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Der Spiegel der einfachen Seelen: Mystik der Freiheit
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eBook479 Seiten4 Stunden

Der Spiegel der einfachen Seelen: Mystik der Freiheit

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Über dieses E-Book

"Ein spiritueller und zeitkritischer Bestseller". Irmgard Kampmann Am 1. Juni 1310 wird Marguerite Porete mitten in Paris bei lebendigen Leib verbrannt - zusammen mit ihrem Buch, das die heilige Inquisition in Aufruhr versetzt hatte. Der grausame Feuertod der nordfranzösischen Begine konnte allerdings nicht verhindern, dass "Der Spiegel der einfachen Seelen" über Jahrhunderte hinweg ein Bestseller wurde. In mehreren Sprachen fand er anonym in ganz Europa Verbreitung und übte einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf das religiöse Denken weit über ihre Zeit hinaus aus. Meister Eckhart etwa ist erkennbar von diesem Buch inspiriert. Was war so gefährlich an der Schrift dieser frommen Begine? Den religiösen Zwängen ihrer Zeit setzt Marguerite Porete eine schier unerhörte Mystik der Freiheit entgegen! Der von Gottes Liebe ganz durchdrungene Mensch braucht sich weder um Tugenden noch um Bußübungen, Messen, Predigten usw. zu kümmern! Der Atem der Freiheit durchdringt dieses Buch, und so manche kühne These der Reformation nimmt Marguerite Porte wörtlich vorweg. Erst im 20. Jahrhundert gelang der Forschung der Nachweis, dass Marguerite Porete die Autorin des "Spiegels der einfachen Seelen" ist. Eines der bedeutendsten Werke der Frauenmystik des Mittelalters liegt nun in einer neuen deutschen Übersetzung vor. Für alle an der Geschichte des Mittelalters, an der abendländischen Mystik, an der Befreiungsgeschichte der Frau Interessierte ist dieses einzigartige Werk nun neu erschlossen. Neu übersetzt aus dem Altfranzösischen von Bruno Kern.
SpracheDeutsch
Herausgebermarixverlag
Erscheinungsdatum29. Juni 2012
ISBN9783843801935
Der Spiegel der einfachen Seelen: Mystik der Freiheit

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    Buchvorschau

    Der Spiegel der einfachen Seelen - Marguerite Porete

    Marguerite Porete – Mystik der Freiheit

    Am 1. Juni 1310 wurde Marguerite Porete in Paris auf dem Place de Grève (heute Place de l’ Hôtel de Ville) bei lebendigem Leib verbrannt. Man zwang sie, den Scheiterhaufen mit dem Buch in der Hand zu besteigen, das ihr die Verurteilung als rückfällige Häretikerin eingebracht hatte. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden grausamen Feuertods soll Marguerite Porete zu erkennen gegeben haben, dass sie zu Widerruf und Reue bereit sei. Während ihres Prozesses und ihrer Gefängnishaft hatte sie eine beeindruckende Haltung an den Tag gelegt: Sie verweigerte nicht nur jede Aussage und den geforderten Widerruf, sondern auch den Treueid, der einer förmlichen Anerkennung des Tribunals gleichgekommen wäre. Auch die ihr angebotene Absolution für Sünden, deren sie sich nicht schuldig fühlte, lehnte sie entschlossen ab. Die innere Freiheit und Souveränität, die sie in ihrem Buch theologisch begründet, bewahrt sie selbst noch angesichts des drohenden Feuertods.

    Wer war diese bemerkenswerte Frau? Die Quellen, aus denen wir heute die recht spärlichen Informationen zur Biografie und Person Marguerites schöpfen, sind nur wenige: An erster Stelle ist ihr eigenes Buch zu nennen, dann die Prozessakten und schließlich im Kontrast zu diesen die rühmenden Beurteilungen dreier Zeitgenossen: eines Franziskaners, eines Zisterziensers und des berühmten Theologen Godefroi (Gottfried) de Fontaine, der von 1285 bis 1286 auch Kanzler der Universität in Paris war. Höchstwahrscheinlich stammt sie aus der nordostfranzösischen Stadt Valenciennes. Da in den Prozessakten jeder Hinweis auf ihr Alter fehlt, kann man ihr Geburtsjahr nur vage um das Jahr 1250 vermuten. Ihre außergewöhnlich hohe Bildung legt nahe, dass sie dem Patriziat der Stadt entstammte. Aus ihrem Buch selbst lässt sich schließen, dass sie bestens vertraut war mit der höfischen Literatur ihrer Zeit (so nimmt sie in einer Gleichniserzählung zu Beginn auf den berühmten Alexanderroman Bezug; die Sprache der Adelswelt ist insgesamt ein charakteristischer Grundzug ihres Buches); geprägt ist sie wohl von den mystischen Werken der Beginen Beatrix von Nazaret und Hadewijch von Antwerpen, und von den Denkmethoden und Argumentationsfiguren der hochmittelalterlichen Scholastik besitzt sie offensichtlich eine meisterhafte Kenntnis. Ihr Name, der zuweilen mit »kleiner Lauch« übersetzt wird, könnte darauf hindeuten, dass sie verheiratet war: Es könnte sich um die damals übliche weibliche Namensform handeln, die vom Namen des Gatten (Poré, Porreau oder Poireau) abgeleitet wurde. Etwa um das Jahr 1290 dürfte sie ihr Buch »Der Spiegel der einfachen und zunichte gewordenen Seelen« in der französischen Volkssprache geschrieben und veröffentlicht haben. Dass es zunächst bei ihren Adressaten auf kühle Ablehnung stieß, deutet sie in einem später angefügten Teil des Buches selbst an: »Die Beginen sagen, ich bin im Irrtum, und ebenso Priester, Kleriker und Prediger, die Augustiner und auch die Karmeliten und die Minderen Brüder …« Im Jahr 1300 schließlich wurde das Werk auf dem Hauptplatz von Valenciennes öffentlich verbrannt. Der Bischof von Cambrai drohte jedem mit Kirchenacht, der das Buch verbreite oder auch nur in seinem Besitz habe. Doch nicht zuletzt aufgrund der lobenden Würdigungen der drei oben erwähnten Theologen lässt sich Marguerite Porete nicht beirren, bringt ihr Buch weiter – wohl eher in kleinem Kreis – zum Vortrag und verschickt es an verschiedene einflussreiche Persönlichkeiten. Sie scheint sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Das trug ihr schließlich die Anklage des berüchtigten Dominikaners Wilhelm von Paris ein, seines Zeichens Großinquisitor und Beichtvater des französischen Königs Philipps des Schönen. Wilhelm von Paris war auch eine der Schlüsselfiguren bei der Verfolgung und schließlichen Vernichtung des Templer-Ordens. Eine hochkarätig besetzte Kommission von einundzwanzig Theologen – unter ihnen der berühmte franziskanische Bibelwissenschaftler Nikolaus von Lyra – wurde einberufen, um das Werk zu beurteilen. Fünfzehn willkürlich aus dem Zusammenhang des Gesamtwerks gerissene Sätze wurden als häretisch beanstandet und führten zur Verurteilung Marguerites als »rückfällig gewordene Ketzerin«. Die heilige Inquisition übergab sie dem weltlichen Arm, der das Urteil zu vollstrecken hatte, nicht ohne die damals übliche heuchlerische Bitte, man möge, soweit es das Urteil zulasse, barmherzig mit der Delinquentin verfahren.

    Aus den Prozessakten geht hervor, dass Marguerite Porete eine Begine war. Tatsächlich sind die tragenden geistlichen Erfahrungen und Reflexionen ihres Buches ohne den Hintergrund dieser konkreten Lebensform nicht zu verstehen. Das Beginentum stellt eine der vielen religiösen Aufbruchsbewegungen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts dar, die man als religiöse Reaktion auf den gewaltigen ökonomisch-gesellschaftlichen Umbruch begreifen kann, wie er mit der wachsenden Bedeutung der Städte, der Geldwirtschaft und eines entstehenden kommerziellen Kapitalismus einherging. Neben den Armutsbewegungen, aus denen unter anderem die Bettelorden hervorgingen, entstand mit den Beginen eine ganz neue Form der Spiritualität und Lebensweise. Es handelte sich dabei im Wesentlichen um eine Frauenbewegung (das männliche Gegenstück, die Begarden, war zahlenmäßig nicht sehr bedeutsam). Frauen vor allem aus dem niederen Adel und dem städtischen Patriziertum fanden für sich eine relativ autonome Lebensweise, die ihnen eine Alternative zum Zwangsinstitut der patriarchalischen Ehe bot, ohne dass sie sich der strengen Reglementierung des Klosterlebens unterwerfen mussten. Die Beginen lebten in ihren eigenen Häusern bzw. in denen von Verwandten, verdienten sich ihren Lebensunterhalt selbst durch verschiedene Tätigkeiten von Handarbeiten bis zur Krankenpflege, verpflichteten sich zu eheloser Keuschheit und Armut, ohne jedoch die irreversible kirchenrechtliche Bindung von Ordensgelübden auf sich zu nehmen. Unverheiratete, Verheiratete und Witwen fanden sich gleichermaßen in diesen Gemeinschaften. Für den Beitritt zu einer Beginengemeinschaft bedurfte es keiner Mitgift, was auch Angehörigen des weniger betuchten niedrigen Adels diese Möglichkeit eröffnete. Im Gegensatz zu weiblichen Ordensgemeinschaften unterstanden die Beginen anfangs nicht der spirituellen Leitung eines von der kirchlichen Hierarchie dafür bestimmten Priesters. Lange Zeit konnten sie diese relative Autonomie bewahren und genossen dabei den Schutz einer indirekten kirchlichen Anerkennung. (Der spätere Kardinal Jakob von Vitry hatte eine mündliche Anerkennung vonseiten des Papstes Honorius III. erwirkt.) Die Häuser der Beginen waren schlicht durch ein weißes Kreuz gekennzeichnet, ihr eigenes Erscheinungsbild fiel vor allem durch eine eigenartig ausladende Kopfbedeckung auf. »Chabbisköpf« (Kohlköpfe) war deshalb in Basel ein gängiger Spottname für sie. Neben den sesshaften Beginen gab es auch solche, die ein Wanderleben führten, und dass einige von ihnen sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdienten, scheint nicht immer nur üble Nachrede der Zeitgenossen gewesen zu sein. Die Beginenbewegung breitete sich rasch in Europa aus und wurde über zweihundert Jahre lang zu einer prägenden Kraft, die das abendländische Christentum mit einem innovativen Element bereicherte. Nordfrankreich, die Niederlande (einschließlich Belgien), das Rheinland, die Schweiz, aber auch Süddeutschland waren die hauptsächlichen Verbreitungsgebiete. Auf insgesamt eine Million Frauen schätzt man die Zahl der Beginen, was etwa drei bis vier Prozent der weiblichen Bevölkerung dieser Regionen entsprach. Der soziologische Hintergrund dieser Bewegung ist einerseits die große Zahl von Frauen in ungesicherten Lebensverhältnissen (u.a. bedingt durch einen demografischen Frauenüberschuss) und andererseits die patriarchalische Unterdrückung in der Ehe mit ihrer ununterbrochenen Reihe von Geburten, mit dem selbstverständlichen Züchtigungsrecht des Mannes usw. Bewegende zeitgenössische Berichte zeugen von der inneren Not junger Frauen, die alles daransetzten, dieser Art von Ehe zu entgehen, und in den Beginengemeinschaften eine Zuflucht fanden.

    Vor allem aber gedieh unter diesen frommen Frauen eine neue Form des spirituellen Lebens. Der weitgehend selbstbestimmten Lebensweise entsprach auch ein neues religiöses Selbstbewusstsein. Die Einmaligkeit und einzigartige Würde einer jeden Seele vor Gott, die Relativierung der kirchlich-institutionellen Formen des Glaubensvollzugs, das gemeinsame Lesen der Bibel in der Volkssprache waren dabei zentrale Elemente, die auch bei Marguerite Porete deutlich hervortreten. Die religiöse Fruchtbarkeit der Beginenbewegung wird nicht zuletzt an den großen Gestalten deutlich, die aus ihr hervorgingen: Neben Marguerite Porete selbst und den oben bereits erwähnten Mystikerinnen Beatrix von Nazaret und Hadewijch von Antwerpen ist hier vor allem Mechthild von Magdeburg als eine überragende Persönlichkeit der mittelalterlichen Frauenmystik zu nennen.

    Die Kehrseite dieser im Rahmen der damaligen Möglichkeiten relativ autonomen Lebensform und eines innovativen religiösen Lebens waren natürlich Schutzlosigkeit, Verdächtigungen, Verfolgungen und schließlich eine immer stärkere kirchliche Reglementierung. Bereits die Bezeichnung »Beginen« dürfte sich von der verhassten und als häretisch betrachteten Bewegung der Albigenser herleiten. Mechthild von Magdeburg musste schließlich bei den Zisterzienserinnen Zuflucht suchen, und das Schicksal der Marguerite Porete selbst ist das beste Beispiel für die Gefährdetheit, der diese Aufbruchsbewegung ausgesetzt war.

    Marguerite Poretes Buch enthält keine Beschreibung von Visionen. Der Hintergrund ihrer besonderen eigenen Gotteserfahrung wird nur in wenigen Andeutungen mithilfe einer metaphorischen Sprache beschrieben (Kapitel 58; Kapitel 132), und man sucht darin auch vergeblich nach einer erotischen Bildsprache. Der »Spiegel der einfachen Seelen« ist also keine Beschreibung des inneren Gotterlebens, sondern es will ein mystisches Lehrbuch, eine Anleitung und Hinführung zu einem Leben aus der reinen göttlichen Liebe heraus sein. Man könnte es deshalb eher als ein »mystagogisches« Werk bezeichnen. Der Titel bereits ordnet es einer bestimmten literarischen Gattung zu, nämlich der sogenannten »Speculum-Literatur«. »Spiegel« in diesem Sinne waren Sitten- und Verhaltenskodizes für einen bestimmten Stand. In diesem Sinne waren etwa Jungfern- oder Fürstenspiegel verbreitet. Marguerite Poretes »Spiegel« wendet sich dagegen an keine besondere gesellschaftliche Gruppe. Das Leben der Seele aus Gottes Willen allein steht potenziell allen offen. Der Text ist durchgehend als ein Dialog gestaltet. Dialogpartner sind personifizierte Wesenheiten, neben einigen nur sporadisch auftretenden sind dies »die Seele«, »die Liebe« (auf deren Veranlassung das Buch niedergeschrieben wurde) und als Gegenpart »die Vernunft«. Letztere ist jedoch vor allem im Sinne der »institutionalisierten« Vernunft zu begreifen, wie sie sich in der offiziellen theologischen Wissenschaft und in der von ihr beherrschten Kirche (in diesem Fall die »Heilige Kirche die kleine« als sichtbare Institution im Gegensatz zur »Heiligen Kirche der großen«, die als äußerlich nicht manifeste Gemeinschaft die »zunichte gewordenen Seelen« umfasst). Diese Vernunft wird im Lauf des Buches zuweilen mit beißendem Spott überzogen, als »Schaf« und Ähnliches bezeichnet, hat aber im Verlauf des Textes immerhin die Funktion, durch ihren skeptischen Widerspruch die Reflexion auf immer höhere Stufen voranzutreiben. Diese dialogische Anlage des Buches hat u.a. Dorothee Sölle vermuten lassen, es sei im Stil von Bänkelsängen öffentlich szenisch aufgeführt worden. So gut man sich dies auch vorstellen mag: Der Text selber gibt darauf keinen Hinweis, sondern legt eher den Vortrag in kleinen spirituellen (Frauen-)Zirkeln nahe.

    Darüber hinaus ist das Buch nicht immer klar strukturiert und weist eine Vielfalt literarischer Formen auf, etwa die berühmte Gleichniserzählung in Anlehnung an den Alexanderroman oder Lieder, die den Dialogtext unterbrechen.

    Sofern eine Einordnung des Buches in die unterschiedlichen Grundtendenzen der mystischen Literatur hilfreich ist, ist es weniger einer (neuplatonisch geprägten) Wesensmystik, sondern eher einer Willens- und Liebesmystik zuzuordnen. Berühmte Vertreter einer solchen »Minnemystik« waren etwa Wilhelm von Saint-Thierry und dessen Freund Bernhard von Clairvaux. Worum es Marguerite Porete – wie wahrscheinlich aller authentischen Mystik – letztlich geht, ist jene »Fine Amour«, jene interesselose Liebe, die kein »Warum« mehr kennt.

    Diese Liebesmystik bringt Marguerite Porete also in der Sprache der höfischen Dichtung zum Ausdruck, die sich auch in ihrer originellen Gottesbezeichnung niederschlägt: Der in der Minnelyrik idealisierte »ferne« Geliebte wird bei Marguerite Porte zum »Loingprès«, zum Fernnahen. An dieser Stelle muss man sich davor hüten, den Begriff mittels Kategorien wie etwa dem Spannungsverhältnis von Immanenz und Transzendenz zu deuten. Auch die heilsgeschichtlich-dogmatische Deutung von Kurt Ruh, der darin den Gegensatz des seit dem Sündenfall in der Fremde befindlichen Menschen und des Gottes, der diese Fremde in der Selbsterniedrigung (Kenose) seines Sohnes überwindet, sieht, scheint mir von außen übergestülpt zu sein. Eher schon lässt der »Fernnahe« an jenes dialektische Spiel von »Fort« und »Da« denken, das für Sigmund Freud das Lustprinzip kennzeichnet.

    Das alles bestimmende Thema des Buches ist das der Freiheit! Marguerite Porete entwickelt das Schema von sieben Stufen, in deren Verlauf die Seele nach und nach alle äußeren Zwänge und inneren Beschränkungen hinter sich lässt, der Sünde, der Natur und dem Geist abstirbt, um schließlich völlig aus dem Willen Gottes allein heraus zu leben. Ja mehr noch: Es ist nur noch der Wille Gottes selbst, der wirkt! Innerhalb der ersten Stufe ist die Seele der Sünde abgestorben und zeichnet sich durch das Einhalten von Gottes Geboten aus; auf der zweiten Stufe tötet sie die Natur ab, um den »evangelischen Räten« (also Armut, Keuschheit, Gehorsam) gemäß zu leben; auf der dritten Stufe vollzieht sie die Abkehr von den Werken der Vollkommenheit, die sie als Selbstbezogenheit durchschaut; die vierte Stufe besteht im Hintersichlassen aller äußeren Frömmigkeitsübungen einschließlich des Gehorsams; auf der fünften Stufe betrachtet die Seele, dass Gott ist, und erkennt darin ihr eigenes Nichts, die sechste Stufe besteht darin, dass Gott sich selbst in der Seele sieht, die sein Spiegel geworden ist; die siebte Stufe schließlich ist die eschatologische Vollendung nach diesem irdischen Leben in Gottes Herrlichkeit.

    In einer atemberaubend kühnen Sprache beschreibt Marguerite Porete diesen Weg der Befreiung der Seele, die alle Frömmigkeitsübungen, jede Anhänglichkeit an Besitz, Stand und Macht, das enge Korsett eines Tugendlebens, die Besserwisserei und das penetrante Bescheidwissen der in Kirche und Theologie herrschenden »Vernunft« hinter sich lässt, um schließlich ihren einzigen Halt im Willen der höchsten Liebe Gottes allein zu finden. Die Freiheit von den Normen des Tugendlebens und der Askese feiert Marguerite Porete in einem überschwänglichen, ja geradezu übermütigen Gesang (vgl. Kapitel 6)! Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Die Seele dient nicht mehr den Tugenden, vielmehr ist sie nun deren souveräne Herrin! Und schließlich – eine schier unerhörte Aussage – kann diese Seele »ohne Gewissensbisse« der Natur das zugestehen, wonach diese verlangt! (Kapitel 17)

    Etliche Formulierungen im Verlauf des Buches lassen übrigens den ethischen und gesellschaftlichen Druck erahnen, der für Frauen nur einen Leidensweg bereithielt. Allein vor dem Hintergrund solcher konkreter Seelenqual und auch körperlicher Pein (die nicht zuletzt in absonderlichen Formen der Selbstkasteiung ihren gegen sich selbst gewendeten Ausdruck fand) kann man den »Abschied von den Tugenden« verstehen, der wie ein Spottlied anmutet und natürlich auch einer der Hauptgründe für Marguerite Poretes Verurteilung als Ketzerin wurde. Auch die Gnadenmittel der Institution Kirche lässt die Seele auf ihrem Weg zur Freiheit zurück: Predigten, Messen, Fasten und Gebet werden bedeutungslos für die Seele, die immer mehr aus der Liebe allein zu leben beginnt. (Kapitel 13) Marguerite Porete nimmt das reformatorische »sola fide« wörtlich vorweg und propagiert die Errettung des Menschen durch Glauben allein ohne Werke (Kapitel 5 und 11). Dass die Infragestellung der Rolle der Institution Kirche als Heilsmittlerin ein weiterer wesentlicher Grund für Poretes Verurteilung war, entspricht einem Grundmuster, das sich bis in die Gegenwart durchhält, und ist nicht überraschend. Das Selbsterhaltungsinteresse der Institution war seit jeher das entscheidende Motiv für Repression nach innen und Anpassung nach außen.

    Ein Höhepunkt in Marguerite Poretes Buch ist ohne Zweifel die scharfsinnige Reflexion über den selbst von Gott nicht mehr hintergehbaren freien Willen in den Kapiteln 103 und 104. Man kann dies als Ausdruck jener »anthropozentrischen Denkform« begreifen, die J.B. Metz bereits für Thomas von Aquin nachweist. Allerdings – und dies kommt im Titel des Buches bereits zum Ausdruck – ist Poretes Freiheitsdenken von einer besonderen Dialektik geprägt: Ihren souveränen Stand gegenüber allen äußeren Zwängen und internalisierten Unterdrückungsmechanismen gewinnt die Seele letztlich in der völligen Preisgabe des eigenen Willens, der durch Gottes Willen ersetzt wird! Durch die Liebe ist der eigene Wille völlig zunichte geworden, nur noch Gottes Wille wirkt. Und gerade dadurch steht die Seele über allen Instanzen. Was Dorothee Sölle als einen »fröhlichen Nihilismus« bezeichnet, ist das Paradox, dass die Autonomie des Individuums letztlich durch die Aufgabe einer jeden Autonomie erkauft wird. Das Spannungsverhältnis von Autonomie und Heteronomie wird ein Dauerthema in Theologie und Philosophie bleiben. Erinnert sei hier nur an Martin Luthers Auseinandersetzung mit den Humanisten (Erasmus von Rotterdam, aber auch Philipp Melanchthon) um die Willensfreiheit und deren Heilsrelevanz. Unser durch die Aufklärung hindurchgegangenes Denken kann Marguerite Poretes Haltung und Reflexionen sicher nicht einfach affirmieren. Dass jedoch die unhintergehbare Freiheit und der Selbstbesitz des Menschen den Horizont unbedingter Freiheit zur Bedingung der Möglichkeit haben, dass also theologisch gesprochen unsere Freiheit eine »befreite Freiheit« ist, ist eine zentrale theologische Einsicht, die aus einem geistigen Ringen erwachsen ist, zu dem auch Marguerite Poretes »Spiegel« nicht unerheblich beigetragen hat.

    Die Wirkungsgeschichte des »Spiegels der einfachen Seelen« ist außergewöhnlich und nicht zuletzt aus den ausgesprochenen Verboten und kirchlichen Verdikten gegen die Schrift abzulesen. Bereits ein Jahr nach Marguerites Hinrichtung bringt das Konzil von Vienne Thesen des Spiegels mit den »Brüdern des freien Geistes« in Verbindung. Bernhardin von Siena und später die Jesuiten verurteilen und verfolgen die Schrift mit fanatischem Eifer. Der offiziellen Verurteilung zum Trotz erfährt die Schrift aber bald eine weite Verbreitung. Neben der altfranzösischen Fassung entstehen noch im Lauf des 14. Jahrhunderts eine lateinische, zwei altitalienische und eine mittelenglische Fassung. (Zur Geschichte der Textüberlieferung und zur Redaktionsgeschichte vgl. v.a. Stölting, 321–344.) Nach der Verurteilung der Autorin als Ketzerin wird das Buch anonym verbreitet und übt nachweislich einen enormen Einfluss auf die spätere Mystik bis hin zum Quietismus und vermutlich auch zu den Quäkern aus. Namentlich Meister Eckhart, der größte Mystiker des abendländischen Mittelalters, lässt die Spuren von Marguerite Poretes »Spiegel« deutlich erkennen. Man lese nur seine 52. Predigt (»Adolescens, tibi dico«) und die darin enthaltenen Ausführungen zum Werk, das die göttliche Liebe in sich selbst wirkt! Erst in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts gelang Romana Guarnieri der Nachweis der Autorenschaft Marguerite Poretes. Sie konnte im Prozess verurteilte Thesen in der Schrift überzeugend identifizieren. Im Zuge eines neu erwachten Interesses an der christlichen Frauenmystik des Mittelalters entstanden moderne Übersetzungen, die eine neuerliche Rezeption des »Spiegels der einfachen Seelen« ermöglichten. Zu erwähnen sind hier vor allem die Übersetzung ins moderne Französisch von Claude Louis-Combet und die erste deutsche Übersetzung von Luise Gnädinger.

    Eine der prominenten glühenden Verehrerinnen des »Spiegels der einfachen Seelen« war keine Geringere als Marguerite von Navarra, die Schwester des französischen Königs Franz I. Das Buch und deren Autorin, so schreibt sie, seien »erfüllt von der Flamme der Liebe, so inbrünstig, dass Liebe, und sie allein, ihr Anliegen, Anfang und Ende, von allem, was sie sagte«, gewesen sei. Im Gegensatz zur heiligen Inquisition, deren Handlangern und Vollstreckern hat Marguerite von Navarra damit die Intention des »Spiegels der einfachen Seelen« präzise erfasst. Ihr sei deshalb das letzte Wort zu Marguerite Porete, Opfer patriarchalischer Machtmechanismen und Märtyrerin der Freiheit, überlassen:

    Wie aufmerksam war diese Frau,

    die Liebe zu empfangen, die verbrennt

    ihr eignes Herz und das all derer,

    die ihr zuhören ...

    (nach: Sölle, 159)

    Bruno Kern

    Literatur

    Clévenot, Michel, Doux Jésus, enrichis-moi! (Les hommes de la fraternité, XIVe–XVe Siècle), Paris 1987.

    Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, Zürich 1979.

    Metz, Johann Baptist, Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von Aquin, München 1962.

    Ruh, Kurt, Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter, Bd. II: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993.

    Sölle, Dorothee, Mystik und Widerstand. »Du stilles Geschrei«, München 1999.

    Southern, Richard William, Western Society and the Church in the Middle Ages (The Pelican History of the Church, Bd. 2), London 1970.

    Stölting, Ulrike, Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse, Mainz 2005.

    Zum Brunn, Emilie, Introduction, in: Porete, Marguerite, Le Miroir des simples âmes anéanties. Traduit de l’ancien français par Claude Luis-Combet, Grenoble 1991, 9–25.

    Zum Brunn, Emilie/Epiney-Brugard, Georgette, Women Mystics in Medieval Europe, New York 1989.

    Ihr künftigen Leser dieses Buches¹,

    wenn ihr es recht verstehen wollt,

    dann achtet darauf, was ihr darüber sagt,

    denn es ist schwer zu begreifen.

    Ihr müsst euch von der Demut leiten lassen,

    denn sie ist die Hüterin des Schatzes der Wissenschaft

    und die Mutter aller anderen Tugenden.

    Ihr Theologen und anderen Gelehrten²,

    bei all eurem Scharfsinn

    wird sich euch das Verständnis nicht erschließen,

    wenn ihr dabei nicht demütig seid

    und zulasst, dass Liebe und Glaube gleichermaßen

    die Vernunft³ überwinden:

    Denn sie beide sind die Herrinnen im Haus.

    Die Vernunft selbst bezeugt dies,

    und zwar im dreizehnten Kapitel dieses Buches,

    und sie empfindet deshalb keine Scham:

    Denn die Liebe und der Glaube erfüllen sie mit Leben,

    sie entledigt sich ihrer niemals,

    denn sie sind ihre Herrinnen.

    Deshalb ziemt es sich, dass sie sich demütig unterwirft.

    Seht zu, dass eure Wissenschaften,

    deren Grundlage die Vernunft ist, demütig werden,

    und vertraut euch denen völlig an,

    die durch die Liebe gegeben und vom Glauben erhellt sind.

    Dann werdet ihr dieses Buch verstehen,

    das der Seele aus der Liebe heraus Leben verleiht.

    Ende

    1.

    Prolog: Die von Gott berührte und im ersten Gnadenstand von der Sünde befreite Seele ist durch die Gnade Gottes in den siebenten Stand aufgestiegen. Das ist jener Zustand, in dem die Seele im Land des Lebens ihre höchste Vollkommenheit erlangt hat und in göttlicher Weise genießt

    Hier spricht die Liebe: Ihr Tätigen und ihr Kontemplativen⁴, ja vielleicht sogar Ihr, die Ihr durch die wahre Liebe zunichte geworden seid, vernehmt jetzt von vielerlei wundersamen Wirkungen der reinen, der erhabenen, der hohen Liebe einer frei gewordenen Seele, und hört, wie der Heilige Geist auf ihr Segel gesetzt hat, wie auf sein Schiff! Um der Liebe willen bitte ich Euch, sagt die Liebe: Hört aufmerksam zu, mit Wissensdurst

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