternhaus verbunden. Mir jedoch gelang es, vom Fallschirmjägerbataillon Calw zum Sanitätsbataillon Esslingen versetzen zu werden – von den Rambo-Einzelkämpfern zurück in die Nähe des Elternhauses.

    Ludwig Marcuse

    In einer Esslinger Buchhandlung sah ich ein Diogenes-Taschenbuch von Marcuse und wunderte mich, dass der marxistische Philosoph sich mit dem unpolitisch-individualistischen Thema „Glück" beschäftigt hatte. Der Buchhändler klärte mich auf, dass die beiden deutschen Philosophen Herbert und Ludwig Marcuse außer dem Nachnamen und biographischen Parallelen – insbesondere der Emigration in die USA – nichts miteinander zu tun haben.

    So kaufte ich das Taschenbuch „Philosophie des Glücks von Ludwig Marcuse und schenkte es meinen Eltern. Mit Datum 17.1.1974 schrieb ich die Widmung: „Auf daß meinen lieben Eltern in ihrer häufiger werdenden Zweisamkeit die Glücksphilosophie nicht ausgehe. Ob das Buch meinen Eltern dabei half, den allmählichen, aber unvermeidlichen Auszug ihres jüngsten Kindes besser zu verkraften, weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Geschenkte Bücher stellt man ins Regal. Sie ersparen dem Empfänger, Lese-Glück vorgaukeln zu müssen – es sei denn, der Schenker stellt nach einiger Zeit die taktlose Frage, ob die Lektüre Freude gemacht habe.

    Das Buch von Ludwig Marcuse habe ich wahrscheinlich mir selber geschenkt. Beim Blättern im elterlichen Wohnzimmer stieß ich im dritten Kapitel auf ein Idol meiner Märchen-Kindheit und las dann die „Philosophie des Glücks" von Anfang bis Ende – mit großer Freude.

    Mein Lieblingsheld in Grimms Märchen war nicht ein Prinz, ein Stadtmusikant oder Hänsel. Diese und viele andere haben mich verzaubert, aber sie blieben mir doch fern. Ich wollte sein wie Hans im Glück, glücklich sein wie er. Und ahnte doch schon als kleiner Junge, dass mir sein Glück zeitlebens verwehrt bleiben würde. 60 Jahre später weiß ich einigermaßen, warum.

    Hans hat das Talent zum Glück, das mir fehlt, so wie ich auch kein Talent zum Geigenspielen habe. Hans ruht in sich, ich nicht in mir. Sein Glück kommt aus ihm selbst. Mein Glück hängt vom Zuspruch, der Anerkennung, der Zuneigung und Unterstützung anderer Menschen ab. Hans zog allein durch die Welt. Ich reise nicht allein in fremde Länder. Sein Glück ist seines. Für mich ist Glück, wenn ich es mit jemandem teilen kann. Das Feuerwerk in der Silvesternacht 2019/2020 an der Copacabana war das schönste, das ich je sah. Ich war nicht allein.

    Immerhin gibt es zwischen Hans und mir eine tröstliche Parallele: Er verdankt sein Lebens-Glück dem Zufall, genauso wie ich meine glücklichen Momente dem Zufall verdanke. Bei Hans kommt immer, wenn ihn sein Glück zu verlassen droht, zur rechten Zeit der rechte Glücksbringer. Nachdem ihn ein störrisches Pferd abwirft, trifft er auf einen Bauern mit freundlicher Kuh. Vielleicht war es Hans, der mir die Augen geöffnet hat: Erfolg, Zufriedenheit und auch das Glück sind nie verdient und nie erarbeitet, sondern immer Zufall. Der Zufall fängt früh an im Leben: bei der Mixtur der mütterlichen und väterlichen Gene. Ich empfand die Mixtur, der ich mein Leben verdanke, immer als Glück, sah aber nie Anlass, meinen Eltern dafür zu danken. Sie hatten keine Leistung vollbracht, sondern den Zeitpunkt der Mixtur dem Zufall überlassen, wie das in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts so üblich war.

    A. Paul Weber

    Im Studium blieb das Verhältnis zu meinen Eltern eng. Selbst aus Hamburg besuchte ich sie regelmäßig. In der kalten Jahreszeit kam es bei jedem Besuch zum selben Konflikt mit meiner Mutter. Sie war die sparsamste, bisweilen knauserigste Person, die ich je kennengelernt habe. Im ganzen Haus war es so kalt, dass ich fror. Meine Mutter rechtfertigte die Temperatur mit den hohen Heizkosten und vermutete als Ergänzung, dass ich verweichlicht sei. Als ich mit der Drohung konterte, meine Besuche auf die warme Jahreszeit zu beschränken, lenkte meine Mutter ein und versprach, künftig einige Stunden vor meinem Besuch die Thermostatventile von 2,5 auf 3 hochzustellen.

    Bald nach meiner Ankunft in Hamburg entdeckte ich in der Nähe der Universität das Libresso als mein Lieblingscafé. Verteilt über mehrere Räume waren tausende antiquarische Bücher unordentlich in Regalen gestapelt. Neben dem Kaffeetrinken konnte man in diesen Büchern blättern. Außerdem gab es eine Kommode, in der hunderte Drucke verschiedener Künstler lagen. Eine Lithographie des politisch-satirischen Zeichners A. Paul Weber hatte es mir besonders angetan: Die Maske eines Richters samt Robe, aus der ein Krokodil herausschaut. Ich hielt das Blatt für eine Rarität, weil die bei Lithographien übliche Nummer fehlte.

    Die Robe hatte Bezug zu meinem Vater, der Richter war, ich hatte genug Geld, die seltene Graphik des berühmten Künstlers zu kaufen, und schenkte sie meinen Eltern zu Weihnachten. Es war das teuerste Geschenk, das meine Eltern je von mir bekamen. Sie freuten sich sehr und hängten das Bild an einem prominenten Platz im Wohnzimmer auf.

    Ein Jahr später war ich mal wieder zu Besuch, saß im wohltemperierten Wohnzimmer, meine Mutter bereitete in der Küche das Mittagessen vor, als ich plötzlich stutze: A. Paul Weber war verschwunden und durch ein drittklassiges Aquarell ersetzt. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Das Krokodil in Richterrobe hing in einem winzigen, düsteren Verbindungsflur, weit entfernt vom Gäste-WC. Ich stürmte in die Küche und stellte meine Mutter zur Rede. Ihr fiel der Kochlöffel aus der Hand. „O je! Hab ich vergessen, ihn umzuhängen!"

    Ich erfuhr, dass meine Eltern die Graphik von Anfang an nicht gemocht hatten. Vermutlich sah mein Vater in der Richter-Maskerade eine Kritik an seinem Beruf oder an seiner NS-Vergangenheit oder an beidem. Vor jedem Besuch musste meine arme Mutter das Bild umhängen und im Winter auch noch die Heizung aufdrehen. Ich schlug meinen Eltern vor, das Bild zurückzunehmen – sie brauchten sich nicht mehr zu verstellen, und ich freue mich bis heute an dem künstlerischen Highlight meiner Wohnung. Am Heizungs-Problem allerdings änderte sich nichts.

    Kann man Glück schenken? Jedenfalls nicht mit einer Lithographie von A. Paul Weber und erst recht nicht mit Überraschungsgeschenken, es sei denn, es sind vergängliche Kleinigkeiten wie Pralinen, Blumen oder Likör. Die Übergabe eines Geldgeschenks kann zwar peinlich sein, wird den Empfänger aber doch glücklich machen, wenn der Betrag hoch genug ist. Falls Geld nicht in Betracht kommt, sollte man beim Kauf eines Geschenks den Empfänger gleich mitnehmen.

    Macht Geld glücklich?

    In meinen viereinhalb Jahren als Justizsenator wurde ich von den besseren Kreisen Hamburgs hofiert und bekam Einladungen zu vielen Anlässen. Bei solch einem Anlass, es war Anfang 2006, als ich wegen meines öffentlichen Sterbehilfe-Engagements bereits täglich mit meiner Entlassung rechnete, traf ich auf ein bedeutendes Ehepaar. Er war ein Hamburger Nachkriegs-Selfmade-Millionär (oder -Milliardär), der sich neben allerlei sozialen Wohltaten auch den Professoren-Titel hatte leisten können.

    Seine Gattin sprach mich auf Sterbehilfe an und sagte, dass sie davon gar nichts halte. Sie habe ihre Mutter bis zu deren Tod jahrelang im eigenen Haus gepflegt. Sie und ihr Mann hätten sich auf Parterre und ersten Stock beschränkt und der Mutter den zweiten Stock überlassen. Die Pflegekräfte, die dort ihre Zimmer hatten, hätten die Mutter rund um die Uhr liebevoll betreut. So stelle sie sich ein würdiges Lebensende vor.

    Ein halbes Jahr zuvor, an einem sonnigen Nachmittag, ging ich zur Gartenparty eines in der Hamburger CDU gut vernetzten Managers. Ich stand auf der Terrasse seines Hauses mit Blick auf den Garten, als hinter mir ein älteres Ehepaar auftauchte. Sie sagte zu ihrem Gatten (ebenfalls Selfmade, aber noch reicher als der zuvor erwähnte Wohltäter und selbstverständlich auch Professor): „Schau mal, Butzi, was man aus einem so kleinen Garten Entzückendes machen kann!" Ich schaute auf einen Garten in Größe eines Fußballfeldes.

    Ich missgönne niemandem seine Millionen, Milliarden oder privaten Fußballfelder. Aber dass der Hamburger Senat den Professoren-Titel an reiche oder politisch genehme Nicht-Wissenschaftler verleiht, ist skurril. Das Highlight dabei ist Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, dem weder Hamburg noch die Wissenschaft irgendetwas zu verdanken haben. SPD-Mitglied Montgomery trat aus der Partei aus, nachdem ihm sein SPD-Parteifreund und Erster Bürgermeister Olaf Scholz den Professorentitel verliehen hatte.

    Dass ich in meiner Zeit als Mitglied des Senats derartigen gekauften oder parteiopportunen Verleihungen zugestimmt hatte, ist mir bis heute peinlich. Ich hatte Justizsenator werden wollen, war es nun, und wollte diesen beruflichen Zenit eine Zeitlang genießen. Den Traum hamburgischer Parvenüs von pseudoakademischem Glanz zu zerstören, war mir nicht wichtig genug, meinen eigenen Traum – Hamburger Justizsenator zu sein – in Gefahr zu bringen. So habe auch ich, jedenfalls in moralischem Sinne, den Erhalt meines Senatorentitels erkauft.

    Beide Gattinnen, eine der beiden durfte sich selbst mit dem Professorinnen-Titel schmücken, machten auf mich einen zufriedenen Eindruck.

    Vielleicht waren sie sogar glücklich mit ihren Tellerwäscher-Ehemännern, denen sie nach dem Krieg den Rücken freigehalten hatten, und an deren gesellschaftlichem Ansehen sie nunmehr teilhaben durften.

    Kürzlich las ich, dass Rolls-Royce im Corona-Jahr 2021 so viele Autos verkauft hat wie nie zuvor. Reiche Menschen wollen sich von Corona ihr Glück nicht verderben lassen. Ob man Glück mit Geld kaufen kann, weiß ich nicht. Aber die Suggestion von Glück scheint man kaufen zu können.

    Wer will sich sicher sein, echtes Gefühl von Suggestion unterscheiden zu können?

    Zu viel Geld macht unglücklich

    In jüngeren Jahren habe ich darunter gelitten, in keiner Disziplin der Erste zu sein. Ob Schule, Studium, Liebesleben oder Beruf – immer gab es andere, die besser waren. Es hat Jahre gedauert, bis ich die Segnungen des Mittelmaßes erkannte. Das gilt auch fürs Geld. Meine materiellen Träume orientierten sich auf wundersame Weise an meinen materiellen Möglichkeiten. Ich scheine die Knausrigkeitsgene meiner Mutter in günstiger Dosierung geerbt zu haben. Nie hatte ich Geldmangel, war nie reich und hatte nie die Sehnsucht, reich zu sein – eine zufällige Glücks-Disposition, die mich mein ganzes bisheriges Leben begleitet.

    Während ich im Mittelmaß verharrte, wurden Freunde und Bekannte von mir reich und reicher, bei ähnlicher Ausgangslage. Das machte mich neugierig. Zweierlei kann ich festhalten.

    Ich habe nie eine Aktie besessen. Der tägliche Blick auf die schwankenden Kurse hätte mir den Schlaf geraubt. Wer robustere Nerven hat als ich, konnte in den letzten Jahrzehnten mit Aktienspekulationen viel Geld verdienen.

    Immobiliengeschäfte hingegen traute ich mir in geringem Umfang zu, weil die Gefahr des Wertverlusts kleiner ist als bei Aktien. Große Gewinne machte ich aber auch da nicht, weil mir die Geduld fehlte, mit dem Verkauf zu warten, bis die Preise gestiegen waren.

    Bei denjenigen, die wirtschaftlich erfolgreicher waren als ich, fiel mir auf, dass sich das Anhäufen von Geld zur Sucht entwickeln kann, nicht anders als bei Zigaretten, Alkohol und Drogen. Manifest wird die Geld-Sucht dann, wenn der Süchtige so viel anhäuft, dass er nicht mehr weiß, wofür er sein vieles Geld noch ausgeben könnte. Verzweifelte Drogensüchtige nehmen Methadon, verzweifelte Geldsüchtige gründen eine gemeinnützige Stiftung.

    Dass die beiden Nachkriegs-Tellerwäscher des vorigen Abschnitts Stiftungen gegründet hatten, für die sie das Bundesverdienstkreuz und andere Ehrungen erhielten, versteht sich von selbst.

    Die Krux ist die Gewöhnung. Wer sich das ganze Leben lang alles kaufen kann, verlernt Selbstkritik und Zurückhaltung, ohne die es gerade am Lebensende keine Gelassenheit gibt. Das eindrücklichste Beispiel liefert Ehemann G•236 → S. →, der den Verein mit viel Geld bewegen wollte, seine demente Ehefrau K•086 → S. → zeitgleich zum eigenen Suizid zu ermorden. Sechs Monate später starb er eines natürlichen Todes. Möge er in dieser Zeit nicht mehr zu sehr unter seiner Geldsucht gelitten haben. Vielleicht hatte er in seinem langen Leben ja auch irgendetwas Gutes für andere Menschen getan.

    Die Linien des Glücks

    Wer sich für Politik interessiert, muss sich auch für Demoskopie interessieren. Wie will man Wahlkampf machen, wenn man nicht genau weiß, wie die Volksseele tickt, welche Sehnsüchte in ihr brodeln und welche Ressentiments zu berücksichtigen sind? Die westdeutsche Nachkriegs-Demokratie ist untrennbar verbunden mit Elisabeth Noelle-Neumann, der Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Sie wurde – huldvoll und keineswegs spöttisch – die „Pythia vom Bodensee" genannt. Mit schiefem Kopf, stets lächelnd und immer mit derselben Föhnwelle in der Stirn orakelte sie über das, was die Deutschen schon immer über sich wissen wollten. Adenauer war ihr prominentester Jünger.

    Zu ihrem neunzigsten Geburtstag stifteten die Gemeinde Allensbach und die Bezirkssparkasse Reichenau den Prof.-Dr.-Elisabeth-Noelle-Preis. Er ist mit 5.000 Euro dotiert und wird alle drei Jahre an Nachwuchswissenschaftler:innen der Universität Konstanz vergeben in Anerkennung herausragender Leistungen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften. Die NS-Verstrickung der Pythia trübt heute ein wenig ihren Nachruhm, spielte in der Adenauer-Zeit aber keine Rolle.

    Das Großartige an der Demoskopie ist ihre Bandbreite. Sie steht Boulevard-Medien genauso zu Diensten wie der hehren Wissenschaft. Es gibt die ungeheuerliche, durch keinerlei demoskopische Umfragen belegte Behauptung,

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