Auferstehen jetzt: Franziskanische Impulse aus der Großstadt
Von Josef Schulte
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Buchvorschau
Auferstehen jetzt - Josef Schulte
© E-Book Claudius Verlag, München 2022
© Claudius Verlag, München 2017
www.claudius.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2022
ISBN: 978-3-532-60106-8
INHALT
Warum dieses Buch?
I. Die innere Freiheit entdecken
Wer bist du?
Warum tragen Sie den Stein?
Milch und Honig
Ich bin nicht mehr gegen mich, sondern mit mir
Ein Kind in der Mitte
Ein Fasten, das befreit
Der Mensch ist frei geschaffen
Die sanfte schiefe Ebene
Die Spirale
Ein Stückchen Himmel auf der Welt
Grabstein 1905
Glasgefäß und Mandala
Wo ist mein Platz?
Verlust der Mitte
Sieh nicht, was andre tun
ICH
Der Sorgenbaum
Wunschzettel
II. Die eigenen Talente erkunden und einsetzen
Hüte das Feuer!
Sich wichtigmachen
Gebet eines unbekannten Autors
Selbststeuerung
Selbstwirksamkeit und: die Gnade Gottes
Mann im Vogelkäfig
Keine Angst vor dem Computer
III. Inspiriert sein
Das Finden erlernen
Der Kelch unseres Lebens
Unbedingt lieben
Auferstehen jetzt
Hauptstadt des Optimismus
Noch einmal
Klein und gern – beiläufige Schlüsselworte
Gesunder Glaube
Berufungsgewissheit
Würdigen
Die verlängerte Hand
Den Nächsten neu sehen
Aber um Gottes Willen, das bin ja ich
Frieden ist ein Tätigkeitswort
IV. Intensiv leben
Seinen Weg gehen
Weichen stellen
Intensiv leben
Ohne Groll
Kämpfen
Was die Schwäche nicht darf, das darf die Reinheit
Dag Hammarskjöld
Sein Bestes geben
Nicht von einem Haus in ein anderes
Und mehr als das
Wie ein großes Verstehen
Willst du gesund werden?
Staunen
Der Fahrplanschuster
Das Leid der Welt
V. Mit der Zeit umgehen
Höchste Zeit
Zwischenzeiten
Erntestrauß
Die Gezeiten des Lebens
Anfangen
Aufschieben
Von jetzt an
Wiederholen
Durchhalten
Oh Lust des Beendens
VI. Fügungen
Alles fügt sich und erfüllt sich
Es kam immer anders
Ein Schutzengel
Tragfähig beladen
Sich alles zum Besten dienen lassen
Die wahren Maßstäbe
Der kaputte Krug
So jung wie deine Hoffnung
Warum dieses Buch?
St. Ludwig in Berlin-Wilmersdorf – das ist seit 30 Jahren der Ort meines seelsorglichen Wirkens als Franziskaner. Berlin: eine Metropole, zu deren Wesensmerkmalen der Wandel zählt, bis heute für viele ihrer Bewohner spürbar, etwa als Nachwirkung des Zweiten Weltkrieges oder der wunderbaren, friedlichen Revolution von 1989; eine Stadt zugleich, in der Wandel und Vielfalt Hand in Hand gehen.
Meine Jahrzehnte in dieser Stadt haben mich mit ihren Besonderheiten vertraut gemacht, so mit der Vielfalt der Lebensformen und Lebensentwürfe. Ich selbst stamme aus einer Bauernfamilie in Ostwestfalen. Unter anderem waren es die Unterschiede zwischen meiner eigenen Herkunft und Sozialisation einerseits und den Besonderheiten einer Großstadt andererseits – und dies gilt im Besonderen für die Großstadt Berlin –, die mich Vieles lernen ließen. Erstreckte sich dieses Lernen zunächst auf eher praktische Fragen, so galt es im Weiteren vielmehr meinem theologischen Verständnis, meinem spirituellen Leben und – damit einhergehend – meinem seelsorglichen Selbstverständnis und Handeln.
Als ich die Einladung erhielt, ein Buch mit seelsorglichen Impulsen aus Berlin zu veröffentlichen, reagierte ich zunächst zurückhaltend, denn ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Und doch fand ich Gefallen an dem Gedanken, dass ein kleines Buch mit einer Auswahl an Predigten, Rundfunkandachten und Meditationen die mir gemäße Form sein könnte, eine – um es mit einem Bild aus der Landwirtschaft zu sagen – „Ernte" zusammenzutragen. Die nun vorliegende Textauswahl habe ich thematischen Schwerpunkten zugeordnet, denen in meiner seelsorglichen Arbeit meine besondere Aufmerksamkeit gilt. Lese ich die Texte, dann entdecke ich auch, wie viel darin auf mein eigenes Lernen und Reifen verweist.
Dankbar blicke ich auf dieses Lernen und Reifen, das sich in so vielfältiger Art und Weise vollzogen hat, auf mein franziskanisches Leben und auf mein Leben in und mit der Gemeinde St. Ludwig in Berlin, die mir zu einer (zweiten) Heimat geworden ist. Und ich bin dankbar dafür, dass mein seelsorgliches Wirken die ein oder andere Frucht getragen hat.
Wenn sich Leserinnen und Leser durch diesen oder jenen Text angesprochen fühlen, vielleicht dazu angeregt werden, das darin teils Ausformulierte, teils Angedeutete in Beziehung zu ihrem je eigenen Leben zu setzen – es darin zu „übersetzen"–, dann freut mich dies und ich empfinde: Ernte-dank.
P. Josef Schulte OFM
I. Die innere Freiheit entdecken
Wer bist du?
Eine russische Legende erzählt, wie die Frau eines Rabbi nach ihrem Tod an der Himmelspforte gefragt wird, wer sie sei. „Ich bin doch die Frau des Rabbi, antwortet sie mit leichtem Stolz. „Danach habe ich dich nicht gefragt
, gibt Gott ihr zur Antwort. „Wer bist du? Ich will nicht wissen, mit wem du verheiratet warst. – „Ich bin doch die Mutter der vier Söhne, die auch alle Rabbi wurden
, sagt sie, jetzt schon etwas unsicherer. „Ich habe dich nicht nach deinen Familienverhältnissen gefragt, wird ihr geantwortet. „Wer bist du?
– „Ich habe doch den Frauen im Dorf immer die Kleider genäht, sagt sie, jetzt schon gänzlich verunsichert. „Ich habe dich nicht nach deinem Beruf gefragt. Wer bist du?
, lautet die unerbittliche Frage Gottes. Jetzt kann die arme Frau nichts mehr antworten und wird sich bewusst, dass sie ihr Leben nur für andere gelebt hat, ohne zu wissen, wer sie selbst eigentlich ist.
Diese Legende irritiert zunächst vielleicht. Die Frau hat offenbar für andere viel Gutes getan. Trotzdem ist Gott mit ihren Antworten nicht zufrieden, sondern fragt beharrlich weiter: Wer bist du? Doch genau darauf kann sie nicht antworten, denn in ihrem selbst-losen Leben hat sie sich selbst vergessen. Wer bist du? Das ist die zentrale Frage Gottes, der sich jeder von uns sein ganzes Leben hindurch immer wieder stellen sollte. Die Legende will uns nicht abschrecken, sie will uns nur sensibilisieren und dazu ermutigen, uns selbst wichtig zu nehmen.
Heutzutage sind die meisten Eltern und Erzieher darauf bedacht, das Selbstbewusstsein von Kindern durch Bestätigung und Lob zu stärken. Aber noch vor wenigen Jahrzehnten mussten Kinder und Jugendliche oft solches hören: „Du bist nichts. Aus dir wird nichts. Bilde dir nur ja nichts ein. Sei kein Träumer. Sei bescheiden. Ordne dich unter und dränge dich nicht vor. Dem fügte die christliche Erziehung noch hinzu: „Du bist nicht für dich da, sondern nur zum Dienst für andere. Dein Herz ist böse, sündig und eitel.
Aber das ist falsch verstandenes Christentum.
Vor einigen Jahren habe ich den Film „Der Club der toten Dichter" des Regisseurs Peter Weir gesehen. Hier vollzieht der Zuschauer mit, wie ein Lehrer, selbst Absolvent eines traditionalistischen Internates, versucht, den dortigen Schülern ein neues Lebensverständnis nahezubringen. Im Wesentlichen geht es dem Lehrer darum, die Schüler für das zu gewinnen, worauf es für jeden von ihnen ankommt: seinen eigenen Weg zu finden. In einer Szene lässt er drei Schüler auf dem Schulhof hintereinander gehen. Nach kurzer Zeit passt sich jeder den anderen an, so dass letztlich alle drei, begleitet vom Klatschen der übrigen Schüler, im Gleichschritt gehen. Daraufhin charakterisiert der Lehrer sehr lebendig, was zunächst der ganz eigene Schritt und das ganz eigene Gangbild eines jeden Schülers über ihn und seine innere Haltung ausgesagt hatte. Als sie sich auf den angepassten Gleichschritt verlegten, war die persönliche Note ausgelöscht.
Darauf kommt es im Leben an: dass wir unsere eigene Haltung finden, unseren persönlichen Schritt, unser Tempo, unseren Lebens- und Entwicklungsrhythmus – leihen wir uns nicht fremde Haltungen und Herangehensweisen aus, ohne dass wir sie uns anverwandeln wollten oder könnten. Jesus hat uns vorgelebt, dass jeder Mensch vor Gott wertvoll ist. Auf jeden einzelnen kommt es an, auf seine eigene Gewissensentscheidung. Durch sein Beispiel hat Jesus uns zur Freiheit der Kinder Gottes ermutigen wollen. Wir dürfen uns unserer persönlichen Freiheit bewusst sein und können dankbar sein für das Geschenk, Freunde Gottes genannt zu werden. Ein Freund ist ein Partner, und Freunde helfen einander, sich zu entwickeln und zu entfalten. Gott bestärkt uns darin, zu uns selbst zu finden. Jedem von uns ruft er zu: Du bist reicher, als du denkst. Mach dich auf den Weg, dich selbst zu finden – nimm dein Leben in die Hand!
Es lohnt sich, der Frage nachzugehen: Wer bin ich?
Warum tragen Sie den Stein?
Der Mann geht gebeugt am Stock. Die Beine durchzustrecken, dazu fehlt ihm wohl die nötige Kraft. Mit der linken Hand stützt er seinen schmerzenden Rücken, die Stirn hat er in Falten gelegt. So hat ihn der Künstler in seiner Federzeichnung festgehalten.