Erzählen und Erinnern
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Über dieses E-Book
und Gesellschaften speist sich maßgeblich aus der
Erinnerung an Erlebtes, an Überliefertes, nicht selten
auch Erlittenes. Wir erinnern uns allerdings nicht
(nur) "einfach so", sondern pflegen Erinnerung – und
konstruieren bisweilen eine "Erinnerungskultur". So
greift es nicht zu weit, die jüdisch-christliche Tradition
als Erinnerungsreligion oder eben Erinnerungskultur
zu bezeichnen. Dieser Spur gehen die Beiträge in
Heft 4/2018 nach: Erzählen und Erinnern.
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Buchvorschau
Erzählen und Erinnern - Verlag Friedrich Pustet
Inhaltsverzeichnis
ThPQ 166 (2018), Heft 4
Schwerpunktthema:
Erzählen und Erinnern
Christian Spieß
Liebe Leserin, lieber Leser!
Johann Pock
Erinnern und Erzählen als zentrale Momente pastoralen Handelns
1 Erinnerungen sind die Grundlage einer Gesellschaft und von Religionen
2 Erzählungen als Form und Mittel der Erinnerung
3 Erinnerung und Erzählungen in pastoralen Handlungsfeldern
Reinhold Boschki
Erinnern, begegnen, kämpfen. Nostra Aetate als Bildungsaufgabe
1 Hinführung
2 Im Ursprung: eine Begegnung
3 Erinnerung als geheimes Thema von Nostra Aetate
4 Theologie der Wertschätzung und des Zusammenlebens
5 Erinnern und Erzählen im Anschluss an Nostra Aetate: Kampf gegen Antisemitismus und Islamophobie
Thomas Hoppe
Erinnerung und Versöhnung vor dem Hintergrund belasteter Vergangenheit
I.
II.
III.
IV.
Uta Poplutz
Erzählen und Erinnern. Narratologische Analyseverfahren im Kontext neutestamentlicher Exegese
1 Erzähltheorie und neutestamentliche Exegese
2 Erzähltheorie und historisch-kritischer Methodenkanon
3 Integration der Erzähltheorie in den Methodenkanon
4 Fazit und Plädoyer
Christian Handschuh
Katholische Erinnerungen im Konflikt. Das Beispiel der Berliner Hedwigskathedrale
1 Erinnerung – jetzt (erst)?
2 Erzählen und Erinnern als Zugangsweisen kirchen-historischen Arbeitens
3 Katholische Erinnerungskonstruktionen im Konflikt: Das Beispiel der Berliner Hedwigskathedrale
4 Die Hedwigskathedrale als umstrittener Erinnerungsort
5 Eine Erinnerungsgruppe, zwei Erinnerungsstrategien
Christine Funk
Erinnerungsorte. Praktische Zugänge und theologische Reflexionen: Zur Partikularität christlichen Erinnerns
1 Ein systematisch-kirchen-historisches Seminarprojekt
2 Erinnerungsorte und Erinnerungen
3 Perspektiven auf Berlin
4 Theologische Perspektiven
Sabine Arend
Artefakte erzählen Geschichte (?) Religiöse Praxen im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück
1 Geschichte des KZ Ravensbrück
2 Religiöse Praxen im KZ Ravensbrück
3 Resumee
Abhandlungen
Manfred Körber
Mehr als neue Organigramme. Zur theologisch verantworteten Leitung in der Kirchenkrise
0 Inhaltlich führen?
1 Vom Wert des Niedergangs
2 Vom Wert der Gottesfrage
3 Vom Wert der Arbeit
4 Vom Wert des Globalen
5 Vom Wert der Konflikte
6 Entspannt bleiben!
Knut Wenzel
Hören auf das Niegesagte. Die poetische Kraft der Religion
Literatur
Hans-Georg Gradl
Das aktuelle theologische Buch
Rezensionen
Eingesandte Schriften
Katholische Privat-Universität Linz – Studienjahr 2017/18
Register (Printausgabe)
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Redaktion
Kontakt
Anschriften der Mitarbeiter
Impressum
Liebe Leserin, lieber Leser!
Das Selbstverständnis von Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften speist sich maßgeblich aus der Erinnerung an die eigene Geschichte, an Erlebtes, an Überliefertes, nicht selten auch an Erlittenes, an Zäsuren und Weichenstellungen der persönlichen Entwicklung oder der Entwicklung eines Kollektivs, dem wir angehören oder mit dem wir, in welcher Weise auch immer, in Kontakt treten. Wir erinnern uns allerdings nicht (nur) „einfach so", sondern pflegen Erinnerung – und konstruieren im besten Fall eine Erinnerungskultur. Greifbar wird dies etwa an den Feier- oder Gedenktagen religiöser und politischer Art. Wir gedenken des Endes des Zweiten Weltkriegs, des Staatsvertragsabschlusses, der Gründung der demokratischen Republik oder anderer politischer Ereignisse, die für das Gemeinwesen von Bedeutung sind; und wir gedenken religiöser Ereignisse, die für den Glauben und die Konstitution der Glaubensgemeinschaft wichtig sind.
Weil Erinnern – oder genauer: die Erhaltung einer lebendigen (kollektiven) Erinnerung – das Erzählen von Vergangenem voraussetzt, stehen beide in einem unlösbaren Zusammenhang; wiederholtes Erzählen ist konstitutiv für eine Kultur des Erinnerns. Deshalb sprechen wir von sinnstiftenden großen Erzählungen und Orientierung gebenden Narrativen. Insbesondere in religiösen Kollektiven werden Ereignisse tradiert, werden Erinnerungen stabilisiert, indem sie rituell vergegenwärtigt und immer wieder erzählt werden. Auf verschiedene Aspekte dieses Erinnerns und Erzählens gehen die Beiträge dieses Heftes ein.
Johann Pock verortet Formen des Erzählens und Erinnerns in der pastoralen Praxis und im pastoraltheologischen Diskurs der Gegenwart. Er skizziert die Kirche im Anschluss an J. B. Metz als „kritisch-befreiende Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft". Dieses erinnernde Erzählen wird an einzelnen Handlungsfeldern – etwa der Predigt, der Pastoral mit älteren Menschen und im Umfeld des Todes – ausbuchstabiert.
Reinhold Boschki widmet sich aus einer religionspädagogischen Perspektive dem Konzilsdokument Nostra aetate. Er schildert die Genese dieses Textes und zeigt die Bedeutung der Reflexion der Kirche auf die eigene Schuld für eine Neuinterpretation der Haltung gegenüber anderen Religionen: „Ohne die Schoah ist Nostra Aetate nicht denkbar." Erinnerung sei das geheime Thema der Konzilserklärung. Hieraus entwickelt Boschki ein Bildungsprogramm gegen Antisemitismus und Islamophobie; dabei geht er nicht zuletzt auch auf entsprechende fremdenfeindliche Verwerfungen der Gegenwart ein.
Mit Strategien der Verarbeitung belasteter Vergangenheit setzt sich Thomas Hoppe auseinander. Er beschreibt die Gewinnung einer authentischen Erinnerung als Voraussetzung für einen gelingenden Prozess der Versöhnung. Dabei wird hohle Versöhnungsrhetorik von tatsächlichem Versöhnungshandeln unterschieden, für das er konkrete – freilich anspruchsvolle – Anforderungen und Voraussetzungen formuliert.
Uta Poplutz bietet einen Einblick in die Erzähltextanalyse als Methode der neutestamentlichen Exegese. Biblische Erzählungen werden als wesentliche Bestandteile unseres Erinnerungsschatzes hervorgehoben, die seit vielen Jahrhunderten jüdische und christliche Weltvorstellungen prägen. Die Autorin weist aber auch auf die Notwenigkeit einer weiteren Anpassung literaturwissenschaftlicher Methoden an die Eigenheiten biblischer Texte hin.
In einem kirchenhistorischen Zugang setzt sich Christian Handschuh zunächst grundsätzlich mit dem Erinnerungsbegriff auseinander, um ihn dann auf die gegenwärtige Debatte zur Umgestaltung der Berliner Hedwigskathedrale anzuwenden. Es geht dabei einesteils um das Anliegen einer umfassenden Neugestaltung der Bischofskirche im Zentrum der deutschen Hauptstadt nach liturgiewissenschaftlichen Gesichtspunkten; dem steht andernteils das Anliegen der Bewahrung der gegenwärtigen Form aufgrund der wechselvollen Geschichte der Kathedrale und der Diözese selbst gegenüber. Im Beitrag werden anhand dieser Auseinandersetzung zwei „Erinnerungsgruppen" und deren Erinnerungsstrategien unterschieden.
Mit Erinnerungsorten – und zwar ebenfalls mit der Berliner Hedwigskathedrale und insbesondere mit der Gedenkstätte Plötzensee – befasst sich der Praxisbericht von Christine Funk. Sie schildert detailliert die Konfrontation einer Studierendengruppe mit diesen Erinnerungsorten und führt die recht unterschiedlichen Reaktionen der Teilnehmenden vor Augen. Es wird deutlich, wie vielfältig und unübersichtlich die jeweiligen individuellen und kollektiven Hintergründe sind – und wie stark diese Hintergründe die Wahrnehmung der Erinnerungsorte bedingen.
In besonderer Weise führt schließlich Sabine Arend noch einmal Religion und Verfolgung durch die Nationalsozialisten zusammen, indem sie religiöse Praxisformen von Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück schildert. Das Lager war Teil des Konzepts der „rassischen Generalprävention". Als solches ist es einerseits Gegenstand unserer heutigen Erinnerungskultur; es war andererseits aber auch, wie Arend zeigt, zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung zugleich der Ort einer reichhaltigen und lebendigen religiösen Erinnerungspraxis.
Über die Beiträge zum Heftthema „Erzählen und Erinnern" hinaus finden Sie zwei weitere Aufsätze: Manfred Körber bietet Anmerkungen zu einer theologisch verantworteten Wahrnehmung von Führungsaufgaben in der Kirche; Knut Wenzel formuliert Überlegungen zur poetischen Kraft der Religion.
Ein abschließender Hinweis in eigener Sache: Mit diesem Heft beendet Michael Zugmann, Ass.-Prof. für neutestamentliche Bibelwissenschaft an der KU Linz, seine Tätigkeit in der Redaktion dieser Zeitschrift; wir bedanken uns für die jahrelange engagierte und fruchtbare Mitarbeit und wünschen ihm Gottes Segen für seine neuen Aufgaben. Susanne Gillmayr-Bucher, Professorin für alttestamentliche Bibelwissenschaft, tritt zur Redaktionsrunde hinzu; wir heißen sie herzlich willkommen und freuen uns, dass mit ihr eine starke exegetische Fachkompetenz für die ThPQ gewährleistet ist.
Verehrte Leserinnen und Leser,
die stetige Arbeit an Aufbau und Erhaltung einer Erinnerungskultur ist eine wichtige religiöse sowie gesellschaftliche und politische Aufgabe, die gegenwärtig gewiss nicht an Bedeutung verliert. Wir möchten mit dieser Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift einen Beitrag zu einer problembewussten Erinnerungsarbeit leisten und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.
Für die Redaktion
Christian Spieß
Johann Pock
Erinnern und Erzählen als zentrale Momente pastoralen Handelns
♦ Der Beitrag verortet das Erzählen und Erinnern in der pastoralen Praxis und im pastoraltheologischen Diskurs der Gegenwart. Dabei skizziert der Autor die Kirche im Anschluss an J. B. Metz als „kritisch-befreiende Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft" und thematisiert das Erzählen als spezifische Form, wie das Erinnern in den Diskurs und in das pastorale Handeln einfließen können. Dieses erinnernde Erzählen wird anhand einzelner Handlungsfelder – etwa der Predigt, der Pastoral mit älteren Menschen und im Umfeld des Todes – buchstabiert. (Redaktion)
Das seelsorgliche Handeln der Kirche ist häufig auf konkretes kirchliches Tun ausgerichtet: auf die Spendung der Sakramente, auf diverse caritative Felder, auf die gemeinschaftlichen Aspekte wie Pfarre und Gemeinde. Erinnern und Erzählen spielen dabei jedoch selten eine Rolle. Der folgende Beitrag möchte nach einem grundsätzlichen Zugang zu Erinnerung und Erzählung exemplarisch zeigen, wie sehr die Pastoral der Kirche auf „Erinnerung" aufbaut – und welche Bedeutung die Narration, das Erzählen, in pastoralen Bereichen haben kann.
1 Erinnerungen sind die Grundlage einer Gesellschaft und von Religionen
¹
Erinnerungen haben Konjunktur: unzählige Memoiren erscheinen jährlich; Reiseerinnerungen lassen teilhaben an persönlichen Erfahrungen. Aber auch wissenschaftliche Forschungen nähern sich dem Phänomen der Erinnerung an.² Erinnerungen sind immer kontextuell gebunden, und die jeweiligen Kontexte haben einen Einfluss darauf, welche Erinnerungen aufgegriffen, welche positiv verstärkt oder auch unterdrückt werden. Für das Anliegen eines praktisch-theologischen Zugangs zur Erinnerung sind sowohl der weitere gesellschaftliche und kulturelle Kontext zu beachten, als auch der spezifischere der Kirche und jener des ganz persönlichen Erinnerns.
1.1 Der gesellschaftlich-kulturelle Kontext
Erinnerung ist etwas, was Kulturen und Gesellschaften wesentlich prägt – und umgekehrt sind es die Gesellschaften selbst, die für die Tradierung von Erinnerung sorgen. Erinnerung gehört somit zu den Grundmerkmalen des Menschseins und weist den Menschen als geistbegabtes Geschöpf und gottnahes Wesen aus. Der Mensch vermag als ‚Wesen der Erinnerung‘ die Zeiten zu übergreifen: Vergangenes wirkt in die Gegenwart hinein und Zukünftiges kann bereits jetzt real sein.
Für eine Gemeinschaft sind Erinnerungen identitätsstiftend und existenzsichernd. Wenn Gruppen und Völker ihre nationale Existenz verlieren, vergessen sie leicht, wer sie sind und wer sie waren.
1.2 Kirche als kritisch-befreiende Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft
Christliche Kirchen sind Gemeinschaften in kulturell-gesellschaftlichen Kontexten, und zu ihrer Identität gehört die Erinnerung wesentlich dazu; zu Recht bezeichnet daher J. B. Metz das Christentum als „Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, nicht eine „Interpretations- und Argumentationsgemeinschaft
.³ In der römisch-katholischen Kirche war das Element der Erinnerung jedoch lange Zeit gewissermaßen ‚domestiziert‘: Das Lehramt nahm den Gläubigen die Anstrengung der Erinnerung, die kritische Glaubensvergewisserung anhand von Schrift und Tradition, ab. Das II. Vatikanum hat demgegenüber die pneumatische Grundlage der Kirche betont – und dieser Geist ist nun nicht mehr eine reine Domäne der Hierarchie, sondern allen gegeben.
Theologisch kann man sagen, dass der Geist Gottes im Gedächtnis der christlichen Gemeinschaft Vergangenheit und Zukunft zu einer lebendigen Gegenwart zusammenfügt. Durch ihn hat der Ursprung auch morgen noch Geltung. Er bewirkt gleichzeitig, dass sich Christinnen und Christen nicht hinter Gewohnheiten verschanzen und so tun können, als sei ihr momentanes Bewusstsein mit dem Ganzen des Glaubens identisch. Hier kommt ein wesentliches Element der Erinnerung zum Vorschein: dessen kritisches Potenzial, das befreiend wirken kann. Oder mit Bertram Stubenrauch:
„Sich-Erinnern heißt immer auch, aus einem geistigen, in der Regel selbstgebauten Gefängnis auszubrechen. Erinnerung hat mit Befreiung zu tun – der Heilige Geist leistet diesen Befreiungsakt. Er tut es, indem er kenntlich macht, was früher einmal möglich war und was darum auch heute wieder möglich sein könnte. Und ebenso: Der Geist erinnert daran, was einmal unmöglich war und was deshalb auch heute unmöglich bleibt."⁴
1.3 Erinnerung als subjektives und subjektbildendes Moment
Während das Erinnern von Anfang an zur kirchlichen Gemeinschaft gehörte, kam die persönliche Erinnerungsarbeit erst mit der Aufklärung in Mode und galt der ‚Selbstkonstitution‘ des Subjekts. Ottmar Fuchs macht in diesem Zusammenhang auf der Subjektebene eine wichtige und oft übersehene Unterscheidung zwischen der Opfer- und der Täterperspektive.⁵ Eine Beschäftigung mit den Subjekten von Leid und Unterdrückung, also den Opfern und Tätern, braucht eine Optionalität für das eigene Tun: sich selbst dafür einzusetzen, dass mehr Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entsteht.
Die Menschen der Vergangenheit müssen daher als Subjekte mit ihren eigenen Intentionen und Sehnsüchten, mit ihren Erfolgen und mit ihrem Scheitern in den Blick kommen. Durch das Sich-hinein-Versetzen in diese vergangenen Subjekte wird ihnen durch die eigene Identifikation Lebendigkeit verliehen. Damit wird der Subjektcharakter zwischenmenschlicher Begegnung in der geschichtlichen Erinnerung gerettet und die Personen der Vergangenheit, vor allem die Opfer, nicht nochmals zu Objekten gemacht oder instrumentalisiert für eigene Zwecke.
Ottmar Fuchs weist aber auch darauf hin, dass es keinen notwendigen Zusammenhang von Erinnerung und Solidarität gibt,⁶ denn der Erinnerungsbegriff ist selbst hoch ambivalent; er benötigt inhaltliche Perspektiven, welche die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Fuchs meint: „Es gibt so etwas wie eine Mystifizierung der Erinnerung, als könnte sie Menschen leidsensibel machen, die diese Sensibilität noch nicht erspürt oder wenigstens ersehnt haben. Nackte Erinnerungspostulate reichen nicht weit."⁷
Man kann zwar nicht zur Erinnerung an die Opfer und zur entsprechenden ‚Identifikation‘ mit den Tätern zwingen; dennoch gibt es einen Zwang: nämlich jenen, gegenwärtige Opfererfahrungen zu verhindern. Für Fuchs stehen vergangenes Leid und gegenwärtiges Gedenken als ‚Mit-Leiden‘ in einem gegenseitigen Erschließungs- und Steigerungsverhältnis: Das Verhältnis von Vita Passionis und Memoria Passionis ist zweipolig – „vom Schrecken der Memoria Passionis her, zum anderen von der Compassio der Gegenwart her"⁸. Zugleich steht dieses Erinnern jedoch auch in einem eschatologischen Kontext, denn letzte Gerechtigkeit für Täter und Opfer gibt es erst am Schluss – so mit Walter Benjamin, für den der „jüngste Tag eine „rückwärts gewandte Gegenwart
darstellt.⁹
2 Erzählungen als Form und Mittel der Erinnerung
¹⁰
Eine spezifische Form, wie Erinnerungen in den aktuellen Diskurs und in das konkrete pastorale Handeln einfließen und wie diese Erinnerungen an Opfern und Tätern heute gegenwärtig werden können, ist die Erzählung.
Die Welt der Erzählungen ist vielfältig; und die Buntheit einer Erzählkultur fasst Drehsen eindrucksvoll zusammen: „die Erzähllandschaften der Kindheit, die intime Gewebestruktur des Erzählens in den Familien – vom chronologischen Fotoalbum über die unzähligen Tisch- und Nachtgespräche bis hin zur narrativen Kurzform einer Grabinschrift; die Kasuistik lebensgeschichtlichen Erzählens, aber auch ‚das Gedruckte mit Erzählstruktur‘ in der literarischen Öffentlichkeit, der nie versiegende Strom von Erzählungen in therapeutischen Erzählarrangements und unterhaltsamen Medien-Inszenierungen, sei es in künstlerischer, sei es in populistischer Absicht; zu erinnern ist nicht zuletzt an die Funktion der Erzählung für die integrative Kraft von Zivilreligionen, überhaupt an die verhaltene Präsenz des Erzählens im öffentlichen Diskurs."¹¹
Erzählen ist zugleich urmenschlich und unverzichtbar, da der Mensch sich dadurch zwischen Realität und Vorstellungswelt zurechtfindet. Zugleich braucht er die Erzählung, „um die Integrität der eigenen unvertretbaren Lebensgeschichte für sich und für andere transparent werden zu lassen und „um seinen Platz in einer solchen geschichtlich und sozial umfangenden Welt zu finden, die der eigenen Disposition und Entwicklung weithin entzogen bleibt.
¹²
Für Albrecht Grözinger¹³ macht sich die Menschheit in einer narrativen Kultur selbst gewissermaßen zum Gegenstand ihrer eigenen Nachdenklichkeit. Und auch die Individualität des Menschen entstehe in einem narrativen Prozess, denn das Individuum werde gerade in seinen Geschichten und Erzählungen als solches erkennbar. Dies hat Henning Luther beispielhaft ausgearbeitet, wenn er festhält: „Wir sind immer zugleich auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen."¹⁴
Herbert Haslinger ist einer der wenigen Pastoraltheologen, die diesen Zusammenhang von Erinnerung und Erzählung pastoraltheologisch aufgegriffen haben. Vor allem in Auseinandersetzung mit J.