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1/8 Licht: Aus dem Leben - und daneben
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1/8 Licht: Aus dem Leben - und daneben
eBook472 Seiten5 Stunden

1/8 Licht: Aus dem Leben - und daneben

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Über dieses E-Book

Sehen ohne Licht ist undenkbar, Leben ohne Licht, ohne Sonne ebenso. Das Buch will zeigen, wie ein Mensch mit Handicap, mit nur 1/8 Sehvermögen, auf einem Auge blind, auf dem anderen mit nur einem Bruchteil normalen Sehens das Leben bewältigen kann. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, der Nachkriegszeit, der Sowjetischen Besatzungszone, danach der DDR und schließlich dem vereinigten Deutschland beschreibt der Autor in spannender Form Gedanken, Handlungen und Erlebnisse aus sieben Jahrzehnten, gewürzt mit lustigen, humorvollen Erzählungen, die dem Leser gewiss ein Lächeln auf die Lippen zaubern werden. Mehr noch: Der Autor zeigt anhand eigener Erfahrungen, wie es möglich ist, trotz persönlicher Einschränkungen zielorientiert zu leben, Erfolge zu erreichen, aber auch mit Misserfolgen umzugehen und daraus neue Energie zu schöpfen. Zugleich zeigt er mögliche Perspektiven, Ideen und zahlreiche Tipps für Menschen, die besser leben wollen und somit für wirkliche Veränderungen offen sind, mit der lebensfrohen Absicht, glücklich und erfolgreich das Leben zu gestalten. Erfreuen Sie sich an den zahlreichen Geschichten aus dem Leben - und daneben. Sie werden begeistert sein!
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum25. Aug. 2015
ISBN9783739294841
1/8 Licht: Aus dem Leben - und daneben
Autor

Reiner Lohse

Reiner Lohse, 1945 geboren, studierte Ingenieurökonomie und Betriebswirtschaft. Er lebt in Freiberg (Sachsen) und kann auf eine Reihe erfolgreicher Unternehmungen zurückblicken.

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    Buchvorschau

    1/8 Licht - Reiner Lohse

    2015

    1. Kapitel: Damals – vor meinem Leben

    Familienalbum

    Mutter war eines der 5 Kinder von Lina und Louis. Die Waldarbeiterfamilie lebte in geduldeter Armut in der Freimühle nahe dem Dorf Langenau, nicht weit von der Bergstadt Freiberg in Sachsen. Ilse war die jüngste der Kinder, 1911 geboren. Ihre Geschwister Frieda, Rosa und Willi waren genauso herzensgut. Bruder Paul war es sicher auch, doch musste er 1916 im 1. Weltkrieg in Flandern sein Leben lassen. Er war „für Volk und Vaterland gefallen" – wurde mit der Todesnachricht im Stile militärischer Eroberungen mitgeteilt. So blieben sie nur 4 Geschwister, von denen jeder seinen Lebensweg ging.

    Großeltern Louis und Lina Clausnitzer mit Kindern 1914. Hintere Reihe von links Paul, Willi, Rosa und Frieda; vorn stehend Ilse.

    Mutter lernte nach der Schulzeit in einer Nudelfabrik „Nudelmacherin". Noch während der Lehrzeit und vor allem danach waren die flinken Hände der jungen Mädchen sehr gefragt. Für einige Groschen Wochenlohn wurden die jungen Frauen unter Aufsicht von Aufsehern zur Arbeit angetrieben. Die Ergebnisse ihrer Arbeit, oder besser den Profit daraus, eignete sich der Fabrikbesitzer an.

    Nach einiger Zeit bewarb sich Ilse in einem Milchgeschäft als „Milchmädchen" und musste im Ort und den Nachbardörfern Milch austragen bzw. Milchprodukte verkaufen. Auch hier war der Verdienst gering, aber durch längere Arbeitszeiten von 10 bis 12 Stunden kamen ab und zu einige Groschen mehr heraus.

    1902 in Brand-Erbisdorf geboren, wuchs mein Vater Kurt im Hause seiner Eltern auf. Diese betrieben ein Milchgeschäft, das sich um 1912 bereits mit beachtlichem Umfang in der Bergstadt sehen lassen konnte. Sie verkauften Milch und Milchprodukte, also auch Butter, Quark und Käsesorten. Neben dem Verkauf im Geschäft des eigenen Hauses wurden die Waren auch „ausgetragen", d.h. zu den Kunden nach Hause gebracht, entweder getragen oder mit Karren, Handwagen oder Fahrrad transportiert. Vater Adolf führte noch das landwirtschaftliche Anwesen mit Kühen und Pferden, wozu auch die Bestellung einiger Felder mit Getreide, Kartoffeln und Gemüsesorten gehörten.

    Vater Kurt bei der Feldbestellung.

    Kurt und sein älterer Bruder Emil wuchsen in ziemlich ärmlicher Kindheit auf. Schon sehr frühzeitig wurden die Jungen zu Arbeiten auf dem Feld oder im Stall herangezogen oder mussten selbst Milch mit austragen. Er konnte selbst gut mit Pferden umgehen und wenn es Gelegenheit gab, verdiente er sich mit Pferdefuhrwerken oder Kutschen ein paar Groschen bei einem Großbauern dazu, was seiner Mutter Selma ganz und gar nicht gefiel, denn auf dem eigenen Hof gab es genug Arbeit, Tag für Tag. Doch außer Essen und Unterkunft hatte Kurt nie aus Tätigkeiten im elterlichen Anwesen irgendwelche Zuwendungen erhalten und war so durch körperlich schwere Arbeit praktisch zu nichts gekommen, weshalb er sich vornahm, sein Geld anderweitig zu verdienen. Das führte zu Unverständnis seiner Mutter Selma und zu lang anhaltenden Zerwürfnissen.

    Dann erlernte er den Beruf eines Maurers. Nach dem 1. Weltkrieg 1919 aber lag die Wirtschaft am Boden und war von Arbeitslosigkeit und Armut geprägt. Deshalb beschloss er zusammen mit drei weiteren Handwerksgesellen auf Wanderschaft zu gehen. Sie zogen von Ort zu Ort nach Süddeutschland, nur mit dem Nötigsten im Gepäck und einem Fahrrad. Sinn der Wanderschaft war, sich in verschiedenen Handwerksbetrieben um Arbeit zu bemühen und zugleich handwerkliche Erfahrungen in mehreren Gewerken zu sammeln. So konnte sich Vater neben Maurer- und Betonarbeiten auch Kenntnisse und Fähigkeiten im Holzbau und Zimmermannshandwerk aneignen. Über ein Jahr sollen sie unterwegs gewesen sein, bis in den Raum München. Vater erzählte mir, dass er sich in dieser Zeit ein stattliches Sümmchen an Geld erarbeiten konnte. Drei Jahre später war von dem Ersparten nicht mehr viel übrig, nur die Beträge auf den Scheinen und in den Sparbüchern wurden mit immer mehr Nullen versehen und immer größer! Die Inflation griff um sich.

    Bald lernte er das Mädchen Ilse kennen, die für das Milchgeschäft der Eltern Milch austrug und sich damit einen kümmerlichen Lohn erarbeitete. 1928 wurde Marianne, ihr erstes Kind, geboren. Es kam zu erheblichen Differenzen mit Mutter Selma, die die Beziehung weder akzeptierte noch eine Heirat befürwortete. Schließlich bezogen sie eine kleine Wohnung im Ortsteil Erbisdorf und heirateten 1929. Zwei Jahre später wurde Töchterchen Gertraute geboren. Alles schien sich zum Besseren zu wenden, nur die Zweizimmerwohnung wurde zu eng. Anfang der 30er Jahre legte die Baugesellschaft GAGFAH ein neues Projekt zum Bau von Siedlungshäusern auf, das mit Hypotheken gefördert werden sollte. Kurt und Ilse entschlossen sich dazu, ein solches Haus, eine Doppelhaushälfte, zu bauen. Der Bau wurde im Sommer 1933 abgeschlossen und konnte nun durch die junge Familie bezogen werden. Jetzt waren mehr Platz und ein Gartengrundstück von 1000 qm gegeben, das zu bebauen, zu bestellen und zu pflegen war. Zugleich aber stellte das Grundstück die Grundlage für eine bessere Versorgung der Familie mit Obst und Gemüse dar. Nach einigen Jahren pachtete Vater noch Felder auf dem Kuhberg und an der Kohlenstraße für den Anbau von Getreide, Kartoffeln, Rüben und Grünfutter für einige Haustiere in Kleintierhaltung. Die Felder wurden meist manuell bestellt. Dazu wurden die Ackergeräte mit Zugstangen und Seilen durch Familienmitglieder und Bekannte gezogen. Eine mühsame Schinderei. Wenn es sich ergab, lieh sich Vater mal ein Pferd von einem Bauern aus.

    Beim Hausbau 1932.

    Nach der Machtergreifung der Faschisten 1933 geriet auch Brand-Erbisdorf und das neue Siedlungsgebiet unter ständige Kontrollen und Gewaltakte der SA und der Gestapo. Es gab Durchsuchungen und auch Verhaftungen, brutal und rücksichtslos. Auch Kurt geriet seit ungefähr 1935 in die Umtriebe der Nazis, weil er Bekannten und Freunden, die sowohl religiös als auch Kommunisten waren, geholfen hatte, sich in Verstecken den Verfolgungen zu entziehen. Aufgeschichtete, hölzerne Teile von großen, gerodeten Baumstümpfen und der Eiskeller des elterlichen Milchgeschäftes boten dafür hinreichende Bedingungen und konnten in Gefahrensituationen kurzzeitig genutzt werden, bis die Nazis verschwunden waren. Vater sprach nicht viel über seine Art von Hilfeleistung. Er tat einfach, was im richtigen Moment notwendig war, um das Leben von Menschen zu schützen.

    Noch vor Kriegsbeginn hatte Vater mehrere Operationen wegen schwerer Darmerkrankungen über sich ergehen lassen müssen. Deshalb musste ihm 1941 letztlich ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. Mit der Zeit konnte er auch damit einigermaßen umgehen und bewältigte mit dieser Art Behinderung die Herausforderungen des Lebens. Sein gesundheitlicher Zustand war es, der ihn vor dem Einzug in die Wehrmacht und damit vor der Metzelei an den Fronten bewahrte. So wurde er zu Tätigkeiten des Arbeitsdienstes vor Ort herangezogen.

    Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Freimühle, die sich an der Straße von Mönchenfrei nach Langenau befand. Obwohl sie schon sehr alt waren, ging ich als Kind immer gern zu ihnen. Beide hatten ein Herz für Kinder. Zwar lebten sie in ärmlichen Verhältnissen, aber für uns Kinder ließen sie sich immer etwas einfallen.

    Die Freimühle bei Langenau im Winter 1963.

    Opa Louis war eine Seele von einem Mensch, gutmütig, humorvoll mit herzzerreißenden „trockenen Bemerkungen, manchmal mit einem lustigen Unterton, wenn es um seine Frau Lina, also meine Oma, ging. Großvater war vor allem Kindern gegenüber herzensgut und stets bereit, ihnen etwas Vernünftiges bei zu bringen. Als gestandener Waldarbeiter war er sein ganzes Leben lang mit der Natur verbunden und er kannte wohl die Tücken und Geheimnisse des Waldes am besten. Holz war seine Leidenschaft und zugleich „Lebensrohstoff Nr. 1, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Sommer wie Winter. Aus diesem Naturstoff kleine „Kunstwerke" zu fertigen, machte ihm besonders Spaß und begeisterte uns Kinder.

    Ein schweres Arbeitsleben lag hinter ihm, immer bemüht, für die Natur des Waldes das Beste zu tun, denn der Baum des Waldes sorgt schließlich für die Lebensfähigkeit künftiger Generationen. Wie wahr das auch heute noch ist!

    Die Tätigkeit als Holzfäller war mehr als beschwerlich. Säge, scharfe Axt oder Beil, ein paar Keile oder Kieleisen und Brechstangen waren damals die wohl einzigen und wichtigsten Werkzeuge. Eine wahrhaft körperlich anstrengende Arbeit, von den schwersten Transporten des gefällten Holzes ganz zu schweigen. Dafür standen nur die eigene Körperkraft mit einigen Hilfsmitteln, wie Seile und Brechstangen, zur Verfügung, für den Abtransport dann zugkräftige Pferde. Von Kränen, Hubladern oder Motorsägen – wie sie heute verwendet werden – keine Spur, nicht mal ein Gedanke daran.

    Großvaters Arbeitsgebiet lag meist in den umliegenden Wäldern. Oft war es damals üblich, dass die Kinder das Mittagessen in einem einfachen Blechgeschirr und Getränke bringen mussten. So gingen auch Tochter Ilse und die anderen Kinder „Essen tragen", wie man damals zu sagen pflegte, oft auf weiten, beschwerlichen und auch nicht ungefährlichen Waldwegen und völlig allein in Wald und Flur.

    Es war die schwere körperliche Belastung, die bei Großvater zu einer spürbaren Verschlechterung seines Sehvermögens führte. Die damaligen Erkenntnisse der Augenmedizin waren noch nicht dafür ausreichend, dem Einhalt zu gebieten, so dass es zu seiner Erblindung kam. 27 Jahre lebte er noch „im schwarzen Dunkel, sonst körperlich noch durchaus gesund, in bescheidener „Waldarbeiter-Zufriedenheit.

    Großvater war nicht besonders gesprächig, aber wenn er uns Kindern erzählte, waren es spannende Geschichten, Erlebnisse, die er mit den Tieren des Waldes hatte, kleine Waldabenteuer eben, die uns faszinierten wie die schönsten Märchen. Dabei saß er entspannt und ruhig in seinem Sessel neben dem alten gusseisernen Ofen in der Küche, die zugleich Wohnstube war, oder im Sommer auf der Bank vor der Mühle.

    Er hatte ein unglaubliches Gespür dafür, ob wir seinen Erzählungen auch aufmerksam zuhörten. Da er nichts sehen konnte, streute er in seine Geschichten die eine oder andere „galante Frage an uns ein, etwa: „Was hättet ihr gemacht, wenn ihr dabei gewesen wärt? Oder: „Hättest du denn eine Idee, wie man das hinkriegen kann?" Oder so ähnlich. Er hatte die Gabe, uns zum Nachdenken zu bewegen, und das fand ich sooooo interessant!

    Aber mehr noch: Wie ich schon schrieb, war er auch ein „kleiner Künstler" und konnte für uns Kinder interessante Dinge aus einem Stück Holz hervorbringen. Von den kleinen einfachen Holzfiguren, wie Tiere und Bäume , für uns Kinder (meist war ich das allein oder mit meinem Cousin Hubert oder mit Herbert von der Nachbarfamilie in der Freimühle zusammen) bin ich noch heute begeistert, wenn ich bedenke, dass er alles nach Gefühl machen musste, ohne auch nur einen Lichtschein zu sehen. Unglaublich mit welcher Geschicklichkeit er es verstand, mit den schärfsten Messern aus einem unscheinbaren Stück Holz etwas für uns Wunderbares zu zaubern! Nur bat er darum, ihn dabei nicht zu stören, damit er sich geistig auf die Formgebung konzentrieren konnte. In Zeitabständen besprach er immer die nächsten Schritte mit uns.

    Opa erklärte mir auch die verschiedenen Holzarten und wie man sie unterscheiden konnte, so auch, dass Linde für das Schnitzen am besten geeignet und deshalb besonders wertvoll sei. Einmal brachte ein Förster einige Scheiben verschiedenen Holzes mit, die für die Schule in Langenau als Anschauungsmaterial bestimmt waren. Da der Förster ein ziemlich strenger Mann war, wandte ich mich ohne zu überlegen an Opa, er solle mir doch zeigen, welches Holz das alles sei. Zu meinem Erstaunen tat er das auch, mit fachmännischem Können, mit Nase und Fingern. Damals muss ich so fünf, sechs Jahre alt gewesen sein. Es war die reinste Zauberkunst für mich. Nach dem Geruch des Holzes, seinem Harzgehalt und der Oberfläche konnte Opa Louis mit 100%iger Sicherheit alle Holzarten bestimmen.

    Im Sommer zeigte uns Opa, wie man aus einem Aststück eine Pfeife machen konnte und auch viele andere Dinge, wie Schiffchen die wir den Bach hinunter steuerten. Das war das reinste „Waldparadies" für uns Kinder.

    Man sollte es nicht für möglich halten, aber eines Tages entdeckte ich Opa Louis sogar beim Holzhacken, und es gab nicht mal eine Verletzung oder einen Unfall! Die Holzscheite schnitt er dann noch akkurat in dünne, lange Späne, die er immer wieder brauchte, um ein ordentliches Feuer im Ofen zu entfachen. Wir Kinder spielten gern mit den langen Holzstäbchen und legten damit große Figuren auf dem Holzfußboden. Bevor man die Freimühle betrat, fiel wohl jedem auf, dass hier ein Waldarbeiter wohnen musste, denn neben dem Schuppen waren die gesägten Baumstücke oder das gehackte Holz meterhoch exakt gestapelt, für den nächsten Winter.

    Gezeichnet von einem arbeitsreichen Leben, aber dennoch liebevoll und urgemütlich, so lernte ich Oma Lina als Kind in ihren letzten Jahren kennen. Wenn ich bei Oma zu Besuch war, gab es oft eine kleine Überraschung, etwa was Gebackenes oder eine Schüssel köstlicher Waldbeeren, die sie selbst gepflückt hatte. Später dann ging sie mit mir gemeinsam auf „Beerensuche und zeigte mir die schönsten Stellen im Wald, die den größten Ertrag brachten. Sie zeigte mir aber auch, wo Fuchs und Dachs ihr „Zuhause hatten, und sie machte mich immer wieder darauf aufmerksam, wie man in die Natur hineinhören müsse, um die Stille des Waldes zu fühlen. Manchmal pflückten wir gemeinsam Wiesenblumen am Waldesrand neben der Mühle. Einmal berichtete Großmutter von einem schweren Gewitter, bei dem durch Blitzschlag ein Baum in zwei Teile gespalten wurde. Gespannt stand ich vor diesem Riesenbaum und konnte kaum begreifen, wie ein Blitz so was fertig bringen konnte, mit welcher riesigen Gewalt. Ein anderes Mal zeigte sie mir die Stellen, wo sich gerne Kreuzottern aufhielten und ich sollte gut aufpassen, um nicht auf eine solche zu treten. Ein Schlangenbiss sei giftig und damit gefährlich. Auch erzählte sie davon, wie sie eines Tages eine gefährliche Kreuzotter mit einer Axt erlegt hatte. Dabei beobachtete sie, dass die Schlangenstücke noch bis zum Sonnenuntergang lebendig beweglich waren. Erst danach sei die Schlange tatsächlich tot gewesen.

    Einige Zeit später, als ich schon Fahrrad fahren konnte, kam ich erschrocken mit Kreuzottern in Berührung. Ich war dabei, zu den Großeltern zu fahren und benutzte kurz vor dem Ziel den „Forstweg". Ich vermutete zunächst, es seien Kuh- oder Pferdehaufen, doch Kreuzottern hatten sich in der Mittagssonne auf dem Weg gemütlich zusammengerollt, was ich nicht sofort bemerkt hatte. Erst als ich eine überfahren hatte und ein lautes Zischen zu hören war, wurde mir klar, was passiert war. Ich trat kräftig in die Pedale und war froh, noch mal davon gekommen zu sein.

    Zum Frühstück oder auch zum Kaffee nachmittags war es Großmutters Angewohnheit, Brötchenstücke in ihren Milchkaffe oder in die frische heiße Kuhmilch zu geben, sicherlich deshalb, weil ihr Gebiss nicht mehr vollständig war. Eingeweichte, „geditschte" Brötchen jedoch, konnte ich nie leiden, bis heute nicht.

    So waren Geborgenheit und Güte die wesentlichen Eigenschaften meiner Großeltern in der Freimühle. Nur zu gern war ich bei ihnen und genoss als Kind ihre Liebe und Wärme, die sie mir gaben. Die Erkenntnisse, die sie mich entdecken ließen und ihre oft einfachen Ratschläge und Erfahrungen waren für mich ein Reichtum besonderer Art, für den ich heute noch dankbar bin.

    Eine diamantene Hochzeit ist wohl ein recht seltenes Fest. Meine Großeltern durften es 1953 noch erleben. Ich war zusammen mit meinen Eltern dabei. Es war ein wunderbarer Sommertag, am Waldesrand blühte alles in Hülle und Fülle. Die Feier fand deshalb zum großen Teil auf der großen bunten Sommerwiese gegenüber der Freimühle statt. Urenkel Christel spielte begeistert auf dem Akkordeon. Hubert und ich vergnügten uns mit allerlei Spielchen auf der Waldwiese am Bach. Es war für mich wunderschön, mit Oma und Opa an diesem Festtag zusammen zu sein.

    Selma schließlich war meine Oma väterlicherseits und von ihrem Verhalten und ihrem Charakter her das ganze Gegenteil von Oma Lina.

    Sie bewohnte einige Räume im Erdgeschoss ihres Hauses im Zentrum Brand-Erbisdorfs und betrieb lange Zeit bis nach dem Krieg noch ihr Milchgeschäft, das über viele Jahre ganz gut florierte, dann aber allmählich dem Untergang geweiht war, denn das Aufkommen an landwirtschaftlichen Produkten war in der Nachkriegszeit gering und der Bezug von Waren auf Lebensmittelkarten wurde eingeführt. In die Jahre gekommen, war sie nicht mehr in der Lage, das Geschäft weiter zu führen. Ihr Mann Adolf, also mein Opa, war bereits 1936 verstorben.

    Die Räumlichkeiten des Milchgeschäftes befanden sich immer noch im Keller und im Erdgeschoss des eigenen Hauses, ein Verkaufsraum, ein Eiskeller und noch mehrere Nebenräume. Zum Grundstück gehörten noch eine große Lagerhalle, die in den 50er Jahren an eine Ofenfirma vermietet wurde und noch mehrere Schuppen. Oma lebte nun schon viele Jahre allein und hatte das Milchgeschäft aufgegeben, weil sie es nicht mehr bewältigen konnte. Ebenso war ihr es praktisch unmöglich geworden, Haus und Grundstück in Ordnung zu halten. Also blieb diese Aufgabe für meinen Vater, der sich nach Kräften bemühte, das Haus einigermaßen durch eigene handwerkliche Leistungen zu erhalten.

    Selma wurde schließlich bettlegerisch und musste versorgt werden. Diese Aufgabe fiel nun Mutter und Vater zu, neben Instandhaltungsmaßnahmen am Haus, das Selma gehörte. Mit fortschreitendem Alter wurde sie immer grimmiger, uneinsichtiger und verständnisloser, bis hin zu ihrer ausgeprägten boshaften Haltung. Bösartigkeit dieser Weise betraf nicht nur meine Eltern, sondern alle Menschen, die an ihr Bett traten oder in ihre Nähe kamen. Ihre übertriebene, herrschsüchtige Verhaltensweise rief Unverständnis und Abscheu bei fast allen hervor. Obwohl ich damals die Zusammenhänge nicht verstand, bewunderte ich Vaters Geduld dabei. Kinder, also auch mich, konnte sie überhaupt nicht leiden, was mich beizeiten dazu brachte, ihr aus dem Weg zu gehen. Eine unsympathische Oma und eine geizige dazu konnte ich nicht ertragen.

    Ein Beispiel: Auf dem Schillerplatz vor ihrem Haus wurde ein Eiswagen zum Verkauf von Speiseeis aufgestellt. Eine Kugel 10 Pfennig, damals. Aber ich kenne keine einzige Gelegenheit, zu der mir Oma Selma mal einen Groschen für ein Eis gegeben hätte. Das tat für mich immer nur Vater. Obwohl sie es hätte tun können, habe ich von ihr kaum ein freundliches Wort oder irgendeine Geschichte gehört, ganz zu schweigen von ein paar Pfennigen für die Sparbüchse. Wenn Vater mit Arbeiten am Haus beschäftigt war, war auch ich oft dabei und wenn es mal um eine Flasche Limonade oder etwas vom Bäcker ging, dann war er es, der mir das nötige Kleingeld gab.

    So blieben mir von Oma Selma nur unangenehme Erinnerungen, Sturheit, Verdruss, Hass, Unleidlichkeit gegenüber Kindern. Heute kann ich sagen, dass sie in hohem Alter kaum mehr Willens war, andere Menschen zu akzeptieren, geschweige denn ihre Hilfe mit Dankbarkeit anzuerkennen. Ein Dankeschön habe ich nie von ihr gehört. Nie! Mein Vater Kurt sagte mir Jahre später, er habe gleiches erlebt, nie ein Dankeschön.

    Die letzten Monate ihres Lebens verbrachte sie in einem Pflegeheim in Olbernhau im Erzgebirge. Eine Pflege zu Hause war unmöglich geworden. Oma verstarb dann 1953 und meine Eltern mussten sich entscheiden, ob sie das Erbe antreten wollten oder nicht. Wahrscheinlich hatte mein Vater nicht überblicken können, was da auf ihn zu kam. Die Mieten waren extrem niedrig, die laufenden Kosten für das Haus und die Instandhaltung hoch. Die Mieteinnahmen konnten die Ausgaben niemals decken. So entstanden ihm Belastungen bis an die Grenze des Möglichen. Ende der 50er Jahre überschrieb mein Vater das Grundstück schließlich der Stadt Brand-Erbisdorf ohne Verrechnung, denn sein gesundheitlicher Zustand hatte sich enorm verschlechtert. Die Gebäude wurden in den 90er Jahren abgerissen. An der gleichen Stelle wurde ein modernes Wohn- und Geschäftshaus errichtet.

    Rettung von Mutter und Kind

    Herbert aus Dresden war der Cousin meines Vaters Kurt. Zwischen ihnen gab es viele Gemeinsamkeiten. Ab und an gab es gegenseitige Besuche, Vater war fasziniert von der Kunststadt Dresden und Herbert war ab und an mal froh, das Großstadtleben zu verlassen und ein paar Tage auf dem Lande in Brand-Erbisdorf zu verbringen. Bereits am 15. August 1939 wurde Herbert, wie viele junge Männer im wehrpflichtigen Alter, zur Wehrmacht eingezogen. Herbert musste in den Krieg ziehen. Er hatte mit meinem Vater vereinbart, falls in Dresden etwas Schlimmes passieren würde, Gertraut unbedingt zu helfen, wenn er nicht vor Ort sei. Er hatte seine Frau im Sachsenwerk Niedersedlitz kennen gelernt, wo beide arbeiteten. Herbert war gelernter Kaufmann und Gertraut fand eine Ausbildung als Stenotypistin.

    13. Februar 1945 zwischen 21:00 und 22:00 Uhr: Die Sirenen kündigten Luftalarm an. In Brand-Erbisdorf war ein übernatürliches lautes Brummen aus westlicher Richtung zu hören, für jeden unüberhörbar! Minuten später sah man in östlicher Richtung „Christbäume" am Himmel. So nannte man die Markierungen für Bomber zu einem bestimmten Zielgebiet. Vater hatte recht: Es konnte hier nur gegen Dresden gehen. Einige Minuten später hörte man gewaltige Detonationen, schlimmer als Donner bei einem schweren Gewitter. Bald darauf färbte sich der Himmel im Osten glutrot. Ein gespenstisches Bild! Vater befürchtete das Schlimmste. Noch in der Nacht machte er sein Fahrrad klar, um Getraut aus Dresden heraus zu holen, denn für ihn war klar, dass es von Dresden nach Freiberg keinerlei Verkehrsverbindungen mehr gab, keinen Zug, einfach nichts ging mehr.

    Im Morgengrauen des 14. Februar nahm Vater Kurt mit seinem Fahrrad Kurs auf Dresden, vorbei an vielen Flüchtlingen, die Dresden wegen der schweren Bombenabgriffe angloamerikanischer Bomber fluchtartig verlassen mussten, vorbei an einer Unmenge von Toten, die den Angriff oder die Flucht nicht überleben konnten. Die fast 50 km müssen für Vater grausam gewesen sein. Unvorstellbar, wie er es trotzdem schaffte, bis in die Innenstadt von Dresden vor zu dringen, denn alles war mit Trümmern übersät, keine Straße mehr normal passierbar. Vater erzählte mir von der Verbrennung ganzer Berge von Leichen auf dem Altmarkt und einem entsetzlichen Gestank, von der Ohnmacht noch lebender Menschen, die nach Hilfe schrien. Zunächst blieb ihm nur der Ausweg, bis in die Neustadt vor zu dringen und seine Tante Anna (Gertrautes Schwiegermutter) in dieser Trümmerwüste zu suchen. Das tat er und fand schließlich Anna unverletzt und einigermaßen beherrscht vor. Glücklicherweise war sie noch von Gertraut informiert worden, dass sie mit ihrem Kind die Stadt über Gönnsdorf verlassen würde, um sich dann nach Brand-Erbisdorf durch zu schlagen. Also wusste Anna über die beiden Bescheid. Vater war nun darüber informiert, was geschehen war und was die beiden zu ihrer Rettung unternommen hatten.

    Zwischenzeitlich gab es einen weiteren Bombenangriff, in den auch Vater verwickelt wurde, konnte ihn aber in einem Neustädter Luftschutzkeller gerade noch überstehen. Nach dem Angriff packte er das Nötigste an Gepäck von Anna auf sein Fahrrad und kämpfte sich wieder zurück bis nach Freiberg durch. Es muss eine äußerst strapaziöse Fahrt mit großer körperlicher Anstrengung gewesen sein.

    Erst in der Nacht zum 18. Februar kam Vater abgekämpft aus Dresden mit seinem Fahrrad zurück. Gertraut hatte in aller Not mit Heidi einen anderen Weg nach Brand-Erbisdorf nehmen müssen und somit hatte seine Rettungsaktion zunächst keinen Erfolg. Doch war etwas später die Freude riesengroß, als sich alle in die Arme schließen konnten und Getraut mit Töchterchen Heidi endlich in Brand-Erbisdorf eintraf. Beide erreichten Brand ebenfalls über Umwege, über Niedersedlitz, Heidenau, Altenberg, Moldau (Moldava) und Berthelsdorf unter Benutzung von Nebenbahnen, denn die Strecke Dresden – Freiberg war größtenteils zerstört.

    Die Familie rückte zusammen. Vater machte für Mutter und Kind eine Kammer im ersten Stock zurecht, so dass sie beide ungestört über längere Zeit ganz gut untergebracht werden konnten. So war auch für Gertraut und klein Heidi zumindest für das Nötigste gesorgt. Sie erinnerte sich noch Jahre danach mit Tränen in den Augen daran, als meine Mutter ein „festliches Mahl auf den Tisch zauberte: Darauf wurde ein Berg frischer Pellkartoffeln geschüttet – und alle durften sich endlich mal wieder satt essen! Es muss Gertraut wie ein „kleines Paradies in Kriegszeiten vorgekommen sein, denn Heidi konnte sich auf dem Lande bald recht gut erholen. Die Dresdnerin half im Garten und bei der Feldbestellung im Frühjahr, auch oft unter der Gefahr des Angriffes von amerikanischen und englischen Tieffliegern, so dass sie ihre Arbeit oft unterbrechen mussten. Gertraut nähte auch verschiedene Kleidungsstücke für die Familie. Das konnte sie besonders gut.

    Die Furcht vor Luftangriffen war bei allen nach wie vor groß. Deshalb hatte mein Vater Kurt auf dem Feld einen Unterstand gebaut, in dem etwa 8 Personen unterkamen. Das Objekt war außerordentlich gut mit Bäumen und Sträuchern getarnt, so dass man schon ziemliche Mühe hatte, um es zu entdecken. Wie sich zeigen sollte, war das eine sehr weise Idee meines Vaters, denn selbst bei Angriffen mit Tieffliegern erwies sich das Ganze als perfekte Schutzmaßnahme für die Familie.

    Um Frauen und Kinder zu schützen, verwirklichte Vater noch eine andere Idee: Er hatte über Jahre einen großen Vorrat an Wurzelholz aus dem Wald angelegt, da in Kriegszeiten weder Kohle noch andere Brennstoffe zu kriegen waren. Die meterhohen großen Holzhaufen, wir nannten sie „Stöcke", waren gut geeignet, Frauen und Mädchen der Familie vor Übergriffen zu schützen. Deshalb baute er auch in einem der Holzhaufen einen Unterstand aus, in dem die weiblichen Familienmitglieder im Gefahrenfall Unterschlupf finden konnten. Das erwies sich als besonders notwendig, als Anfang Mai die russischen Soldaten auch in unser Gebiet um Freiberg einzogen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung waren.

    So verblieben Mutter und Kind letztlich in noch gut behüteter ländlicher Umgebung fast ein Vierteljahr und kehrten erst im Mai wieder in ihre Heimatstadt zurück, mit dem ersten Güterzug, der wieder bis an den Stadtrand Dresdens fuhr.

    Neues Leben

    Im September 1945 erblickte ich das Licht der Welt. Im Sternbild „Jungfrau mein Leben zu frönen, schien keine schlechten Aussichten erkennen zu lassen. So war die Freude von Ilse und Kurt doppelt groß, nun auch noch einen Jungen in der Familie zu haben. Etwas quirliger als meine beiden älteren Schwestern Marianne und Getraute soll ich schon gewesen sein und man hatte sicherlich einige Mühe mit mir, mich auf eigene Füße zu stellen. Aber Bewegung ist nicht alles. Schreien konnte ich auch, und zwar laut und ziemlich gut, was meinen Eltern manche Nacht geraubt haben soll. Im Dezember kam es zu einem Besuch von Gertraut aus Dresden, die sich auf besondere Weise für die herzliche Aufnahme im Hause meiner Eltern nach dem Bombenangriff auf Dresden bedanken wollte. Während des Besuchs bemerkte Gertraut an dem Baby in den Augen eine Grautrübung, was nicht normal zu sein schien. Meine Mutter selbst hatte es nicht bemerkt. Die Folge aus dieser Beobachtung war Gertrautes Empfehlung, das Kind schnellstens einem Augenarzt vorzustellen. Anfang 1946 endlich kam es zu einer Vorstellung in einer Dresdener Augenklinik, die nur noch teilweise erhalten geblieben war. Augenarzt Dr. Baas diagnostizierte „angeborenen Grauen Star, womit die Richtigkeit der beobachteten Linsentrübung bestätigt war. Nun blieb nur die Möglichkeit einer Operation auf beiden Augen, und das unter den schlechtesten und ungünstigsten Bedingungen, die man sich nur denken kann. Außer an herkömmlichen Operationsinstrumenten fehlte praktisch alles. Außerdem war ständig mit Unterbrechungen der Elektrizitäts- und Wasserversorgung zu rechnen. Unter diesen Umständen verlief die Staroperation im Lebensalter von einem halben Jahr so recht und schlecht, aber auf keinen Fall zufriedenstellend. Schon wenige Tage nach der Operation wurde klar, mit erheblichen, noch unvorhersehbaren Komplikationen rechnen zu müssen.

    Heute sind Staroperationen kaum noch ein unbeherrschbares medizinisches Problem. Viele Eingriffe sind auch ambulant möglich. Inzwischen haben sich Medizintechnik, Operationsverfahren und Therapiemöglichkeiten auf ein hohes Niveau weiterentwickelt. Heute weiß man aus wissenschaftlichen Untersuchungen wesentlich mehr über Ursachen des Grauen Stars. Besonders starken Einfluss auf das Entstehen dieser Augenkrankheit haben in erster Linie Vitamin- und Mineralstoffmangel, in zweiter Linie auch Vererbungsfaktoren. Hinzu kommen Fehlernährung sowie Angst- und Stress-Situationen, die eine Starentwicklung zusätzlich begünstigt haben sollen, so die Aussagen mehrerer Augenärzte und Wissenschaftler nach jüngsten Forschungsergebnissen.

    Die Operation gelang unter unsagbar schwierigen Bedingungen also nur teilweise, so dass ich bereits als Kleinkind mit großen Sehschwächen klar kommen musste. Dabei war es mit dem rechten Auge stets schlechter bestellt, als mit dem linken. Räumliches Sehen war auch nach der Operation praktisch unmöglich. Bis heute habe ich räumliches Sehen niemals wahrnehmen können, was ich insgesamt als eine unbeschreibliche Freiheitseinschränkung empfand. Bei allem, was ich tat, fehlte jegliches räumliches Empfinden, das jeder Mensch hat, wenn er mit beiden Augen normal sehen kann. Also musste ich unter erschwerten Bedingungen erst lernen, ein eigenes Raumgefühl ohne voll funktionsfähige Augen zu entwickeln, was für mich hieß, mit den Auswirkungen des „Grauen Stars" mein Leben zu verbringen.

    Kindheitsfoto 1948

    Die Taufe des „Kleenen sollte im Dezember 1945 stattfinden, in der Adventszeit, kurz vor Weihnachten. Der Krieg war zwar vorbei, die Nachwirkungen immer noch entsetzlich. Doch auch unter diesen Umständen sollte meine Taufe ein fröhliches und freudiges Ereignis werden. Nach der „göttlichen Zeremonie in der Kirche ging es mit den Gästen zurück in unser Siedlungshaus am Rande der Stadt. Die kurze Taufpredigt soll zum Inhalt gehabt haben, „Gott würde alles dafür tun, dass ich in Gesundheit und Glück leben könne und aus mir ein kluger und fleißiger Mensch werde". So erzählte es mir in meiner Schulzeit Patenonkel Hermann.

    Jedenfalls müssen Eltern und Gäste ziemlich lustig gewesen sein. Da es sonst nichts gab, hatte Vater eigenen Obstwein angesetzt, mit Beeren und Früchten aus dem eigenen Garten. Mutter Ilse hatte eine riesengroße Emailleschüssel mit Kartoffelsalat gezaubert, für den Nachmittag wurde ein Kuchen gebacken und Kaffee gab es auch. Am Abend nahmen wieder alle am großen Küchentisch Platz, der strapazierfähig mit dunkelgrünem Linoleum bezogen war. Der „große Asch" (so nannte Mutter die Schüssel in sächsischem Dialekt) mit dem Kartoffelsalat wurde auf den Tisch gestellt und jeder konnte sich nach Herzenslust bedienen. Endlich einmal satt essen – das war wohl der Leitspruch für diese Tauffeier in der schweren Zeit, da viele hungern mussten.

    All das kombiniert mit Vaters Hausweinsorten soll alles in allem ein fröhliches Fest gewesen sein. Besonders das so genannte „Gläselrücken" war am späten Abend noch ein aufregendes und lustiges Erlebnis, von dem jahrzehntelang noch gesprochen wurde.

    Brüderchen und Schwesterchen

    Marianne und Gertraute waren ein ganzes Stück älter als ich, 17 bzw. 15 Jahre älter. Marianne wurde 1928 geboren und hatte Kontoristin gelernt. Gertraute erblickte 1930 das Licht der Welt und wurde als Strickerin ausgebildet. Dann gab es

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