Brücke sein: Vom Arbeiterpriester zum Bruder
()
Über dieses E-Book
Christian Herwartz
1943 in Stralsund geboren begann er sein Berufsleben in einem Maschinenbaupraktikum auf der Werft im Kiel. 1969 holte er das Abitur nach und trat in den Jesuitenorden ein. Nach dem Studium der Philosophie in München und Theologie in Frankfurt schloss er sich der Arbeiterpriesterbewegung an. 1978 begann er als Dreher und Lagerarbeiter in Berlin. Ab 1979 wohnte er zusammen mit Mitbrüdern in einer eigenen Wohngemeinschaft in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Er schlief in einem Zimmer mit 8 Betten. Oft wusste er morgens nicht, wer abends im Bett liegen würde. Aus der Praxis dieser Gastfreundschaft entstanden die "Exerzitien auf der Straße", die im Laufe der Jahre zu einer Frömmigkeitsbewegung über die Grenzen von konfessionellen, sozialen und bildungsmäßigen Unterschieden anwuchs. Am 20.2.2022 verstarb er im ordenseigenen Seniorenheim in Berlin-Kladow.
Mehr von Christian Herwartz lesen
Freude - Erfahrungen mit Straßenexerzitien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSpiritualität als (ein) Weg der Welterfassung: Leidfaden 2016 Heft 01 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnlich wie Brücke sein
Ähnliche E-Books
Bibel lesen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSelbstbeobachtung als soziale Kernkompetenz: Blicke in die eigene Persönlichkeit oder: Wer spricht, wenn Sie Ich sagen? Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAuferstehen jetzt: Franziskanische Impulse aus der Großstadt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSelbstreflexion als soziale Kernkompetenz: ... andere kennen ist klug. Sich selbst zu kennen ist weise... Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRosa Zeiten?: Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenQueer in Church: Wie ich mir eine divers-bejahende Kirche wünsche Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZwischen zwei Welten: Meine Botschaften aus dem Jenseits Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Schlüssel zur anderen Welt: Eine spirituelle Reise zu dir selbst Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAuch Drachentöter müssen pinkeln: Über Systemisches, Familiäres und andere Unordnungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAlles Eins: Wegweiser durch das »System Gott« Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVon Angesicht zu Angesicht: Meine Begegnungen mit Wohnungslosen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Krieg sitzt mit am Mittagstisch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLiebe bleibt jung: Geschichten um Sehnsucht und Partnerschaft von Menschen über sechzig Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIns Herz der Dinge lauschen - Vom Erwachen der Liebe: Über MDMA und LSD: Die unerwünschte Psychotherapie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHerzensangelegenheiten & 90 Tage mit COVID-19: Inspiration zu mehr Umweltfreundlichkeit in Zeiten von Klimawandel und anderen Herausforderungen des Lebens. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLeben ist ein wesentlicher Bestandteil des Todes: Zwei Nahtoderfahrungen und ein Erlebnis von tiefer Versenkung prägten mein Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNur Ja! heißt ja: Eine Anleitung zu sexuellem Konsens Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEs tut so gut, mit dir zu sprechen: Begegnungen mit Sterbenden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenInspiration 4/2020: fremd Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWandlungen: Trauma - ein autobiografischer Heilungsbericht in drei Teilen, Teil eins - die Rückkehr der Hüterin Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Weg der Kontemplation: einfach, aber nicht immer leicht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKriegskind Jahrgang 1944: Ein außergewöhnlich bewegtes Leben in drei Gesellschaftsordnungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Gute leben: Von der Freundschaft mit sich selbst Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLaut und selbstbestimmt: Wie wir wurden, wer wir sind Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGedankarium: "Auserlesenes Gedankengut" (10in1 Kollektion) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenArbeitet nie!: Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSein und Werden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein Leben – ein Leben?! (1). So war ich Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Persönliche & Praktische Leitfäden für Sie
Ethno Health Apotheke - Kompakt: Die 50 besten Naturmedizinrezepturen der Welt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNaturrituale: Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Handbuch: Manipulation: Mentalmagie aus der Welt der Hirnforschung, Psychologie und Hypnose Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVokabeln der Lust: Ein Wörterbuch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBeziehungsweise Sex: Tipps für Paare Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHeilen durch Erkenntnis: Die Intelligenz des Unterbewusstseins. Sich selbst und andere heilen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRaus aus dem Schneckenhaus: Soziale Ängste überwinden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer neue Taschen-Knigge: Gute Umgangsformen in jeder Lebenlage Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAlles über guten Sex: Erotik entdecken und lustvoll lieben! Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRan an den Mann: Sextipps für Frauen Bewertung: 1 von 5 Sternen1/5Das Geheimnis des Atmens: Mit Yoga die eigene Kraftquelle entdecken Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie 77 erfolgreichsten Wunschregeln Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKundalini und die Lehren eines Meisters Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt: Vier Schritte zu einer einfühlsamen Kommunikation Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHatha Yoga: Komplett illustriertes Standardwerk Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenReconnection: Heilung durch Rückverbindung Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Briefe, E-Mails und Kurznachrichten gut und richtig schreiben: Geschäfts- und Privatkorrespondenz verständlich und korrekt formulieren Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Wunder der weiblichen Sexualität: Ganzheitliches Praxisbuch Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Erfüllendes Mutterglück oder kinderlose Freiheit?: Mein Weg zur Entscheidung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBücherliebe – Was Bücherregale über uns verraten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGanzheitliche Psychotherapie: Neue Wege und Möglichkeiten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Weisheitscodes: Uralte Energiemuster, die unser Gehirn neu vernetzen und unser Herz heilen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie astrologischen Häuser: Tempel der Planeten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGlücklich mit mir selbst: Alleinsein als Quelle von innerer Kraft und Kreativität Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAbnehmen ist leichter als Zunehmen. Das 10-Tage-Programm: Kompakt-Ratgeber Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenJa zu dir: 52 Impulse mit Tiefgang, die das Leben leichter machen. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMach dich mal locker: Vom leichten Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch will leben, lieben und geliebt werden: Ein Plädoyer für wahre Lebensfreude und menschliche Verbundenheit in Freiheit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVom Kopf ins Herz: Band 1 / Teil 1 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Brücke sein
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Brücke sein - Christian Herwartz
Liebe Leserin und lieber Leser: Herzlich willkommen
Attention – mein erstes Wort im Sprachkurs, den ich 1975 in Besançon besuchte. Dieses Wort wurde häufig wiederholt. So lernten wir, es auszusprechen, und ahnten durch Gesten, wie wir es einsetzen konnten: Attention = Aufgepasst! Wir mussten genau hinhören, um die Worte nachsprechen zu können. Erst nach einem Jahr begann ich, sie in Toulouse auch zu lesen. Als Gastarbeiter war ich nach Frankreich gekommen, suchte Arbeit und fand Heimat unter den Nichteinheimischen. Unter den vielfältig Fremden fühlte ich mich zu Hause.
In Berlin lebe ich nun seit 35 Jahren in einer internationalen Wohngemeinschaft zusammen mit zwei älteren Jesuiten unter Menschen aus vielen Ländern – mittlerweile sind es insgesamt 70 verschiedene Nationen gewesen – und werde von diesen in interkultureller Gastfreundschaft weitergebildet. Jetzt drückt sich mein Leben vor allem in diesem Wort aus: »Herzlich willkommen.« Meist haben sie bescheiden um eine Unterkunft für einen Tag gebeten und sind dann jahrelang geblieben. Mitten im Strom der Wanderschaft durch viele Kulturen bleibt meine Anschrift konstant: Naunynstraße 60.
So kann man doch nicht leben! Diesen Schrei des Entsetzens hörte ich immer wieder. In einem Schlafzimmer mit sieben Betten, teilte ich mein Leben mit Menschen aus vielen Kulturen weltweit. Ich darf mich dort vertrauensvoll fallen lassen. Ein Geschenk, denke ich, ein Leben in weitgehender Offenheit. Sie macht vielen Menschen Angst.
Eine Gemeinschaft ohne Putz- oder Abwaschregeln, wie soll das gehen? Es ist möglich, aber wie verläuft ein Leben möglichst ohne Regeln? Andernfalls würden Menschen vertrieben, die lange in Vorschriften gepresst worden sind.
Aber eine Regel gibt es doch: Frage den anderen nicht, woher er kommt; erzähle lieber von dir selbst und warte, bis auch er voll Vertrauen über sich selbst reden kann. Um dieses Gespräch zu schützen, haben Polizisten kein Gastrecht in unserer Wohnung. Auch die ganz sympathischen unter ihnen müssen in ihrer Freizeit die von ihnen wahrgenommenen Ungesetzlichkeiten anzeigen. Sie brauchen keine Verantwortung für missverstandene oder falsche Aussagen übernehmen. Dagegen könnte ich mich ja vor Gericht wehren, bekomme ich als Antwort. Nun, das möchte ich verständlicherweise nicht. Ebenso lassen wir keine Fernsehkameras zu, denn nicht jede Begegnung ist für die große Öffentlichkeit bestimmt.
Und wie geht das mit dem Geld, ist dann meist die nächste Frage: Die Renten von meinem Mitbruder Franz und mir sichern die Miete; wer noch etwas zum Leben beisteuert, bleibt oft verdeckt. Wir sind nicht verhungert und essen meist gut, oft mit vielen Menschen.
Mitten in dieser schwer zu umschreibenden Lebenssituation ist Mitte der 90er-Jahre eine anfangs unbemerkte, viele Menschen ergreifende Bewegung entstanden. Einzelne haben mitten in dem bunten Knäuel unserer Lebenssituation geistliche Übungen gemacht, die wir später Exerzitien auf der Straße nannten. Der Ablauf dieser Übungen wird noch ausführlich beschrieben. In diesem Zusammenhang erzählte ich einmal im Radio: »Jesus sitzt mir im anderen Menschen gegenüber. Wenn ich das erkenne, ändert sich etwas Grundlegendes in meinem Leben.« Ein anderer Mensch würde vielleicht Buddha im Anderen wahrnehmen oder eine andere richtungsweisende Person. Auch das würde zu einer grundlegenden Infragestellung des Lebens führen und eine große Freude auslösen.
Sabine Wollowski hat an diesen Exerzitien auf der Straße teilgenommen und kennt unsere Wohngemeinschaft seit vielen Jahren. Wir ließen uns ab 2008 auf das Abenteuer ein, den vielen erlebten Geschichten nachzugehen, nach den darin verborgenen Aussagen zu fragen und sie uns immer wieder zu erzählen. Darüber ist dieses Buch entstanden.
Leiten ließen wir uns dabei von folgenden Fragen: Wie können wir uns dem stellen, was wir wahrnehmen, und eine Haltung dazu finden, was uns stört und in Unfrieden leben lässt? Welche inneren Prozesse begleiten die einzelnen Situationen? Wie weitet sich der Blick über die Erzählungen der Freunde und Kritiker?
Wir fingen beide Feuer. Eine Rohfassung des Buches entstand, ein bunter Blumenstrauß aus Kapiteln zu den Themen Sicherheitswahn, sexualisierte Umwelt, Grundgesetzabbau, Überraschungen mit Kindern und Gästen.
Neue Herausforderungen begannen: Die Aufdeckung der Missbrauchsfälle an jesuitischen Institutionen. Als Mitbruder war ich mit betroffen und erinnerte mich an die Solidaritätserfahrungen in der Gewerkschaft. Jetzt musste ich neu hinsehen und mich befragen lassen. Menschen mit diesen zerstörerischen Erlebnissen sprachen mich an. Ende 2012 wurde das Buch Unheilige Macht – Jesuitenorden und die Missbrauchskrise verlegt und ich schaltete den Blog http://unheiligemacht.wordpress.com, um der anschließenden Auseinandersetzung Raum zu geben.
Mit immer neuen Erfahrungen setzte sich das Leben fort. Sabine Wollowski hat die Vielfalt der Themen nochmals durchforstet und sie anhand der drei Begriffe Frieden, Freiheit und Gemeinschaft neu geordnet und ergänzt.
Die Grundhaltung oder der rote Faden aller geschilderter Erfahrungen ist mein Anliegen, zu verbinden: Bis heute stehe ich mit einem Bein in einer Welt und mit dem zweiten in einer anderen. Als Arbeiter entdeckte ich die Solidarität mit meinen KollegInnen und das gemeinsame Engagement. Als Priester erinnere ich an die anvertraute Lebenskraft und die liebende Einladung Jesu. Die Brücke führt mich auch in andere gesellschaftliche Bereiche – im Stadtteil, im Gefängnis, zu Ausländern ohne Papiere, zu jungen Erwachsenen. Meine Mitmenschen fordern mich heraus, ihnen in Gleichheit als Bruder zu begegnen, im Wechselspiel von Mitleben und Engagement. Die Brücke wird mir zum Bild für den Weg der Menschwerdung.
Das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit an diesem Buch liegt nun vor, und wir hoffen, dass Sie, die Leserinnen und Leser, Stoff für Gespräche und Diskussionen dafür finden und vor allem Inspiration. Wie der vielerorts ersehnten Veränderung in der katholischen Kirche und in der Gesellschaft insgesamt zu erforschen und sich daran zu beteiligen.
Herzlichen Dank an Klaus Mertes für das Geleitwort und die liebevolle Betreuung der Veröffentlichung durch unsere Verlegerin Ursula Richard sowie das sorgfältige Lektorat von Carl Polonyi.
Nun bitten wir alle Leser und Leserinnen: Kommt herein: Herzlich willkommen.
Berlin, August 2013
Sabine Wollowski und Christian Herwartz
Geleitwort von Klaus Mertes
Ich bin kein außen stehender Beobachter, wenn ich ein Geleitwort zu diesem Buch schreibe. Christian Herwartz berichtet im Eingangskapitel, wie wir einander über das Thema Macht und Machtmissbrauch seit 1994 im Laufe der Jahre nähergekommen sind und zu Freunden wurden. Ich bestätige das. Und das Buch endet mit einem Gespräch, an dem ich beteiligt bin. Wichtig ist mir an diesem Buch einerseits, dass es kein Buch über Personen ist. Andererseits stimmt es genauso, dass Themen über Personen vermittelt werden. Auch das wird in diesem Buch deutlich.
Das beste biblische Beispiel für den untrennbaren Zusammenhang von Themen und Person ist für mich Paulus. Wenn Paulus über »sein« Thema, das Evangelium, spricht, ist das bei ihm untrennbar verbunden mit dem Sprechen über sich selbst beziehungsweise über seine eigenen Erfahrungen. Dabei erzählt er nicht einfach nur über seine Erfahrungen mit Gott, über seine »Offenbarungen« (2 Korinther 12,7), die er in besonderer Weise erfahren hat, sondern er thematisiert sein ganzes Leben, seine »Schwäche« (2 Korinther 12,9), seine rätselhafte Krankheit, die ihn ein Leben lang nicht verlässt (2 Korinther 2,8), seine Verfolgungen, seine Mühen, seine Gefangenschaft, seine Freundschaften, seine Vorlieben, seine Sehnsucht nach seiner Lieblingsgemeinde, seine Freude. Es ist also kein abgehobenes Sprechen über Themen, wenn Paulus über das Evangelium spricht, und zugleich ist es kein narzisstisches Kreisen um sich selbst – es geht ihm wirklich um das Evangelium. Sätze wie zum Beispiel »Nehmt mich als Vorbild« oder »werdet wie ich« (Galater 4,12) sind Paulus dabei dann doch oft zum Vorwurf gemacht worden. Aber das ist keine Anmaßung, moralisches Vorbild oder Modell für andere sein zu wollen, sondern er zeigt auf etwas, was ist; er zeigt auf sich und eine Geschichte, in der er steht, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass Gott an ihm gehandelt hat, nicht nur an der eigenen Person, sondern in der mit anderen Personen verbundenen Geschichte. Diese Geschichte muss erzählt werden. Darin besteht die »Sendung«.
Über Gott lässt sich, wenn es um Erfahrung geht, eigentlich nicht in der 3. Person Singular sprechen, sondern nur indirekt in der Verbindung mit der 1. Person Singular. Susanne Szemerédy hat kürzlich eine Doktorarbeit¹ veröffentlicht, die das Konzept der von Christian inspirierten »Exerzitien auf der Straße« mit der Philosophie von Emmanuel Levinas vergleicht. Die Parallele ist ganz offensichtlich. Nur die Spur, die Gott hinterlassen hat, ist thematisierbar, oder anders ausgedrückt: Nur über die Spur kann ich das unsagbare Geheimnis, welches Gott ist, thematisieren. Aber dazu gibt es dann zugleich einen drängenden Auftrag. Denn die Erfahrung, auf die ich mich rückblickend über die Spur beziehe, nimmt mich ganz in Anspruch. Sie ist nicht eine Erfahrung neben anderen. Levinas geht ja davon aus, dass mich die Begegnung mit dem »ganz Anderen« in dem »Gesicht, das spricht« und mich zur »Geisel« seiner Not macht, aus den Sicherheiten und der Ruhe begrifflicher Klarheit herausreißt und mich zugleich in einen Zustand versetzt, in dem ich »mich« vorfinde. Ein distanziertes Erzählen über »Ihn« oder »Sie« ist da nicht mehr möglich.
Für mich war Levinas, bevor ich nach Berlin kam, der Schlüssel, um eine Sprache für vergleichbare Erfahrungen zu finden, die ich gemacht hatte, besonders in einem Fall, wo ich einer Not begegnet war, die mich im Levinas’schen Sinne des Wortes zur Geisel gemacht hatte. Als ich nach Berlin kam, gab Christian mir sehr bald einen geistlichen Text zu lesen, den er über seine Erfahrungen als Arbeiterpriester im Betrieb verfasst hatte. In diesem Text fand ich Entsprechungen zu meinen Erfahrungen und zugleich weiterführende Anregungen, zum Beispiel die, dass Beten ein Zuhören ist – dem Liebesgespräch lauschen, das in Gott selbst stattfindet, der noch lange nicht begriffen ist, wenn man ihn bloß für »eine Person« hält. Ich empfahl Christian, diesen Text in einer unserer jesuitischen Zeitschriften für Spiritualität zu veröffentlichen. Der Text wurde nicht angenommen. Die Begründung lautete: »Der Text ist nicht wissenschaftlich genug.« Ich tröstete Christian, wenn er denn überhaupt des Trostes bedurfte, mit der Prognose, dass man in 50 Jahren nach Texten suchen würde, in denen Menschen im Berlin der 90er-Jahre, als dort Gott aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden war, von ihren Erfahrungen mit Gott erzählen. Man würde dann auf seinen Text stoßen und Wissenschaftler darauf ansetzen, damit sie darüber wissenschaftliche Artikel schrieben. Offensichtlich hat es nicht 50 Jahre gedauert, bis es soweit war.
Das vorliegende Buch ist aus den Fragen entstanden, die Sabine Wollowski Christian Herwartz gestellt hat. Es sind nicht einfach »ihre« Fragen, sondern es sind Fragen, die in der Begegnung überhaupt erst entstehen – wobei nicht ausgeschlossen ist, dass im Gespräch Fragen entstehen, die »ich immer schon gehabt habe«. Das Erzählen beginnt, wenn ich gefragt werde. So ist es auch in diesem Buch. Das Fragen aber beginnt erst, wenn vorgängig zu Fragen etwas gelebt wird – wenn ich auf etwas stoße, was mich stutzig macht, befremdet und doch auch anzieht. Etwas, was mich fragend macht. Im Falle der Wohngemeinschaft in der Naunynstraße – jener Ort in Berlin, der inzwischen so viele fragend gemacht hat – war mein Weg zum Fragen lang. Denn es mussten einige Dinge in der Annäherung an das fragwürdige Geschehen in der Naunynstraße geklärt werden. Christian erzählt davon in diesem Buch. Es betrifft nicht nur den unterschiedlichen Zugang zum Thema Rote Armee Fraktion (RAF), sondern auch unterschiedliche Ausgangspositionen zu politischen und kirchlichen Fragen aller Art, die in den 70er- und 80er-Jahren im Schwange waren und heute noch keineswegs erledigt sind.
Bei der Annäherung an die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße ging es von Anfang an auch um spirituelle Fragen und Unterscheidungskriterien. Das eine war für mich anfangs eine notwendige Abgrenzung: Bewunderung, gar Schwärmerei über Personen führt zu Missverständnissen und auch zu Missbräuchen, gerade im religiösen Bereich. Da ich Bewunderer und Schwärmer im Umfeld der Naunynstraße sah oder meinte zu sehen, hielt ich Abstand. Dass ich an dieser Stelle besonders empfindlich war (und geblieben bin), hat mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ich war selbst einmal ein Bewunderer gewesen und das Bewundern war missbraucht worden. Auch im kirchlichen Bereich kann es ja immer wieder zu Missbrauch in geistlichen