Sein und Teilen: Eine Praxis schöpferischer Existenz
Von Andreas Weber
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Über dieses E-Book
Andreas Weber
Andreas Weber arbeitet als Schriftsteller und Journalist. In seinen literarischen Sachbüchern wie »Alles fühlt«, »Lebendigkeit« und »Enlivenment« setzt er sich für eine Sicht der Wirklichkeit als seelischen Prozess und gefühlsmäßige Teilhabe an allen Lebensphänomenen ein.
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Buchvorschau
Sein und Teilen - Andreas Weber
Inhalt
Vorwort – Verbinden
Kapitel 1 – Teilen
Kapitel 2 – Atmen
Kapitel 3 – Fühlen
Kapitel 4 – Lieben
Kapitel 5 – Tauschen
Kapitel 6 – Schöpfen
Kapitel 7 – Sein
Dank
Anmerkungen
»Die Frucht der Welt ist die Frucht meines Lebens. Die Frucht gehört mir in dem Maße, in dem sie meiner Pflege und Aufmerksamkeit anvertraut ist; mein Leben ist das der Welt in dem Maße, wie es aus mir herausgepresst wird, indem es in alles hinausfließt und einen Gleichklang mit Wesen bildet, die nicht Ich sind.«
MICHAEL MARDER1
»Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommt. Wenn es sie gibt, dann ist sie bereits hier. Es ist die Hölle, die wir alle Tage bewohnen, die wir herstellen, indem wir zusammen sind. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste gelingt vielen leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil von ihr werden, dass sie nicht mehr zu sehen ist. Die zweite ist riskant und verlangt dauernde Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: das, was mitten in der Hölle keine Hölle ist, suchen, es zu erkennen wissen und ihm Dauer verleihen und Platz einräumen.«
ITALO CALVINO2
Vorwort – Verbinden
»Wissenschaft beruht auf Wissen. Kunst beruht auf Wissen. Magie beruht auf Wissen und so weiter und so fort. Es gibt dagegen nur eine Form von Weisheit, und sie beruht auf Liebe.«
FRANCISCO VARELA3
Sein heißt Teilen. Teilen heißt Sein, auf allen Ebenen, vom Atom bis zu unserer Erfahrung von Glück. Das soll dieses Buch zeigen. Es soll dabei erklären, was wir fühlen, wenn wir uns glücklich und »richtig« fühlen – und es soll uns helfen, mehr davon zu haben, als Einzelner*, als Paar, als Gesellschaft, als Biosphäre, als Kultur. Das Buch plädiert dafür, dass Teilen nicht heißt, weniger zu sein, sondern mehr. Jeder Spielart des Glücks, jeder Erfahrung der Seele im Aufschwung liegt ein Moment des Geteiltseins, der Veräußerung und der damit einhergehenden neuen Verbindung zugrunde.
Nur aus Teilhabe entsteht das Gefühl der Stimmigkeit, das Gefühl, ein eigenes Selbst, Zentrum der eigenen Erfahrung zu sein. Das Buch soll zeigen, dass Atmen Teilen heißt, Körpersein Teilen ist und Lieben Teilen bedeutet. Es soll zeigen, dass ein Ökosystem Sein durch Teilen ist, ja geradezu dessen ground zero. Lebendigsein kann immer nur durch Lebendigkeit erreicht werden, jene, die ich nicht besitze, sondern verschenke, und jene, die mir gespendet wird. Ich will in diesem Buch verstehen, warum bereits das Ich Teilen ist und warum jedes Subjekt in Wahrheit ein »Inter-Subjekt« darstellt, also gemeinschaftlich erzeugtes Sein. Das gesunde Selbst schließt den anderen ein. Erlebte Lebendigkeit ist expansiv. Sie will den Anderen lebendiger machen.
Das Buch ist damit so etwas wie eine erneuerte Gebrauchsanweisung für die Welt mit ihren Beziehungen, ihren Erfahrungen, ihren Schöpfungen, dem Wirtschaften in ihr und als sie, ihrer Kultur. Seine Botschaft lautet: Nicht das Individuum und sein Sieg im Wettstreit bewirkt, dass sich die Welt dreht. Umgekehrt stehen Individuen nicht allein im Dienst des großen Ganzen. Das Ganze kann vielmehr nur sein, wenn es sich selbst in einem Einzelnen erfährt.
Das Prinzip der Wirklichkeit besteht weder in universeller Konkurrenz noch in allgemeiner Symbiose. Es liegt vielmehr darin, dass sich das Ganze danach sehnt, in vollendeter Individualität zu erscheinen. Es ist ein Prinzip, das in anderen Kulturen immer schon galt und das Afrika südlich der Sahara als »Ubuntu« bekannt ist: Ich kann nur sein, weil du bist.4 Hier möchte ich verfolgen, warum dieses Prinzip den Kern unserer Wirklichkeit bildet, und wie wir uns mit ihm in Verbindung setzen können.
Wirklichkeit ist nicht nur »das, was ist«, sondern immer auch schlummerndes Potential. Was wirklich ist, drängt danach, sich intensiver zu erfahren, dichtere Verbindungen einzugehen, inniger geteilt zu werden. Die Geschichte des Kosmos lässt sich als eine Geschichte der Differenzierung von einer Singularität zur Komplexität lesen, und schließlich – wie wir aus eigener Erfahrung wissen – als das Aufscheinen von Innerlichkeit. So kann die französische Sozialistin und Mystikerin Simone Weil sagen: »Gut ist, was wirklicher macht.«5
Dieses Buch ist somit der Versuch, etwas wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, was als die alltägliche Lüge vom »notwendigen Egoismus«, von Wettbewerb, Effizienz und kalter Separation unsere Welt und unser Fühlen zerstört. Der englische Maler und Dichter John Berger sagt: »Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Trennung.«6 Teilen ist gerade nicht Trennung. Das soll auf diesen Seiten deutlich werden. Teilen ist im Gegenteil die Weise, wie alles, was lebt, sich durchdringt, um so zu sein. Trennung aber, die als »analytische Herangehensweise« und als Wettkampf aller gegen alle unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit vergiftet, verhindert Teilen, und darum verhindert sie Sein.
Natürlich kennen wir »Teile!« als moralischen Weckruf. Als christlich-humanistische Kultur des Abendlandes sind uns die Appelle an ein höheres und ziemlich abstraktes Prinzip der Großzügigkeit geläufig, wenn sie uns auch ermüden. Solche uns übergestülpte Moral behauptet sich nur mehr schlecht als recht gegen die dem Kapitalismus eingebaute Devise: »Teile nicht! Vernichte!« Wir lassen uns immer noch von altruistischen Appellen berieseln, während das Ethos des Teilens nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern auch seine Praktikabilität verloren hat.
Konnte die Wissenschaft denn nicht beweisen, dass Vielfalt gerade dadurch entsteht, dass wir – alle Wesen, die Evolution selbst – nicht teilen, sondern raffen? »Teile!« ist in der Welt, die wir bewohnen und durch unsere Taten beständig erschaffen, eine hohle Phrase und kaum noch an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Wir müssen uns schon etwas Besonderes überlegen, um Teilen attraktiv zu machen und daran zu erinnern, dass es das Zentrum unserer Identität bildet. Dass ohne Teilen auch kein Sein ist.
Diesen Versuch will das Buch antreten. Aber nicht durch eine weitere moralische Beschwörung, sondern indem ich zeige, dass Teilen dem gesunden Sein bereits eingebaut ist. Wer zu sein versteht, wer er selbst sein kann, wer lebendig zu sein vermag, dem gelingt das stets nur im Teilen. Gesund sein heißt somit echt sein. Es bezieht sich nicht auf einen Maßstab des Funktionierens, sondern auf eine Erfahrung, nämlich die, eigene Identität durch Verbundenheit herzustellen. Wie uns diese Erfahrung gelingen kann – als Gesellschaft, aber auch im eigenen Leben – soll auf den folgenden Seiten ergründet werden.
Unsere Gesellschaft der zerstörerischen Egoismen muss daher nicht besser – oder gar effizienter – teilen lernen, sondern zum Sein fähig werden. Teilen lässt sich einem Egoisten nicht beibringen. Zu sehr ist es das Gegenteil von dem, was das ausmacht, womit er sich schützt. Sein hingegen ist, wonach sich auch der Egoist im Stillen verzehrt. Seinkönnen. Loslassen. Nicht bewertet werden. Nicht funktionieren müssen. Sich angenommen wissen. Das gilt auch für die Gesellschaft als Ganzes: Wenn in ihr die Einzelnen, die Menschen, die Tiere, alle Wesen, zu sein vermögen, ist bereits genug geteilt.
Ich behaupte, dass wir das wahre Problem nicht sehen, während wir über die Wege zu einer Gesellschaft mit weniger Eigensucht und Gewalt diskutieren.7 Wie bei der Maßregelung eines »schwer erziehbaren« Kindes versuchen wir mit Strafen und Symptomkuren das richtige – zukunftsfähige – Verhalten zu erzwingen. Doch in Wahrheit sehnt sich ein Großteil der Menschen danach, so in sich selbst verankert zu sein, dass sie dieses Verhalten von allein hervorbringen können. Niemand wünscht nicht, ganz er oder sie selbst sein zu können und dieses Selbstsein so zu genießen, wie es uns angeboren ist. Das Gefühl, sein zu können, folgt dabei keinen objektivierbaren Kriterien, ist aber gleichwohl unverwechselbar: Es ist die emotionale Erfahrung der eigenen Lebendigkeit im Kontakt mit der Welt.
»Sei!« freilich hatte in unserer Kultur nie eine moralische Konjunktur. »Sei!«, das klingt nach Ineffizienz, Schwärmerei, Romantik und anderen Formen der Taugenichtserei. Sein ist uns suspekt. Wir lehnen es als ineffizient ab, gerade weil es uns so schwer möglich ist. So ist das Gefühl, nicht sein zu können, oder in abgeschwächter Form, nicht das sein zu dürfen, was man eigentlich ist, der gemeinsame Nenner psychischer Störungen und seelischen Leidens. Wer sich am Sinnverlust quält, vermag nicht zu sein. Ihm gelingt es nicht, lebendig zu sein. Diese Erfahrung zeigt sich immer als Einschränkung auf beiden Seiten: der Möglichkeit, im vollen Sinne »ich« zu sein, und dem Gefühl, in Verbindung zu sein, in Kontakt mit der Welt, also mit den anderen.
Eine Gesellschaft, die vornehmlich aus Menschen besteht, die nicht zu sein vermögen, ist ungesund. Es ist eine Gesellschaft, welche die Wirklichkeit ignoriert. Denn deren Charakter ist es, übervoll von Seinkönnen zu sein und sich beständig in Wesen zu differenzieren, denen ihr Sein am Herzen liegt. Die Wirklichkeit zu ignorieren aber ist immer Zeichen einer Pathologie. Eine solche Gesellschaft überträgt ihre Störung auf alle Mitglieder. Das schwerste Symptom dieser Störung besteht darin, dass sie allem, was zu sein vermag, Kindern, Pflanzen, Tieren und dem Geschenk, das einfach so da ist und nicht weil es nützt, die Möglichkeit zu diesem Sein abspricht.
Diese Buch soll zeigen, dass »Sei!« das wichtigere moralische Gebot ist – und dass Teilen, und zwar so radikal, wie wir uns das ethisch immer wünschen, automatisch nachfolgt, wenn Sein erlaubt ist. Sich Sein zu geben heißt sich zu gestatten, unmittelbar – mit dem Körper und als Gefühl – die Wirklichkeit zu sein, sodass sie mit allen geteilt ist.
Die wahre Moral ist die Moral des pochenden Fleisches, die uns immer schon trägt, selbst dann, wenn wir nicht an sie glauben. Sie funktioniert genau entgegengesetzt der Forderung, die wir mühsam und allzu fruchtlos zu befolgen versuchen, nämlich uns selbst auszulöschen, um dem gerecht zu werden, was rational erforderlich erscheint. Die wahre Moral aber folgt nicht dem, was als notwendig erklärt wird und erlaubt dann noch ein Stück weit Sein, sondern sie akzeptiert immer zunächst, was ist. Sie geht rückhaltlos von der Wirklichkeit aus und beginnt nicht mit dem Urteil über einen vorgeblichen Idealzustand. Das ist ihre Notwendigkeit, die Notwendigkeit der Wahrheit. Sie bildet sich gemäß der Empfehlung des buddhistischen Lehrers Thich Nhat Han, der sagt: »Lieben heißt daran zu arbeiten, sein Glück zu nähren.«8 Lieben, meint Han, bedeutet zunächst, sich das eigene Sein zu gestatten. Daraus folgt dann von allein die Fähigkeit, auch den anderen willkommen zu heißen. Es folgt der Moral einer Wirklichkeit, die wir nur wahrnehmen können, wenn wir uns selbst zu sein gestatten.
Aus dem Glück dieses Seinkönnens eröffnet sich uns die Wirklichkeit als eine Allmende. Wenn wir selbst zu sein vermögen, wünschen wir dieses Sein auch den anderen. Echtes Sein ist unmittelbar geteilt. Um die Menschen zum Teilen zu bringen, müssen wir ihnen das Sein gestatten.
* | Ich verwende im folgenden Text weitgehend die maskuline grammatische Form. Das geschieht lediglich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.
Kapitel 1 – Teilen
»Um über die Liebe zum Leben zu sprechen, müssen wir uns zuerst darüber verständigen, was wir unter Leben verstehen.«
ERICH FROMM9
Ich habe diese Zeilen am Meer geschrieben, an der Ligurischen See. Ich wohnte für einige Wochen in einem Haus mit gelb getünchten Mauern auf einem Felsvorsprung zwischen der geschäftigen Via Aurelia und den stillen Schirmen alter Pinien. Ich habe geschrieben, das Fenster zum Meer geöffnet, wenn der Wind nicht zu kalt war. Dann habe ich das Meer eingeatmet, seinen jodhaltigen Geruch aus Geburt und Verfall, seine salzigen Erinnerungen aus Süße und Bitterkeit, denn ich kenne die Ligurische See schon lange.
Das Meer war für ein paar Wochen im Spätherbst meine Wiege. Es hielt mich, es sah mich, es gab mir Licht. Es ließ sich sacht auf mich ein und erlaubte mir jeden Tag, ein Stück näher zu kommen, nicht physisch, aber emotional. Es verwandelte sich in den Grund meiner Seele, der dadurch nicht mehr festes Land war, sondern weich wie Wasser, bewegt durch den Atem der Wellen. Meine Haut erschauerte wie die Oberfläche unter