Inspiration 4/2020: fremd
Von Verlag Echter
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Über dieses E-Book
"Fremd" ist dabei ein changierender Begriff. Gemeint ist das, was vom Vertrauten abweicht, das uns ungeplant widerfährt, das beängstigt, in Frage stellt und zur Improvisation nötigt - kurz: die Begegnung mit Fremdem ist eine Grenzerfahrung. Zugleich sind es Erfahrungen des Fremden, die Neues entstehen lassen; kreative Antworten ermöglichen; den Horizont weiten.
In der biblischen Tradition erscheint der Umgang mit Fremden und mit dem Fremden von besonderer Bedeutung, an der sich ›Glauben‹ zeigt: "Der Herr beschützt die Fremden" (Ps 146,9); "Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen " (Mt 25,35). Wie wir mit Fremdem und den Fremden umgehen, daran zeigt sich unsere Haltung.
Hier liegt ein Heft in Ihren Händen, das verschiedene Aspekte beleuchtet: der Umgang mit dem Fremdwerden des eigenen Körpers; biblische Erfahrungen des Fremden und die Bedeutung des Fremden für den Gottesbegriff; Pilgern als "sich-selbst-fremd-gehen"; Milieufremdheit in der Kirche; Fremde und die Grenzen der Verrechtlichung der Gastfreundschaft und das inspirierend Fremde.
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Buchvorschau
Inspiration 4/2020 - Verlag Echter
Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
im letzten Heft hat die Begegnung mit verschiedenen Künsten inspiriert. Nicht selten begegnet uns in Künsten etwas, das wir nicht gleich einordnen, nicht gleich verstehen, nicht gleich ganz erfassen können. Etwas Fremdes.
»Fremd« ist dabei ein changierender Begriff. Gemeint ist das, was vom Vertrauten abweicht, das uns ungeplant widerfährt, das beängstigt, in Frage stellt und zur Improvisation nötigt – kurz: die Begegnung mit Fremdem ist eine Grenzerfahrung. Zugleich sind es Erfahrungen des Fremden, die Neues entstehen lassen; kreative Antworten ermöglichen; den Horizont weiten.
In der biblischen Tradition erscheint der Umgang mit Fremden und mit dem Fremden von besonderer Bedeutung, an der sich ›Glauben‹ zeigt: »Der Herr beschützt die Fremden« (Ps 146,9); »Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35). Wie wir mit Fremdem und den Fremden umgehen, daran zeigt sich unsere Haltung.
Hier liegt ein Heft in Ihren Händen, das verschiedene Aspekte beleuchtet: der Umgang mit dem Fremdwerden des eigenen Körpers; biblische Erfahrungen des Fremden und die Bedeutung des Fremden für den Gottesbegriff; Pilgern als »sich-selbst-fremd-gehen«; Milieufremdheit in der Kirche; Fremde und die Grenzen der Verrechtlichung der Gastfreundschaft und das inspirierend Fremde.
Ich wünsche Ihnen ein inspirierendes Lesevergnügen.
Ihre
Clarissa Vilain
Sr. M. Ancilla Röttger osc
Sich selbst fremd?
Geistliche Begleitung
Fremdes ist uns manchmal näher, als uns lieb ist. Es begegnet uns in uns selbst. Ist Teil unseres Lebens und unserem Körper eingeschrieben. Sr. M. Ancilla Röttger osc beschreibt ihre Erfahrungen mit Mitschwestern, die an Demenz erkrankt sind und verbindet sie mit ihren Erfahrungen als geistliche Begleiterin. Sie geht der Frage nach, was es bedeutet, Kontrolle abgegeben zu müssen – zwischen Preisgabe und Hingabe.
Als eine meiner älteren Mitschwestern begann, langsam in eine Phase der Vergesslichkeit zu gleiten, sagte sie immer wieder ganz verzweifelt: »Ich kenne mich so gar nicht! Ich bin mir ganz fremd geworden.« Sie ist noch die gleiche Person, die sie immer war. Doch sie erfährt eine neue Weise der Ohnmacht: sie hat ihr Leben nicht mehr so kontrolliert im Griff, wie es ihr bisher möglich war. Und auch wenn ihr Langzeitgedächtnis ganz intakt ist, fühlt sie sich im gegenwärtigen Augenblick orientierungslos, weil sie die Wegmarken nicht mehr erkennt. Wenn ich mich dann zu ihr setze und sie in ein Gespräch über frühere Zeiten verwickle, spürt sie ihre alten Erinnerungen auf und bekommt wieder Kontakt zu sich selbst. Doch der Augenblick, der gerade vergeht, ist ihr genommen. Das macht sie hilflos und darin erfährt sie sich selber als fremd.
»Ich kenne mich so gar nicht! Ich bin mir ganz fremd geworden.«
Im Umgang mit an Demenz erkrankten älteren Menschen lernen wir mühsam, dass es für sie eine andere Weise der Kommunikation gibt, als wir sie gewohnt sind. (Dabei spreche ich jetzt nicht als Fachfrau, sondern einfach nur als Mitschwester, die im Laufe des gemeinschaftlichen Lebens Erfahrungen mit Demenz macht.) Bei meinen Mitschwestern erfuhr ich, dass Emotionalität die Logik ersetzt, auch wenn sie fähig waren, Dinge, die sie kannten, logisch umzusetzen. Sie spürten in einem Konventsgespräch die verborgene Stimmung auf, die in den gesprochenen Worten gar nicht vorkam, und brachten sie plötzlich überraschend an die Oberfläche. Sie hatten Bedürfnisse, die sie spontan ausdrückten, ohne von irgendwelchen Verhaltensweisen, die man ihnen zu Beginn ihrer Klosterausbildung vor etlichen Jahrzehnten anerzogen hatte, gehemmt zu sein. Die Eine kannte sich so nicht, wurde sich selbst immer fremder und orientierungslos in Dingen, die nicht in der Routine des täglichen Alltags verankert waren. Sie wehrte sich gegen diese Ohnmacht. Die Andere war völlig sie selbst in aller Freiheit ihrer von ihren Gefühlen gesteuerten Wege und gab sich in die Ohnmacht hinein. Wenn die eine Schwester auf einen Gast traf, lud sie ihren Jammer gleich ab. Die Andere ging auf den Gast zu und brachte ihn durch eine Frage zum Erzählen. Die gemachten Beobachtungen weckten in mir die Frage, ob wir uns auf eine solche Lebensphase vorbereiten können oder ob sie einfach über uns verfügt wird. Und das wäre dann auch eine Frage der geistlichen Begleitung von älter werdenden Menschen, – also von uns allen.
Im alltäglichen Leben in der Gemeinschaft scheint es mir so, als würde am Ende unseres Lebens die wahre Persönlichkeit, die wir sind, aufscheinen – für den einen fremd und für den anderen vertraut.
Im alltäglichen Leben in der Gemeinschaft scheint es mir so, als würde am Ende unseres Lebens die wahre Persönlichkeit, die wir sind, aufscheinen – für den einen fremd und für den anderen vertraut. Viele Schalen, die wir im Laufe unseres Lebens um uns gelegt haben, um vielleicht eine bestimmte Wirkung zu erzielen, brechen ab. Und das, was ich bin, zeigt sich ungeschminkt. Als die erste meiner Mitschwestern an Demenz erkrankte, sagte diejenige, die ihr sehr viel später und unglücklicher folgte, oft, wie sehr sie darunter litt, dass die erkrankte Schwester ihre große Persönlichkeit verlöre. Dabei verlor sie nichts. Im Gegenteil, ihre Persönlichkeit als gereifte Frucht ihres langen Lebens strahlte durch – ungehindert von irgendwelchen Befürchtungen, was wohl andere von ihr denken könnten. Sie