Lebendige Seelsorge 5/2022: Seelsorge
Von Verlag Echter und Ute Leimgruber
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Rezensionen für Lebendige Seelsorge 5/2022
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Buchvorschau
Lebendige Seelsorge 5/2022 - Verlag Echter
THEMA
Seelsorge: Begriff, Begründung und katholische Perspektiven
Den Seelsorgebegriff als ‚heißes Eisen‘ der gegenwärtigen Diskussionen zu postulieren, scheint ambitioniert. Dennoch hängt er mit der zukünftigen Ausrichtung von Kirche aufs Engste zusammen, wenn nicht sogar umgekehrt die Zukunft der Kirche von ihm abhängt: Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Seelsorgebegriff führt nämlich umgehend zum Kern einer Begründung von kirchlichem Tun als solchem und zeigt im besten Fall eine Perspektive für zeit- und sachgemäße Seelsorge auf. Elmar Honemann
Elementar ist dabei die Weitung jener klischeehaften Engführung, die sich sogar in offiziellen Texten des Vatikans oder von Bischofskonferenzen findet. Wo allein geweihte Priester im Fokus sind, weil Seelsorge nur in sakramentalen Vollzügen gedacht wird, stellt sich die Gretchenfrage: Wie sehr wird dies der Sache selbst gerecht – und wie dysfunktional erweist sich ein Festhalten daran?
BEGRIFF
Bei jeder begriffsgeschichtlichen Rückschau gilt es, sich anachronistischer Arroganz zu verwahren und keine heutigen Maßstäbe an historische Entwicklungen anzulegen. Das Verständnis und die Praxis von Seelsorge pendelten beständig zwischen christlich inspiriertem ‚Lebenscoaching‘ und autokratischer Kirchenzucht, die sich weder auf eine Epoche noch auf eine Konfession beschränkte (vgl. Honemann). Um es an einer typisch katholischen Form zu illustrieren: Ein Beichtgespräch, das vorrangig katechetische oder gar indoktrinierende Absichten verfolgt, hat so gut wie nichts gemein mit einem Beichtgespräch als ‚Versöhnungsdialog‘. Zudem bewirkt allein die Betrachtung von Defiziten und Einseitigkeiten in der Geschichte und Gegenwart der Seelsorge noch keine konstruktive Veränderung zum Besseren. Vielmehr verlangt die fruchtbare Auseinandersetzung mit der angemessenen Ausrichtung von Seelsorge aus katholischer Perspektive, gezielt auch außertheologische Impulse einzubeziehen (im Sinne des Umfassenden, wie es der Begriff ‚kath’holon‘ ausdrückt). Erst aus theologischen wie (sozial-)psychologischen Erkenntnissen lässt sich eine im wahrsten Sinn des Wortes veritable, sprich wahrheitswertige Übersicht zusammenfügen.
Worauf sollte der Begriff ‚Seelsorge‘ angesichts dieser Erkenntnisse sinnvollerweise abzielen? Zunächst sei festgehalten, worauf nicht: Jan Loffeld hat eine auf die Erlösung des Menschen ausgerichtete Pastoral in Frage gestellt, die – jeweils verschieden, aber stark ausgeprägt – beiden Konfessionen klassischerweise als programmatische Maxime und daraufhin seelsorgliche Praxisorientierung diente. Was aber, wenn Menschen sich gar nicht erlösungsbedürftig fühlen (vgl. Loffeld)? Als kreativ wie konstruktiv können die Ansätze gelten, welche die auch säkular anzutreffende Dimension von ‚Lebenssinn‘ als christlich anschlussfähig in den Vordergrund stellen. Allerdings dürfen die Einschränkungen nicht übersehen werden, die eine interdisziplinäre Revue aktueller Forschungsergebnisse zutage fördert: So hat Tatjana Schnell empirische Belege für einen beachtlichen Anteil von ‚existentiell indifferenten‘ Menschen vorgelegt, für die selbst die vermeintlich grundlegende Sinnfrage keine nennenswerte Bedeutung hat (vgl. Schnell).
Elmar Honemann
geb. 1975, Dr. phil., Pastoralreferent; seit 2015 Einsatzreferent für die Pastoralreferent*innen im Bistum Limburg.
Dennoch sind diverse Ansätze zu verzeichnen, die Glaube, genauer: Spiritualität, als Gesundheitsfaktor ins Spiel bringen (vgl. bspw. die Reihe Religion und Gesundheit des Kohlhammer Verlags) oder sich darum bemühen, die Gestaltung von Tauffeiern und anderen pastoralen Anlässen an Ästhetiken und Sprachgewohnheiten auszurichten (vgl. die – offenkundig nicht mehr fortgeführte – Website Portal Milieus & Kirche). Den ProtagonistInnen der milieusensiblen Seelsorge ist grundsätzlich zuzustimmen, nicht einfach überkommene Routinen und Rhetoriken an eine Umwelt zu richten – im Sinne des Seelsorgeauftrags: zu dürfen! –, ohne aufgrund eigener ‚Scheuklappen‘ deren gravierende Veränderung bis hin zu Hyperdiversität wahrzunehmen.
Seelsorge tut nicht nur gut daran, die lebensweltlichen Belange ernst- und aufzunehmen; es hat ihr per definitionem um das Wohlergehen von Menschen zu gehen – ohne sich in einer Feel-Good-Kategorie zu erschöpfen, aber auch ohne dieses legitime Anliegen paternalistisch abzuqualifizieren. Vor allem aber darf sie sich nicht unter der Hand für institutionelle Selbsterhaltungsbestrebungen (bspw. im Sinne von ‚Rekrutierungsbemühungen‘ und ‚Mitgliederbindung‘) instrumentalisieren lassen: Dass Kirche ihren Sinn darin findet, als Mittel (nach Lumen Gentium 1 „Sakrament") zu gelingendem Leben, Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Ausgleich beizutragen, kommt in ihrer Seelsorge zum Ausdruck. Kirchliche Strukturen haben ihr zu dienen – nicht umgekehrt. Insofern ist Seelsorge bei allen institutionellen Prozessen (‚Kirchenentwicklung‘) als Richtschnur in den Blick zu nehmen.
BEGRÜNDUNG
Beim Blick in die Theologie wie in die Praxis zeigt sich die Notwendigkeit einer gründlichen Reflexion seelsorglichen Tuns – und zwar in einem multiperspektivischen Angang: Neben einer kritischen Betrachtung der eigenen Wissenschafts- und Praxisgeschichte sind zeitdiagnostische Wahrnehmungen und idealerweise auch kulturanthropologisch gewonnene Hinterfragungen unverzichtbar, um nicht in einem hermeneutischen Zirkelschluss zu verbleiben. Dafür steht auch das unter pastoralen MitarbeiterInnen kursierende Bon-, nein: Malmot, wie sinnhaft es denn sei, 90 Prozent der Energien und Ressourcen auf 10 Prozent der AdressatInnen zu verwenden. Dabei stammt selbst der angegebene Prozentwert regelmäßiger BesucherInnen von Sonntagsgottesdiensten aus einer anderen Epoche – und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Denn schon viele Jahre ist bekannt, mit den ‚bewährten‘ Angeboten höchstens zwei oder drei der aktuell zehn Sinus- oder Delta-Milieus überhaupt erreichen zu können. Brisant ist diese Erkenntnis vor allem, weil Seelsorge nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern sich zwangsläufig innerhalb solcher soziographischen Grenzen abspielt.
Mag es ein Kairos sein, ‚nur‘ eine Krise oder aber eine tiefgreifende Disruption: Die abnehmenden Ressourcen zwingen die Kirche auf allen ihren Ebenen – von Bistumsleitungen bis hin zu jedem Pastoralteam – zu einer begründeten Klärung, was sie als ‚Kerngeschäft‘ unbedingt und auf Zukunft hin priorisieren möchte. Das ist der Hintergrund der vielzitierten Transformation von Kirche, der sie sich nicht länger entziehen kann. Die Frage danach, wie und vor allem wofür sie als Institution aufgestellt sein soll, entstammt nicht einem akademischen Diskurs. Sie führt unmittelbar zur Diskussion über die folgenreiche Umgestaltung organisationaler Strukturen (vgl. Haslinger). Allerdings hinkt die raumgreifende Diskussion über die Zusammenlegung von Pfarreien nicht nur der flächendeckenden Umsetzung in immer mehr Diözesen hinterher, sondern scheint inzwischen sogar von der noch grundsätzlicheren Anfrage überholt zu werden, ob Pfarreien überhaupt relevante Orte von Seelsorge sind. In der Pastoraltheologie gerade en vogue, lässt sich auch hier die Frage nach dem ‚Raum‘ anführen: Wo denn nun zukünftig Seelsorge stattfinde, verrät auch viel über ihr Was. Sind und bleiben die ‚klassischen‘ Pfarreien ausschlaggebend für Seelsorge?
Was bisher lebensweltlich betrachtet, pastoral diskutiert und ekklesiologisch eingeordnet wurde, lässt sich auch (beileibe nicht nur formal-)juristisch aus dem Gesetzbuch der katholischen Kirche herleiten: Zentrale Rechtsvorschriften, die das Wesen von Pfarreien definieren (konkret: cc. 374.383 i. V. m. 208.216 CIC/1983) sind so zu verstehen, dass sie in der Gewährleistung von Seelsorge ihren eigentlichen Sinn und Zweck haben – und folglich die ganze Struktur der Kirche darauf abzielt. Damit sind natürlich andere Formen und Einrichtungen von Pastoral nicht obsolet. Ebenso wenig ist etwas über die inhaltliche Füllung und Ausstattung der Pfarreien ausgesagt. Beide Male beschränkt sich die Begründung von Seelsorge nicht auf Strukturfragen, sondern umfasst die inneren Bilder und Idealvorstellungen, die ihnen zugrunde liegen.
Hier wie dort ist nun die binäre Logik eines Entweder-oder viel zu unterkomplex gegenüber den multiparadigmatischen Realitäten, in denen sich christliche Praxis wiederfindet. Anstelle von Glaubenskämpfen braucht es eine wechselseitige Ergänzung pastoral durchdachter Unternehmungen – und in all ihren Formen ein Mindestmaß an Energieaufwand, um die Kommunikationsmöglichkeiten des eigenen Systems innerhalb der ‚Umwelt‘ (im Sinne von Niklas Luhmann) realistisch anzugehen: Eine Seelsorge, die ‚am grünen Tisch‘ entworfen wird, taugt auch nur für dort. Als kritisches Korrektiv kann dabei dienen: Wenn sich das, was ich ‚entdecke‘, mit den Kategorien deckt, die mir bereits allzu vertraut sind, handelt es sich wohl um eine verzerrte Wahrnehmung. Dann ist es auch nicht erstaunlich, wenn sich das Formalobjekt (z. B. die Sinnkategorie) im Materialobjekt niederschlägt (als angebliche Suchbewegung aller Menschen nach Sinn).
Nicht umsonst beschäftigt sich die neuere Pastoraltheologie daher mit empirischen Zugängen, als ‚von außen‘ stammendem Korrektiv solcher ‚blinden Flecken‘. Gleichzeitig scheint eine beispielsweise religionswissenschaftlich unterfütterte Beschäftigung mit dem eigenen Tun noch weitgehend uneingeholt zu sein. Frei nach Immanuel Kant könnte erst dies alles beitragen zu einem Aufbruch aus einem selbstverschuldeten Ungenügen von Pastoral angesichts von Transformationsdynamiken. Warum sich dafür nicht etwa auseinandersetzen mit einem linguistisch-spekulativen Ansatz wie von Anna Wierzbicka, die das exegetisch längst ad acta gelegte Unterfangen originärer Jesusworte wieder aufgreift und die ipsissima vox einer extrem elementarisierenden Begriffsanalyse unterzieht, um so die Botschaft des Evangeliums von allen Kultur- und Sprachbedingtheiten zu befreien (vgl. Wierzbicka)? Letztlich braucht es solche tiefansetzenden Diskurse für eine fachliche Läuterung, um – prosaisch gesprochen – aus der Schlacke früherer Ideologien und gegenwärtiger Moden das ‚Silber‘ einer auftragsgemäßen Seelsorge zu heben.
Mit der vorgestellten Begründung von Seelsorge als am Evangelium orientierter, milieu- und andere Grenzen überschreitender Altruismus, der Kirche als Volk Gottes genau dafür in die Pflicht nimmt und darin rechtfertigt, muss nicht befürchtet werden, allzu ‚zeitgeistig‘ oder beliebig das ‚Eigentliche‘ aus dem Blick zu verlieren. Um dem kritischen Potential der normativen Botschaft von Proexistenz gerecht zu werden, helfen eine multiperspektivische Theologie und Praxis von Seelsorge, die sich unvoreingenommen auch mit neuen Methoden und Zugängen befassen, statt tradierte Konzepte und Auslegungsvarianten zu replizieren.
PERSPEKTIVE
Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht: Die anstehende Transformation der katholischen Kirche sollte sich bei der prioritären Ausrichtung an Seelsorge als ihrer innersten Bestimmung und Existenzbegründung nicht an Überbleibseln unhinterfragter Stereotype und auch nicht primär an Interessen erhoffter Zielgruppen in einem fragwürdigen Sinne von KundInnengewinnung orientieren. Es braucht neben wissenschaftlichen Bemühungen gleichrangig die seelsorgliche Aufmerksamkeit für Nöte, in denen Menschen selbstlos im Bemühen um ein Gelingen ihres Lebens unterstützt werden können, und Themen, die auf gesellschaftlicher Ebene hinsichtlich einer Orientierung am Gemeinwohl angemahnt werden.
Geht es um die Sichtung beachtenswerter Ansätze, ist die versierte Analyse von Wolfgang Beck zu vergegenwärtigen, der zufolge sich viele ‚Innovationen‘ als epistemische Mogelpackungen entpuppen, die Altes nur in neuer Gestalt präsentieren, ohne sich dem erforderlichen Risiko des Unsicheren und Unverfügbaren zu stellen – welches aber unvermeidlich mit echtem, komplexem Leben einhergeht (vgl. Beck, 176 – 179). Die Wahrheit (im