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Mutter - Die Geschichte ihres Lebens
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eBook856 Seiten12 Stunden

Mutter - Die Geschichte ihres Lebens

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Über dieses E-Book

Ungeachtet ihres wesentlichen Beitrags für die moderne Welt sind Sri Aurobindo und Mutter außerhalb des Kreises ihrer Anhänger und Verehrer immer noch weitgehend unbekannt. Georges Van Vrekhems Absicht in dieser Biografie Mutters ist es, alles erhältliche Material über ihr Leben zu prüfen und es auf eine zugängliche und interessante Art zu präsentieren. Er versucht, das volle Bild von Mutters Leben aufzuzeigen, mitsamt der oft vernachlässigten, aber wichtigen letzten Jahre ihres Lebens, und berücksichtigt auch einige von Mutter ausdrücklich bestätigte Reinkarnationen. Mutter wurde im Jahr 1878 in Paris als Mirra Alfassa geboren. Sie wurde Künstlerin, heiratete einen Künstler und beteiligte sich in der Zeit des fin de siècle und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aktiv am vibrierenden Leben der Metropole. 1926 wurde sie „die Mutter“ des Sri Aurobindo Ashrams. Dieses Buch bietet eine detaillierte Beschreibung des unglaublichen Unterfangens von Mutter und Sri Aurobindo. Ihre Vision ist eine wichtige Perspektive zum Verständnis dessen, was die Menschheit im neuen Jahrtausend erwartet.

SpracheDeutsch
HerausgeberAquamarin Verlag
Erscheinungsdatum24. Sept. 2020
ISBN9783968611150
Mutter - Die Geschichte ihres Lebens

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    Buchvorschau

    Mutter - Die Geschichte ihres Lebens - Georges Van Vrekhem

    VREKHEM

    Mutter

    Die Geschichte ihres Lebens

    Georges Van Vrekhem

    Titel des englischen Originals: The Mother – The Story of her Life, 2000

    Ins Deutsche übersetzt von Friederike Mühlhans,

    Hans-R. Höhener und Anita Reichle

    Sämtliche Fotos: Copyright Sri Aurobindo Ashram, Pondicherry

    ISBN 978-3-96861-115-0

    Erste deutsche eBook-Auflage 2020

    Aquamarin Verlag, Voglherd 1, D-85567 Grafing

    © Copyright 2016 Sudha Mohanty

    Inhalt

    Teil eins: Wege treffen sich

    Kapitel eins: Kindheit und Jugend in Paris

    Tochter des Mittleren Ostens

    Die frühe Sadhana

    Kapitel zwei: Künstlerin unter Künstlern

    Die Académie Julian

    Impressionismus

    Das Künstlerleben

    Die frühe Sadhana (Fortsetzung)

    Im Epizentrum

    Kapitel drei: Erforschung des Okkulten

    Okkultismus

    Übergang für die Toten

    Die einsiedlerischen Meister

    Tlemcen – der erste Besuch (1906)

    Tlemcen – der zweite Besuch (1907)

    Die vier Asuras

    Kapitel vier: Eine Synthese im Werden

    Auf sich gestellt

    Fanatiker, Sucher und Weise

    Monsieur Verstand

    Alexandra David-Néel

    Sie, die zu euch spricht …

    Eine Reise nach Pondicherry

    Kapitel fünf: Aurobindo Ghose

    Gentleman und Schüler

    Im Dienste des Maharajahs

    Hinter der Bühne

    Ein Nebeneingang zur Spiritualität

    Führer des Nationalismus

    Im Schatten des Galgens

    Order zum Auslaufen

    Teil zwei: Der gemeinsame Weg

    Kapitel sechs: Das Wort aussprechen

    Erste Fragen

    Der Beginn des Arya

    Die integrale Vision und der Integrale Yoga

    Die Mutter

    Der Erste Weltkrieg und Richards Ausweisung

    Kapitel sieben: In Japan

    Tokio

    Kyoto

    Kalvarienberg

    Kapitel acht: Die sieben verborgenen Jahre

    Es ist besiegelt

    Die Herabkunft

    Die fremde Dame

    Steine werfen

    Die Ankunft der Schüler

    Katzen

    Kapitel neun: Drei Drachen

    „Siddhi Tag"

    Das Wort der Schöpfung

    Die Mutter akzeptieren

    Kapitel zehn: Das Labor

    Die Grundlagen

    Die Gründung des Ashrams

    Mutter und die Schüler

    Der Bau einer Welt im Kleinen

    Kapitel elf: Mutters Krieg

    Der Angriff auf Sri Aurobindo

    „Der Herr der Nationen"

    Der Ashram in Schwierigkeiten

    Interventionen

    Das Kommen der Kinder

    Kapitel zwölf: Sri Aurobindos Abstieg in den Tod

    Mahananda

    Freiheit um Mitternacht

    Fünf „Träume"

    Der Übermensch – das Übergangswesen

    Savitri

    Der Abstieg in den Tod

    Teil drei: Der Weg allein

    Kapitel dreizehn: Der Yoga der Körperzellen

    Die Ashram-Schule und ihre Erziehung

    Transformation der Körperzellen

    Pondicherry verschmilzt mit Indien

    Die „Entretiens" (Gespräche)

    Kapitel vierzehn: Mutters Reinkarnationen

    Im irdischen Paradies

    König Hatschepsut

    Königin Teje

    Johanna von Orléans

    Die jungfräuliche Königin

    Kapitel fünfzehn: Die Manifestation des Supramentals

    Eine Prophezeiung

    Die supramentale Manifestation

    Mutter Natur

    Das Schiff der neuen Welt

    Mutter zieht sich zurück

    Kapitel sechzehn: Was getan werden soll, ist getan

    Auf und ab

    Wütendes Zuckerrohr

    Die Transformation des Körpers

    Fünf Prinzipien

    Wie würde der supramentale Körper sein?

    Die Bürde des Vorläufers

    Die großen Pulsationen

    Kapitel siebzehn: Der gefährliche Übergang

    Eine Art Tod

    Materie, Substanz, Schwingungen, Licht

    Das Leben draußen

    Die Gründung der Stadt der Morgenröte: Auroville

    Mai 1968

    Kapitel achtzehn: Der Neue Körper

    „Frohes Neues Jahr!"

    Das Leben im Äußeren (Fortsetzung)

    Die Gegenwart und die Rolle des seelischen Wesens

    Das Matrimandir

    Dunkelste Nacht

    Der neue Körper

    Das Ablegen des Körpers

    Raupe und Schmetterling

    Anstelle eines Epilogs

    Quellenangaben

    Bilderverzeichnis

    Mirra Alfassa im Alter von 11 Jahren

    Mirra Morrisset in Paris, ca. 1895

    Aurobindo Ghose, ca. 1916

    Mirra Richard in Japan mit Frau Kobayashi

    Mirra Richard in Japan

    Mutter und Sri Aurobindo bei ihrem letzten gemeinsamen Darshan 1950

    Sri Aurobindo, August 1950

    Mutter beim Tennisspielen im Alter von 70 Jahren

    Mutter bei den Entretiens auf dem Ashram Sportplatz, 1951

    Mutter verteilt Süßigkeiten, 1950

    Mutter mit Premierminister Nehru, Sri Kamraj, Indira Gandhi und Lal Bahadur Shastri, 1955

    Mutter ca. 1969

    Mutter bei der Arbeit mit ihren Sekretären (Nolini und Amrita), ca. 1967

    Mutter gibt ihren Darshan, ca. 1971

    The world unknowing, for the world she stood …

    Der Welt verborgen, stand sie für die Welt …

    - Sri Aurobindo, Savitri, S. 13

    One shall descend and break the iron Law,

    Change Nature’s doom by the lone spirit’s power.

    A limitless Mind that can contain the world,

    A sweet and violent heart of ardent calms

    Moved by the passions of the gods shall come.

    All mights and greatnesses shall join in her;

    Beauty shall walk celestial on the earth,

    Delight shall sleep in the cloud-net of her hair,

    And in her body as on his homing tree

    Immortal Love shall beat his glorious wings …

    She shall bear Wisdom in her voiceless bosom,

    Strength shall be with her like a conqueror’s sword

    And from her eyes the Eternal’s bliss shall gaze.

    A seed shall be sown in Death’s tremendous hour,

    A branch of heaven transplant to human soil;

    Nature shall overleap her mortal step;

    Fate shall be changed by an unchanging will.

    - Sri Aurobindo, Savitri, S. 346

    Eine wird kommen und brechen das ehrne Gesetz,

    der Natur Verhängnis wandeln durch des Geistes Kraft.

    Ein grenzenloser Geist der die Welt enthält,

    ein süßes heftiges Herz inbrünstiger Ruh

    wird kommen, von Götterleidenschaften bewegt.

    Es werden in ihr sich alle Mächte und Größen einen:

    himmlisch wird Schönheit auf Erden wallen,

    Wonne wird schlafen im Wolkennetz ihres Haars,

    unsterbliche Liebe glorreiche Flügel schlagen,

    in ihrem Leib wie in holdem Heimat-Baum behaust …

    Weisheit wird sie tragen im stummen Busen,

    Stärke wird bei ihr sein wie ein Siegerschwert,

    aus ihren Augen schauen des Ewigen Seligkeit.

    Ein Saatkorn wird fallen in Todes furchtbare Stunde,

    ein Himmelszweig sich verpflanzen auf Menschengrund;

    überspringen wird Natur der Sterblichkeit Stufe;

    unwandelbarer Wille wird Schicksal wandeln.

    (deutsche Übersetzung nach Hans Peter Steiger)

    Teil eins:

    Wege treffen sich

    Mirra Alfassa im Alter von 11 Jahren

    Kapitel eins:

    Kindheit und Jugend in Paris

    Als ich noch ein Kind war, konnte es vorkommen, dass ich mich bei meiner Mutter beklagte … dann fragte sie mich stets, ob ich mir denn einbildete, für mein eigenes Vergnügen geboren zu sein. „Du wurdest geboren, um das höchste Ideal zu verwirklichen", pflegte sie dann zu sagen und mich fortzuschicken.¹

    - Mutter

    Tochter des Mittleren Ostens

    Paris um 1870 – es war die pulsierende kulturelle und politische Hauptstadt der Welt, und einige Jahrzehnte sollte es das auch bleiben. In allen Ländern schaute man auf seine Berühmtheiten, auf seine wegweisenden Schöpfungen in der Malerei, auf der Bühne und in der Musik. Jeder träumte davon – und sei es nur einmal im Leben –, seine Ausstellungen und Museen zu besuchen, seine Denkmäler, Boulevards und malerischen Viertel, seine Cafés, sein brodelndes Nachtleben mit den cafés-concerts, Theatern und Varietés.

    Die Schöpfungen der Pariser haute couture, damals gerade erst aus der Taufe gehoben, und der neuen Pariser Kaufhäuser wie La Samaritaine und Au Bon Marché wurden getragen und imitiert, wo immer sich Männer und, vor allen Dingen, Frauen nach der westlichen Mode kleideten. Die französische Sprache wurde in den gehobenen Kreisen aller europäischen Länder gesprochen und generell als Sprache der Diplomatie benutzt. Obwohl Frankreich 1870 durch das neu entstandene und bedrohlich ambitionierte Deutschland eine traumatische Niederlage zugefügt worden war, blieb seine Hauptstadt nach wie vor Brutstätte und Versuchslabor der unterschiedlichsten politischen Theorien und Überzeugungen, von den verrücktesten bis hin zu jenen, die eines Tages Geschichte machen sollten.

    So sah also die Metropole aus, in der am 21. Februar 1878 Blanche Rachel Mirra Alfassa geboren wurde*, die eines Tages als „die Mutter" bekannt werden sollte. Das verheißungsvolle Ereignis fand im elterlichen Hause am Boulevard Haussmann Nr. 41 statt, welcher seinen Namen zu Ehren von Georges Baron Haussmann erhalten hatte, dem Mann, der Paris nur wenige Jahre zuvor sein immer noch weltberühmtes Gepräge verliehen hatte. Das Haus existiert noch heute, nahe der Oper, es liegt dem Kaufhaus Au Printemps genau gegenüber.

    Mirra, wie das kleine Mädchen genannt werden sollte, war zur Zeit ihrer Geburt keine Französin. Ihr Vater war Türke, ihre Mutter Ägypterin, und es existieren Hinweise darauf, dass beide zumindest teilweise jüdischer Abstammung waren. Sie waren einige Monate vor Mirras Geburt nach Frankreich emigriert und sollten erst 1890 die französische Staatsbürgerschaft erhalten, als das Familienoberhaupt durch einen Präsidialerlass eingebürgert wurde.

    Ihr Vater, Maurice Moïse Alfassa, wurde 1843 in der türkischen Stadt Adrianopel, jetzt Edirne, geboren; von Beruf war er Bankier. Ihre Mutter, Mathilde Alfassa, geborene Ismalun, wurde 1857 in der ägyptischen Stadt Alexandria geboren. Auch sie stammte aus einer Bankiersfamilie. „Mutters eigene Mutter erklärte, sie wollte diesen Herrn heiraten, weil er so viele Bücher besaß! Sie dachte, mit einer so großen Bibliothek im Haus würde sie sich niemals langweilen."² Sie heirateten 1874 und ließen sich in Maurices Heimatstadt nieder. Dort starb ihr erstes Kind, ein Junge, an den Folgen einer Pockenimpfung. Ihr zweiter Sohn, Mattéo, wurde 1876 in Alexandria geboren. Er erhielt seinen Namen vermutlich von der italienischen Familie, in die Mathildes Schwester Elvire eingeheiratet hatte. (Wir haben es hier eindeutig mit einer Familie zu tun, die international verzweigt ist!) Mirra war das dritte Kind, nach ihr gab es kein weiteres.

    In späteren Jahren sprach Mutter manchmal über ihre Eltern. Ihr Vater scheint ein ziemlich unkomplizierter Mensch gewesen zu sein, mit einer bemerkenswerten Gesundheit und einem ungewöhnlich stabilen Charakter, mehr an praktischen Dingen denn an philosophischen oder religiösen Abstraktionen interessiert. Er war so stark, erzählte Mutter einmal, dass er ein Pferd allein durch seinen Schenkeldruck auf die Knie zwingen konnte. Er hatte in Österreich studiert und sprach Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Türkisch und Ägyptisch. Zudem hatte er einen außergewöhnlichen Sinn für Zahlen.

    Mirras Mutter war eine intelligente und sehr willensstarke Frau – von ihrer Tochter einst mit einem „Eisenstab" verglichen –, durch und durch beeinflusst vom Geist des 19. Jahrhunderts und den ihm zugrunde liegenden Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Sie war eine überzeugte Materialistin und Atheistin, für die nur das von Wichtigkeit war, was man sehen und berühren konnte. Andererseits glaubte sie an einen niemals endenden Fortschritt und an die Selbstvervollkommnung. Nachdem ihr erstes Baby gestorben war, hatte sie die felsenfeste Vorstellung entwickelt, dass ihre Kinder, zu denen sie eine Art stoischer Liebe hegte, die Besten der Welt werden sollten.

    Warum verließen Maurice und Mathilde Ägypten und emigrierten nach Frankreich? Einige sagen, dass Mathilde sich geweigert hatte, vor dem Khedive, dem ägyptischen Vizekönig des ottomanischen Reiches, zu dem Ägypten seit 1517 gehörte (und noch weitere Jahre gehören sollte), einen Knicks zu machen. Wenn das stimmt, dann muss es gewiss ein sehr starkes Motiv für ein derartiges Benehmen gegenüber der höchsten Autorität des Landes gegeben haben, selbst für die willensstarke Mathilde. Die späten Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts waren bewegte Jahre in Ägypten; dort hatte seit der Eröffnung des Suez-Kanals, im Jahr 1869, die nationalistische Bewegung an Boden gewonnen, und es gab Anzeichen für eine Revolte gegen Ausländer und den anglophilen Khedive, Tewfik Pasha. Ob diese explosive politische Situation zu den Umständen gehörte, welche Maurice und Mathilde aus dem Land trieben, wird man nicht mehr erfahren können.

    Ihre Ankunft in Paris war von einer bemerkenswerten Frau vorbereitet worden, von Mira* Ismalun, geborene Pinto, Mathildes Mutter. Sie war eine der allerersten emanzipierten Frauen Ägyptens und hatte es gewagt, ohne Begleitung ins Ausland zu reisen. Sie wurde zu einer Art Berühmtheit an allen Orten West-europas, die zu jener Zeit „in" waren, und sie schloss Freundschaft mit unzähligen prominenten Persönlichkeiten, die sie mit ihrem Geist und ihrer prachtvollen exotischen Kleidung bezauberte. Sie war so ungewöhnlich tolerant, dass sie ihrer Tochter sogar gestattete, ihren Ehemann selbst zu wählen; Nationalität und Religion stellten keine Hindernisse dar. Sie hatte auch einen ausgeprägten Geschäftssinn, denn sie versorgte die ägyptischen Prinzessinnen in den Harems und andere abgeschieden lebende Damen mit Juwelen und Kleidern aus Europa; außerdem ließ sie von den besten französischen Malern deren Portraits malen. Mirra sollte sich dieser Großmutter später sehr nahe fühlen und stets mit großer Zuneigung an sie denken.

    Eine interessante Bibliothek scheint jedoch keine Garantie für eine glückliche Ehe zu sein. Maurice und Mathilde lebten sich auseinander und führten ihr Leben in ihrem hôtel* am Boulevard Haussmann Nr. 62, wohin sie nach Mirras Geburt gezogen waren, praktisch unabhängig voneinander. (Großmutter Mira war ihre Nachbarin.) Die Kinder blieben mehr oder weniger beim Vater. Er erzählte ihnen spannende Abenteuergeschichten, in denen er selbst stets den Helden spielte, und er ließ seine Vögel frei in dem Zimmer umherfliegen, das als sein Privatgemach diente. Er nahm Mattéo und Mirra auch mit zu Spaziergängen in den Gärten der Tuilerien, im Bois de Boulogne oder im Botanischen Garten, oder er besuchte mit ihnen interessante Museen wie den Louvre oder das Musée Guimet.

    Er nahm sie auch in den Zirkus, den er liebte. Zu jener Zeit gastierten nicht weniger als fünf Zirkusse permanent in Paris – Cirque Rancy, Grand Cirque Sidoli, Cirque d’hiver, Cirque Fernando … – und einige der Artisten waren bekannt bei Jung und Alt. Da gab es Miss La-La, sie wirbelte hoch über den Köpfen der gebannten Zuschauer, während sie sich nur an den Zähnen festhielt; dann gab es Reiter auf ungesattelten Pferden, Trapez-Artisten und Jongleure; und dann waren da die Clowns Footit und Chocolat und der berühmte Boum-Boum. Viele von ihnen wurden durch die Gemälde von Degas, Renoir, Toulouse-Lautrec, Seurat, Picasso und anderen Meistern unsterblich gemacht.

    Mirra wuchs in dieser bürgerlichen, für das 19. Jahrhundert so typischen Familie auf. „Mutters Eltern lebten das Leben der Reichen, mit Pferden und Kutschen."³ Sie hatte ein englisches Kindermädchen, Miss Gatliffe, die bei ihr laute Protestschreie auslöste, als sie sie zwang, kalte Bäder zu nehmen. Dann gab es die Familienbesuche und Essenseinladungen, man musste sich fein anziehen und gut benehmen. Das Elternhaus, an einem der eleganten Boulevards gelegen, besaß einen Salon, und dort stand das Piano, jenes unvermeidliche Möbelstück, das jede gutbürgerliche Familie ihr Eigen nannte. Die Familienmitglieder gehörten zur Welt der Banken und zu anderen respektablen Gesellschaftsschichten. Ein Cousin sollte Direktor des Louvre werden, Mattéo selbst wurde Generalgouverneur von Französisch Äquatorialafrika.

    Doch dann ereignete sich der Panamaskandal, „das größte finanzielle Desaster Frankreichs seit 200 Jahren", der die Finanzinstitute des Landes erschütterte und die öffentliche Meinung wachrüttelte. Nachdem Ferdinand Graf von Lesseps 1869 erfolgreich den Suezkanal vollendet hatte, wollte er einen Durchgang durch die Landmasse der beiden Amerikas schaffen und einen Kanal durch die Landenge von Panama graben. Dadurch würde der Globus erneut zu einem noch kleineren Ort werden, und dieser bereits berühmte Ingenieur würde auf ihm einmal mehr seinen Stempel hinterlassen. Doch die Dinge missrieten finanziell: Gelder wurden schlecht verwaltet oder veruntreut und Regierungsstellen wie Presse versuchten, das zu verschleiern. Graf von Lesseps und andere Prominente wurden vor Gericht gestellt, unter ihnen Gustave Eiffel, der Erbauer des berühmten und nach ihm benannten Turms. Die Kunden der Banque Ottoman von Maurice Alfassa verloren alles Geld, das sie in das Projekt investiert hatten; ebenso erging es Tausenden kleiner Sparer.

    „Mutters Papa hatte Pech im Geschäft und war ganz plötzlich vollkommen bankrott … Danach wurde das Leben natürlich recht schwierig. Da er ein sehr ehrenwerter Mann war, hatte er, statt sich aus dem Staub zu machen, alles verkauft, was ihm gehörte, um die Schulden seiner Bank zurückzuzahlen. Daher veränderte sich die familiäre Situation erheblich zum Schlechten … Jetzt, da ihr Vater ruiniert war, besaßen sie nicht länger Pferd und Wagen; wenn die Familie Freunde besuchen wollte, mussten alle zu Fuß gehen, statt in einer Kutsche zu fahren. Wenn Mutter dann mit schmutzigen Schuhen ankam, der Dreck an ihren kleinen Knöpfstiefeln klebte, mokierten sich die anderen Kinder über sie."⁴ Zu jener Zeit muss es gewesen sein, dass die rührige Mathilde Hühner hielt, um die Eier zu verkaufen, wobei sie jedoch Probleme mit dem Finanzamt bekam, da sie keine Einkommensteuer zahlen wollte.

    Insgesamt scheint Mirra jedoch eine behütete Kindheit gehabt zu haben. Ihre Mutter sagte oft, sie sei ein ziemlich wortkarges Mädchen, und selbst sollte sie später einräumen, sie sei wohl kein einfaches Kind gewesen. Obwohl Mathilde wollte, dass ihre Kinder zu den Besten der Besten gehörten und die höchsten Ideale verwirklichten, war sie intelligent genug, sie nicht zu zwingen und durch Zwang ihr mentales Wachstum zu behindern. Mirra lernte erst mit sieben Jahren lesen, und zwar erst, nachdem ihr Bruder sie wegen ihres Unwissens verspottet hatte. Erst mit neun Jahren willigte sie ein, zur Schule zu gehen. In der Zwischenzeit hatte sich gezeigt, dass sie breitgefächerte Interessen hegte. „Ich kann mich erinnern, dass ich mit acht Jahren Tennis spielen lernte. Es wurde zu einer Leidenschaft."⁵ In diesem Alter fing sie auch an, zu malen und zu zeichnen, außerdem lernte sie Klavier spielen und singen. Sie spielte auch mit einem der Navajo-Indianer, die Buffalo Bill 1889 für seine Wildwest Show nach Frankreich gebracht hatte, im Jahr der Pariser Weltausstellung und der Fertigstellung des zu jener Zeit immer noch höchst kontroversen Eiffelturms. Von diesem indianischen Freund lernte sie unter anderem, die Entfernung von herannahenden Schritten und Kutschen einzuschätzen, indem sie ihr Ohr auf den Boden legte.

    Ihre Interessen waren so breitgefächert, dass sie von ihrer strengen Mutter ob des offensichtlichen Fehlens tieferer, langfristiger Beschäftigungen gescholten wurde, sie würde niemals in irgendetwas wirklich gut sein. So stieg Mutter in die Legion jener jugendlichen Taugenichtse auf, die in ihrem Erwachsenenleben die Welt verändern.

    Mathilde schickte ihre Tochter auf eine Privatschule für die Kinder der wohlhabenden Schichten, weil sie meinte, eine öffentliche Schule sei für ihre Tochter nicht gut genug. Die Schule besaß einen sehr guten Ruf und hervorragende Lehrer. Mirra war stets unter den Besten ihrer Klasse, einfach weil sie das Wissen, das ihr vermittelt wurde, verstehen wollte, statt es passiv aufzunehmen und auswendig zu lernen. In dieser Schule schrieb sie 1893 den ersten überlieferten Text aus ihrer Feder, einen kurzen Aufsatz mit dem Titel Le sentier de Toute-à-l’heure (Der Weg des Kommenden). Er enthält den prophetischen Appell: „Kommt her zum Schönen, Guten, Wahren! Lasst euch nicht durch Trägheit und Schwäche verführen! Schlaft nicht ein in der Gegenwart: Kommt mit in die Zukunft!"⁶ Sie besuchte diese Schule von 1887 bis 1895.

    In der Zwischenzeit bereitete sich ihr Bruder Mattéo auf die Aufnahmeprüfung zur École Polytechnique vor, einer jener Pariser Eliteschulen, die die besten Mathematiker und Ingenieure im zivilen und militärischen Leben Frankreichs hervorbrachten. Zusätzlich zu seinen erfolgreichen Studien an dieser Institution sollte Mattéo einen Abschluss in Geisteswissenschaften an der nicht weniger prestigeträchtigen École Normale Supérieure machen. Mirra hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrem achtzehn Monate älteren Bruder. Als ihr Vater ihn einst übers Knie legte, um ihm das Hinterteil zu versohlen, ergriff sie seine Partei und erklärte mit aller ihr zur Verfügung stehenden Würde: „Papa, wenn du das noch einmal tust, werde ich dieses Haus umgehend verlassen! Sie konnte Mattéo jedoch auch necken, wohl wissend, dass er ein schreckliches Temperament besaß und bei der leisesten Provokation wütend werden würde. „Mein Bruder … war in seiner Jugend extrem reizbar. Ich war Expertin darin, ihn zu ärgern. Wir mochten uns beide sehr gern, aber wenn er zornig wurde, verlor er jegliche Beherrschung über sich …⁷ – wobei er sie dreimal beinahe umbrachte. Als er von seiner Mutter, die ihn anbetete, mit Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass er Mirra wirklich töten könnte, setzte er seine starke Selbstbeherrschung ein und tat es niemals wieder.

    Als Mattéo sich also auf seine anspruchsvollen Aufnahmeprüfungen vorbereitete, lernte Mirra mit ihm gemeinsam, denn sie gehörte zu jenen wenigen, die Mathematik und Zahlen faszinierend finden. Als sie die Lösung einer Aufgabe fand, die Mattéo nicht lösen konnte, rief der erstaunte Privatlehrer aus, eigentlich sollte das Mädchen die Prüfung ablegen. Als sie später von ihrer Jugend erzählte, bemerkte Mutter, sie habe im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren bereits alle Bücher in der Bibliothek ihres Vaters gelesen gehabt, und das waren etwa achthundert. Auf diese Weise entwickelte und schärfte sich ihre wache Intelligenz – so notwendig für die große Aufgabe, die vor ihr lag – und sie erwarb jene stilistische Meisterschaft in der französischen Sprache, die sie Zeit ihres Lebens auszeichnen sollte.

    Die frühe Sadhana*

    All das war ein Teil von Mirras von außen sichtbarem Leben; es waren die verifizierbaren Tatsachen von dem, was die Menschen Alltagsleben nennen. Die ganze Zeit über lebte sie jedoch ein intensives Parallel-Leben, von dem niemand etwas wusste – und niemand etwas wissen wollte. Ihr Vater, der nach außen hin ein bodenständiger Mann war und am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnahm, sich innerlich jedoch in seine ganz private Traumwelt zurückgezogen hatte, zeigte keinerlei Interesse an den Phantasien oder geheimen Innenwelten anderer, nicht einmal wenn es sich dabei um seine Tochter handelte. (Sie wird nicht oft versucht haben, sich ihm anzuvertrauen.) Für ihre positivistische Mutter waren alle ungewöhnlichen inneren Erfahrungen lediglich „geistige Störungen", welche ohne viel Federlesens vom Hausarzt zu behandeln waren.

    Ihr bewusstes inneres Leben begann, als sie fünf Jahre alt war. „Ich begann im Alter von fünf Jahren … Ich war fünf oder sechs Jahre alt; als ich sieben war, wurde es sehr ernsthaft."⁸ „Sie ging und setzte sich in einen kleinen Lehnstuhl, der eigens für sie hergestellt worden war. Es war ein sehr kleiner Sessel mit gepolsterten Armlehnen, wie man sie zu jener Zeit besaß, mit einem grau-blauen Bezugsstoff und Blumenmuster … Sie setzte sich nieder und fühlte stets dieses Bewusstsein über dem Kopf."⁹ Es gibt ein Foto von Mirra aus jener Zeit, auf dem sie neben diesem Sessel steht. In ihn zog sie sich zurück, wenn das Leben ihr zu arg zusetzte, denn dort machte sie die sehr angenehme Erfahrung vom Licht jenes Bewusstseins. Diese Erfahrung war so angenehm und so interessant, dass sie dafür bisweilen sogar einen gemeinsamen Zirkusbesuch mit ihrem Vater ausfallen ließ.

    Mutter sagte auch, ihre Sadhana habe eigentlich bereits im Mutterleib begonnen: „Als ich fünf, ja sogar als ich drei Jahre alt war, war ich bereits bewusst. Der Anfang war im Mutterleib gemacht worden."¹⁰ Sie sagte mehrmals, sie habe ihre Eltern vor der Empfängnis ausgewählt. Um das zu verstehen, muss man den Gedanken der Reinkarnation akzeptieren. „Die Wiedergeburt ist ein unverzichtbares Mittel für das Wirken einer spirituellen Evolution; sie ist die einzig mögliche wirksame Voraussetzung, der offensichtliche dynamische Prozess einer derartigen Manifestation im materiellen Universum … Die Wiedergeburt ist keine beständige Wiederkehr, sondern ein Voranschreiten, sie ist das Mittel eines evolutionären Fortschritts." (Sri Aurobindo¹¹)

    Wenn die Seele durch alle notwendigen Erfahrungen in einem gegebenen Leben gegangen ist, zieht sie sich durch einen Prozess zurück, den wir Tod nennen, und begibt sich in einer Welt zur Ruhe, in der sie die Essenz des Lebens assimiliert, das gerade zu Ende gegangen ist. Wenn gewisse Seelen im Verlaufe ihrer Evolution einen bestimmten Grad der Reife erreicht haben, oder wenn gewisse Seelen mit einer bestimmten Mission herabkommen, sind sie in der Lage, die Umstände ihrer Wiedergeburt zu wählen, das heißt in erster Linie ihre Eltern und ganz besonders ihre Mutter, aus dem einfachen und offensichtlichen Grund, dass der Körper der sich reinkarnierenden Seele im physischen und psychischen Wesen der Mutter geformt wird. Es ist so, als würde die Seele aus der Seelenwelt heraus eine Art Lichtstrahl auf die Erde senden, entzündet an der Sehnsucht der Mutter und an ihrem Ruf nach einer Herabkunft. Wir erinnern uns an Mathildes starke Sehnsucht, dass ihre Kinder die Besten der Welt werden würden. Dieser Tatsache eingedenk sowie der durch und durch praktisch-positivistischen familiären Umgebung und der physischen Robustheit von Maurice, können wir einige der Gründe erraten, warum Mutter gerade diese Eltern zu ihren Instrumenten erwählt hatte. Die praktische Bedeutung dieser Wahl wird klarer werden, je weiter unsere Geschichte sich entfaltet.

    Die junge Mirra hatte viele eigenartige Erfahrungen – manchmal fiel sie mitten in einem Satz oder in einer Geste in Trance. Es sah dann aus, als sei sie eingeschlafen. Zu jener Zeit hatte sie selbst keinerlei Erklärung für diese Art okkulter Erfahrungen, „aber die Fähigkeit war bereits vorhanden. So geschah es auch, dass sie bei einem festlichen Essen im Hause ihrer Eltern „etwas sehr Interessantes in der Atmosphäre eines Cousins wahrnahm, und zwar des Cousins, der später Direktor des Louvre werden sollte. Sie hatte ihre Gabel auf halbem Wege zum Mund geführt und erstarrte, so als wäre sie in eine Statue verwandelt worden! Man schimpfte sie heftig aus und erklärte, wenn sie sich nicht zu benehmen wisse, solle sie von derartigen Treffen fernbleiben.

    Eines Tages begann sie zu schlafwandeln und während ihrer nächtlichen Wanderungen Gedichte zu verfassen. Manchmal, wenn sie Geschichtsbücher las, wurde der Text für sie plötzlich wie durchsichtig, und sie sah dann andere Worte oder Bilder, die ihr die wahren historischen Tatsachen aufzeigten. Einmal geschah es im geräumigen Salon des Hauses am Square du Roule, in das die Familie 1886 gezogen war, dass sie ihren Freunden zeigen wollte, wie man tanzt. Da ein Anlauf außer Frage stand, sprang sie aus dem Stand in die Höhe, berührte den Boden einmal in der Mitte des Salons und landete graziös am anderen Ende des zwölf Meter langen Salons, so als sei sie durch die Luft getragen worden. Bei einem Besuch im Wald von Fontainebleau, wo Mathilde ein Sommerhaus gemietet hatte, wurde sie von ihren Spielkameraden gejagt und fiel einen steilen Abhang hinunter auf eine Straße, die einen Belag aus spitzen Schottersteinen hatte. Jeder dachte, sie müsse sich zumindest etwas gebrochen haben, doch sie war sanft gefallen „sehr langsam, als sei ich getragen worden". Und so fühlte sie sich stets: Als würde sie getragen.

    „Interessanterweise gab es dabei nichts Mentales, ich wusste nichts von der Existenz dieser [okkulten] Dinge. Ich wusste nicht, was Meditation ist, ich meditierte, ohne auch nur die leiseste Idee davon zu haben, was das war. Ich wusste nichts, absolut nichts. Meine Mutter hatte aus all dem ein völliges Tabu gemacht, diese Themen durfte man nicht anschneiden, sie würden einen nur verrückt machen."¹² „Ich praktizierte Okkultismus, als ich zwölf war. Doch ich muss sagen, dass ich niemals Angst hatte. Ich hatte vor nichts Angst."¹³ Furcht, davor sollte sie später wieder und wieder warnen, hatte im Okkultismus keinen Platz; sie ist sogar außerordentlich gefährlich, weil sie genau das anzieht, vor dem man sich fürchtet.

    Nach und nach nahmen Mirras Erfahrungen an Umfang und Bedeutung zu. Im Alter von dreizehn Jahren trat sie etwa ein Jahr lang jede Nacht aus ihrem Körper heraus. „Sobald ich zu Bett gegangen war, schien es mir, als würde ich aus meinem Körper heraustreten und über das Haus hinweg aufsteigen, dann über die Stadt [Paris], sehr hoch hinauf. Bei diesen Gelegenheiten sah ich mich gewöhnlich in ein wundervolles goldenes Kleid gehüllt, das viel länger war als ich selbst; und in dem Maße, wie ich höher stieg, wurde das Kleid immer länger und bauschte sich um mich, so dass es schließlich eine Art riesiges Dach über der Stadt bildete. Dann sah ich Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen, Kranke und Unglückliche, die von überall her kamen. Sie versammelten sich unter dem ausgebreiteten Kleid, baten um Hilfe, berichteten von ihrem Elend, erzählten ihre Leidensgeschichten, ihre Nöte. Als Antwort darauf weitete sich das Kleid, geschmeidig und sehr lebendig, zu jedem Einzelnen hin aus, und sobald sie es berührt hatten, waren sie getröstet und geheilt und gingen glücklicher und stärker in ihren Körper zurück, als sie ihn verlassen hatten. Nichts erschien mir wunderbarer, nichts konnte mich glücklicher machen. All die Aktivitäten des Tages erschienen mir langweilig und farblos und ohne jedes wirkliche Leben, verglichen mit dieser nächtlichen Aktivität, die das eigentliche Leben für mich darstellte."¹⁴

    „Wann und wie ich der Mission bewusst wurde, die ich auf Erden zu vollbringen haben würde? Es ist schwierig zu sagen, wann das geschah. Es ist, als wäre ich damit geboren worden und als wäre mit dem Wachstum von Gehirn und Verstand auch die Präzision und Vollständigkeit dieses Bewusstseins gewachsen. Zwischen elf und dreizehn enthüllte eine Reihe psychischer und spiritueller Erfahrungen nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die Fähigkeit des Menschen, sich mit Ihm zu vereinigen, Ihn vollständig in Bewusstsein und Aktion zu verwirklichen, Ihn in einem göttlichen Leben auf Erden zu manifestieren. Das wurde mir, zusammen mit einer praktischen Disziplin zur Umsetzung dessen, von verschiedenen Lehrern übermittelt, während der Körper schlief; einige von ihnen traf ich später auf der physischen Ebene wieder.

    Später, als die innere und äußere Entwicklung fortschritt, wurde die spirituelle und seelische Beziehung zu einem dieser Wesen immer deutlicher und häufiger. Obwohl ich zu jener Zeit wenig über indische Philosophie und Religion wusste, wurde ich veranlasst, es Krishna zu nennen, und von da an war mir bewusst, dass mit diesem Wesen (von dem ich wusste, dass ich es eines Tages auf Erden treffen würde) das göttliche Werk getan werden würde."¹⁵ Wir werden später sehen, wie Mirra diesen „Krishna" traf.

    So wuchs es auf, dieses stille, wohlerzogene, intelligente und talentierte Mädchen de bonne famille, und niemand wusste von jenen ereignisreichen Erfahrungen, mit denen es Tag und Nacht beschäftigt war – ebenso wenig wie jemand ahnte, welch drastischen Schritt im Leben es bald unternehmen sollte.


    *Laut Geburtsurkunde um 10:15 Uhr.

    *Der Vorname Mira Pintos wird mit einem ‚r‘ geschrieben, während der Vorname von Mirra Alfassa laut Geburtsurkunde mit zwei ‚r‘ geschrieben wird. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass Mutter selbst ihren Namen manchmal mit einem ‚r‘ schrieb (z.B. in dem Faksimile, das in Mona Sarkars Douce Mère I, S. 6 reproduziert wurde), und dass Sri Aurobindo, gewiss ein Pedant in Rechtschreibungsangelegenheiten, es in einem Mantra, das seinen und ihren Namen enthielt (siehe das Faksimile in On Himself [SABCL 26] S. 512) ebenfalls mit einem ‚r‘ schrieb.

    *Das französische Wort hôtel bezeichnet auch ein palastartiges Gebäude, häufig an einem großen Boulevard.

    *Sadhana: spirituelle Praxis oder Disziplin.

    Kapitel zwei:

    Künstlerin unter Künstlern

    Für eine Tochter aus besserem Hause schickte es sich nicht, Malerei als Beruf zu wählen. Man würde es tolerieren, wenn sie Aquarelle malte oder Fächer und Wandschirme dekorierte, doch keine Leinwand-Gemälde! Das kam im Katalog der Konventionen des höheren Bürgertums nicht vor.¹

    - Jean-Paul Crespelle

    Die Académie Julian

    Mirra legte 1893, im Alter von fünfzehn Jahren, ihr Schulexamen ab und schrieb sich bei einem Kunstatelier ein, an der Académie Julian, einer von vielen privaten Kunstschulen in Paris. Die Kunstkurse besuchte sie vier Jahre lang. „Der Name der Institution, zu dem das Atelier gehörte, ist in ihren [Mutters] aufgezeichneten Gesprächen oder in irgendwelchen verfügbaren Dokumenten nicht genannt. Er kann jedoch mit einiger Gewissheit aus verschiedenen Tatsachen abgeleitet werden."²

    Dieser wichtige, selbst gewählte Schritt in ihrem Leben blieb ganz gewiss nicht ohne Auswirkungen auf ihre Familie. Ihr Vater mag sich darum keine allzu großen Sorgen gemacht haben, ihre Mutter dafür umso mehr; für Mathilde, wie für jedes respektable Mitglied des Bürgertums, gehörten Kunst und Künstler zu einer ominösen, fragwürdigen sozialen Unterschicht am Rande der Gesellschaft. Künstler gehörten zu la bohème, sie führten „das Leben der Bohème", ein Begriff, den Giacomo Puccini populär machte, als er eine seiner Opern so betitelte (1896); ein Begriff, mit dem man eine Welt bezeichnete, die den Moralcode der Gesellschaft nicht anerkannte.

    Es gibt keine öffentlich zugänglichen Texte, die diese Wendung in Mirras Leben dokumentieren, außer einer Passage in einem Theaterstück, das sie viele Jahre später schreiben sollte. „Hineingeboren in eine durch und durch respektable, bürgerliche Familie, in der die Kunst als Freizeitbeschäftigung, nicht als Beruf, und Künstler als nicht gerade vertrauenswürdige Personen betrachtet wurden, die zu Ausschweifungen neigten und dem Geld gegenüber eine gefährliche Verachtung hegten, fühlte ich, vielleicht aus Widerspenstigkeit, das zwingende Bedürfnis, Malerin zu werden."³ Das ist ohne Zweifel ein Hinweis auf ihre eigene Erfahrung.

    Mirra fühlte sich nicht nur zur Kunst hingezogen, die sie bereits seit früher Kindheit praktizierte*, sie distanzierte sich auch auf dramatische Weise „aus Widerspenstigkeit" von der trostlosen, seichten und scheinheiligen bürgerlichen Welt, in der sie aufgewachsen war, „in jenem Zeitalter eines extremen, praktischen Spießbürgertums, dem Viktorianischen Zeitalter [in England] beziehungsweise dem Second Empire [Zweites Kaiserreich] in Frankreich"⁴. Man kann die Reaktion ihrer Eltern nur erraten, vermutlich geschah es jedoch in dieser Zeit, dass sie ihre modischen Stiefeletten übermalen musste, weil das Leder gebrochen war und sie kein Geld hatte, ein neues Paar zu kaufen.

    Die wichtigste Malschule in Paris war die angesehene École des Beaux-Arts. Ein erfolgreich abgeschlossenes Studium an dieser Institution war eine Vorbedingung für jeden, der eine Karriere in der Welt der Kunst anstrebte. Und doch scheint es, dass die Beaux-Arts nicht in dem Maße erste Wahl war, wie sie es eigentlich hätte sein sollen, was die Lehre und die Kunst selbst betraf, trotz aller Lorbeeren, mit denen sie von offizieller Seite überhäuft wurde. Ihre Lehrer, hoch geschätzte, mit öffentlichen Preisen dekorierte Maler, erschienen häufig nicht, wenn sie ihre Kurse abhalten sollten, weil sie mit ihren eigenen Angelegenheiten und mit den Privatschulen, die sie nebenbei unterhielten, zu beschäftigt waren. Ergebnis war, dass sich die Beaux-Arts zu einem Ort gewandelt hatten, an dem raue Kameraderie und handfeste Späße nicht selten mehr gepflegt wurden als das Studieren und Kontemplieren von Harmonie und Schönheit. Sie war auch berüchtigt für ihre bizutage, der französische Begriff für „Streiche spielen", piesacken oder schikanieren; womit das peinigende, erniedrigende Ritual bezeichnet wurde, jemanden zu drangsalieren und lächerlich zu machen, dem alle Neuankömmlinge unterworfen waren.⁵ Vor 1897 waren Frauen zu den Beaux-Arts jedoch nicht zugelassen, außerdem war Mirra nicht an einer künstlerischen Karriere interessiert, sondern an der Ausübung, Beherrschung und Freude an der Kunst selbst.

    Die Académie Julian, „die einzige ernst zu nehmende Kunstschule für Frauen", war 1868 vom Maler Rodolphe Julian gegründet worden und besaß mehrere Ateliers in Paris. Wie die Académie Suisse und andere Pariser Schulen dieser Art, war sie ein Ort großer Freiheiten. Es gab keine Aufnahmeprüfungen, man musste die eigenen Arbeiten nicht unbedingt zur Würdigung oder Korrektur vorlegen, und die Lehrer zwangen niemandem ihre Ansichten oder ihre Autorität auf. (Außerdem waren die Gebühren nicht sehr hoch.) Vielmehr war es so, dass die allgemeine Atmosphäre des Ortes, ganz und gar der Malerei hingegeben, selbst als Lehrer wirkte. Man arbeitete, man diskutierte, man verglich, man besuchte dieselben Cafés und Restaurants, man wurde zu einem Mitglied des Berufsstandes und so mit den Mitstudierenden und angehenden Künstlern anderer Institutionen bekannt. Dort standen einem auch die Modelle zur Verfügung, die viel zu teuer waren, um sie privat bezahlen zu können – wahrscheinlich im gleichen Rhythmus wie an der Académie Suisse: drei Wochen standen (ältere) Männer Modell für mythologische und biblische Figuren, dann standen eine Woche lang Frauen Modell für die Venus- und Jungfrauen-Darstellungen.

    Wie geschah es, dass Mirra Henri Morisset begegnete, der acht Jahre älter war als sie? Sie wurden einander von ihrer Großmutter Mira vorgestellt, denn diese kannte Henris Vater Edouard Morisset seit vielen Jahren. Edouard war einer von jenen Künstlern, bei denen Mira, die Großmutter, in früheren Jahren die „nach fotografischer Vorlage gemalten" Portraits der ägyptischen Prinzessinnen in Auftrag gegeben hatte. Es mag auch sein, dass Mirra Henri, der bereits ein Maler von gefestigtem Ruf war, an einem der vielen Orte begegnete, wo die Künstlertruppe sich traf. Er hat in der Tat die Académie Julian besucht, während er gleichzeitig Schüler des berühmten Gustave Moreau an der Beaux-Arts war.

    Henri und Mirra heirateten am 13. Oktober 1897 standesamtlich im Rathaus des VIII. Arrondissements. Sie zogen in die Rue Lemercier Nr. 15, hinter der Porte de Clichy und ganz in der Nähe des Montmartre im Herzen des Pariser Künstlerlebens gelegen. Wie man auf vielen Gemälden aus jener Zeit erkennen kann, sah das quartier damals ganz anders aus als heute.

    Impressionismus

    Die moderne Kunst ist ein noch ziemlich unbeholfener Versuch, etwas anderes als die einfache physische Erscheinung auszudrücken.

    - Mutter

    Gemeinsam mit Mirra landen wir inmitten eines Aufruhrs in der Welt der Kunst, dessen Auswirkungen man heute noch zu spüren bekommt, obwohl sein wirklicher Umfang und seine tiefe Bedeutung noch immer nicht ausreichend erkannt wurden. Wir sprechen von jener revolutionären Bewegung in der Kunst, die man Impressionismus nennt.

    Um 1860 begann eine Gruppe von Malern, aus Gründen, die zu formulieren sie zumeist selbst noch nicht in der Lage waren, auf eine Art und Weise zu malen, die allen standardisierten, akademischen Regeln der Zeit zuwiderlief. Statt Szenen aus der Bibel, der griechischen, römischen oder traditionellen europäischen Geschichte zu malen, wählten sie als Motiv das tägliche Leben, so wie sie es erlebten. Sie malten Szenen aus Paris, von seinen Straßen, Kirchen und Monumenten, seinen Cafés und Tanzsälen mit ihren Kunden, seinem Zirkus- und Theaterleben, seinen volkstümlichen Charakteren; und sie zogen hinaus aufs Land, so wie Mirra Alfassa* es schließlich auch tun sollte, und malten – ganz verzückt – den unendlichen, stets sich wandelnden Reichtum an Landschaften, Flussansichten, kurz an allem, was ihrem Auge schön und malbar erschien.

    Ein Damm war gebrochen. Die künstliche bürgerliche Welt wurde infrage gestellt und zurückgewiesen, man stürzte sich hinein in die Realität, so wie man sie direkt und ursprünglich erfuhr, in diesem Fall durch das Auge des Künstlers. Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hatte das Erbe einer europäischen Kastengesellschaft angetreten, die ebenso strikt unterteilt war wie diejenige Indiens. Zu Zeiten des Ancien Régime, mit seinen Wurzeln im Mittelalter, bestand die Gesellschaft aus der Klasse des Klerus (brahmin), des Adels (kshatriya), des Handels (vaishya) und der einfachen Arbeiter (shudra), von denen die meisten Leibeigene, mit anderen Worten Sklaven waren. Dank der philosophischen Evolution des europäischen Geistes in der Renaissance, der Aufklärung und der Französischen Revolution hatten die herrschenden Klassen des Klerus und des Adels die meisten ihrer Privilegien verloren, und die bürgerliche Klasse hatte sie übernommen. Unser Blick auf die Umgebung, in der die junge Mirra aufwuchs, hat uns eine Vorstellung vom Leben des Bürgertums vermittelt.

    Diese neue herrschende Klasse hatte jedoch keine eigene Geschichte, denn die Geschichte Europas war, zumindest nach Auffassung der prämodernen Historiker, von der Kirche und den blaublütigen Familien der Könige, Grafen und Barone geschrieben worden. Das Bürgertum hatte keinerlei historische oder mythologische Wurzeln; es bestand aus Emporkömmlingen, die ihre Vergangenheit von den Klassen borgen mussten, die zuvor die Macht innegehabt hatten. Dieses Ausborgen trug den starken Geruch von Nachahmung, Plagiat, Unnatürlichkeit und führte zu einer Art von öffentlicher Moral, die aufrichtige Menschen als künstlich und scheinheilig empfanden. „Alles war erlaubt, unter der Bedingung, dass eine Fassade formaler Würde aufrechterhalten werden konnte."⁷ Gegen dieses Fehlen von Aufrichtigkeit, von Authentizität der sozialen Sitten und Gebräuche hatte Mirra revoltiert, und das Fehlen derselben Qualitäten im künstlerischen Erleben war es auch, wogegen die Impressionisten revoltiert hatten; beide Haltungen waren sowohl mit ihrer Person als auch mit den Persönlichkeiten jener großen Maler eng verbunden, die als Impressionisten bekannt sind.

    Am Ende sämtlicher Mythen und Geschichten sah sich die Menschheit stets mit sich selbst konfrontiert. Mirra wurde zu einer Zeit geboren, da sich das menschliche Wesen nach innen kehrte und alles zuvor Dagewesene einer eingehenden Überprüfung unterwarf. Das geschah in der Literatur (Proust, Rimbaud, Mallarmé), Philosophie (Nietzsche und Bergson), Psychologie (Freud und Jung), Biologie (Darwin, Pasteur) und in den Naturwissenschaften (die Curies, Planck, Lorentz, Einstein). Das unglaubliche 20. Jahrhundert, das größte Spektakel der Geschichte, wurde vorbereitet. Der Impressionismus war – dank der Leidenschaft für die Ehrlichkeit der Wahrnehmung bei jener Gruppe aus den unterschiedlichsten Charakteren, die alle einen Anflug von Genialität besaßen – die erste Bewegung, die zu einer Ära des grundlegenden Wandels führte, dessen Ende noch immer nicht abzusehen ist.

    Mutter sagte mehr als einmal, dass alle großen Kulturperioden der Geschichte von „Seelenfamilien eingeläutet werden, die sich zu diesem Zweck inkarnieren. „Es gibt große Familien von Wesen, die an der gleichen Aufgabe arbeiten, die sich in gewisser Zahl versammelt haben und sozusagen in Gruppen kommen.⁸ „Vom okkulten Standpunkt aus gesehen sind es fast immer die gleichen Kräfte und die gleichen Wesen, die sich zu allen Blütezeiten künstlerischer Schönheit auf Erden inkarnieren … Es sind die gleichen Kräfte an der Arbeit, und sie sind ihren Neigungen entsprechend in Gruppen aufgeteilt … Sie treffen an einem bestimmten Ort zusammen, und an diesem Ort entwickelt sich eine neue Zivilisation oder ein bestimmter Fortschritt in einer Zivilisation, oder eine Art von Überschäumen, von Aufkeimen und Aufblühen der Schönheit, wie in den großen Zeitaltern Griechenlands, Ägyptens, Indiens, Italiens, Spaniens …⁹ Wenn das wahr ist, dann gibt es keinen Zweifel, dass die Impressionisten eine solche Gruppe waren. Man findet dieses indirekt bestätigt durch einen neutralen Zeugen wie Jean-Paul Crespelle, der schreibt: „Ein Aspekt im Leben der Impressionisten war ihre Neigung, um nicht zu sagen ihr Bedürfnis, zusammen zu arbeiten, ja sogar zusammen zu leben, trotz ihrer Differenzen … Alle hatten das Bedürfnis zu wissen, was die anderen taten, um ihre Arbeiten vergleichen und ihre Ideen austauschen zu können.¹⁰

    Das Künstlerleben

    Zehn Jahre lang sollte Mirra als Künstlerin unter Künstlern leben. „Ich kannte sie alle, die größten Künstler des [ausgehenden] letzten oder beginnenden jetzigen Jahrhunderts."¹¹ „Alle Künstler, die ich damals kannte, waren wirkliche Künstler, sie waren ernsthaft und schufen bewundernswerte Dinge, die auch bewundernswert blieben. Es war die Zeit der Impressionisten, es war die Zeit Manets. Es war eine wunderschöne Zeit, sie schufen wunderschöne Dinge."¹²

    Henri und Mirra scheinen recht gut gestellt gewesen zu sein, vielleicht mit einiger Hilfe von Vater Edouard. In der Rue Lemercier mieteten sie im ersten Stock eine Wohnung, die durch eine kleine Brücke mit ihrem glasgedeckten Atelier im „ziemlich großen" Garten verbunden war.

    „Als [Mirra] mit diesem Maler verheiratet war, fuhr sie nach Beaugency an der Loire in die Ferien, dort besaßen sie ein Landhaus. Es ist ein wunderschöner Ort, und sie fertigten dort einige Gemälde an. Es liegt in einer Region Frankreichs, in der zu Zeiten der Renaissance die Könige ihre Schlösser hatten, und diese Schlösser können heute als Denkmäler besucht werden. Eines Tages besuchte sie eins von diesen Schlössern – ich glaube es war das Schloss in Blois – und dort hing eine Reihe von Portraits der königlichen Familie, gemalt von [François] Clouet. Sie blieb wie angewurzelt vor einem dieser Portraits stehen und sagte [laut]: ‚Aber warum hat er mir diese Frisur verpasst?‘ Dann merkte sie, dass die Leute sie anstarrten, und sie redete nicht weiter. Aber sie war in einem früheren Leben diese Dame gewesen, und vor dem Gemälde wurde die ganze Erinnerung wieder lebendig; sie erinnerte sich, dass sie jenes Kleid nicht getragen hatte, dass ihre Haare nicht so frisiert waren. Und sie fügte hinzu [als sie diese Geschichte später erzählte]: ‚Ich hörte auf zu reden, denn sonst hätten die Leute gedacht, ich sei verrückt!‘ "¹³ Jene Dame in einer früheren Existenz war Margarete von Valois (1553-1615), die hoch kultivierte Königin von Frankreich und Navarra. „Das war ganz bestimmt ich. Das war mein Portrait, das war ich!"¹⁴ Dieses Portrait befindet sich heute in der Nationalbibliothek in Paris.

    Mirra Morrisset in Paris, ca. 1895

    Dann finden wir Mirra in Pau wieder, einer Stadt in Südfrankreich mit einem grandiosen Ausblick auf die Pyrenäen, dem Gebirge, das Frankreich von Spanien trennt. Henri war dorthin eingeladen worden, um eine Reihe von Wandgemälden in der Kirche des Hl. Jakobus des Älteren anzufertigen. Er malte deren vier: Die Berufung von Jakobus dem Fischer, Der Heilige Jakobus predigt zu den Massen, Das Märtyrertum des Hl. Jakobus und Die Apotheose des Hl. Jakobus. Sie alle gibt es dort noch – auch wenn sie „mit der Zeit ein wenig verblichen" sind, wie kürzlich ein Augenzeuge berichtete – und sie tragen Henri Morissets Signatur sowie das Datum 1898. Im Bénézit, einem französischen Künstlerverzeichnis, wird Henri Morisset vor allem wegen dieser Wandgemälde erwähnt.

    Der Hauptort für die Verehrung des Hl. Jakobus d. Ä. war Santiago de Compostela – wie Rom und Jerusalem im Mittelalter Zielort einer berühmten religiösen Pilgerfahrt. Santiago de Compostela ist eine Stadt nahe der Nordwestküste Spaniens, und die Legende besagt, dass der Körper des Hl. Jakobus d. Ä., Bruder des Apostels Johannes und einer der Hauptapostel Christi, auf wundersame Weise an jener Küste angekommen sei. Viele Tausend Pilger strömten zu Fuß aus ganz Europa dorthin, um Buße zu tun oder in Santiago etwas zu erbitten. Sie folgten in jenen ziemlich unsicheren Zeiten festgelegten, teilweise geschützten Wegen, und Pau lag an einem der Wege, die über den Somport-Pass durch die Berge führten; dieser Weg wurde camino frances oder französischer Weg genannt.

    Mirra arbeitete mit ihrem Mann gemeinsam an dem Gemälde mit dem Titel Die Apotheose des Hl. Jakobus. Es stellt eine Szene aus der Schlacht von Clavijo dar, die 844 zwischen den spanischen Christen und den muslimischen Mauren ausgefochten wurde, welche damals einen großen Teil der Halbinsel besetzten. Die Schlacht fand statt, weil dem Kalifen von Cordoba einhundert versprochene Jungfrauen nicht geschickt worden waren. Im entscheidenden Moment erschien der Hl. Jakobus in einer glänzenden Rüstung und „in goldenem Licht auf einem weißen Pferd, fast wie Kalki*, an der Seite der Christen, griff die Ungläubigen an und errang so den Sieg für die Christen. Seit damals ist Santiago Matamoro [der Hl. Jakobus, der die Mauren tötete] der Schutzheilige Spaniens.¹⁵ „Ich war es, die die erschlagenen und kämpfenden Mauren malte, sagte Mutter später, „weil ich nicht hinaufklettern konnte. Man musste zum Malen hoch auf eine Leiter klettern. Das war zu schwierig, daher erledigte ich die Sachen am unteren Rand."¹⁶

    Es wird noch einen weiteren Grund dafür gegeben haben, dass sie nicht auf die Leiter steigen wollte, die Tatsache nämlich, dass sie schwanger war. Ihr Sohn André wurde am 23. August 1898 geboren. Sehr bald nach seiner Geburt begann sie, an einer „Wanderniere" zu leiden und musste fünf Monate lang das Bett hüten. In diesen Monaten las sie nach eigenen Angaben Hunderte von Büchern und entwickelte aus purer Langeweile ihre okkulten Fähigkeiten. Eine ihrer Übungen bestand darin, ihren feinstofflichen Körper derart auszudehnen, dass sie erkennen konnte, was in den umliegenden Räumen geschah. Auf diese Weise gelang es ihr sogar, unsichtbar im Atelier anwesend zu sein.

    Der kleine André war von diesem Atelier fasziniert, „das ich als den wunderbarsten Ort auf der ganzen Welt betrachtete",¹⁷ mit seinen Glasdächern, seinen Farben, seinem Geruch nach Ölfarben, Terpentin und Holz und den vielen interessanten Menschen, die seine Eltern besuchten. Noch sehr spät in seinem Leben erinnerte er sich daran, dass er einst einer Madame Fraya vorgestellt wurde, „einer sehr hübschen Frau mit einem großen Hut und einer sehr angenehmen Art zu sprechen". Madame Fraya war Hellseherin, sie wurde so berühmt, dass die meisten großen Politiker ihrer Zeit – Briand, Clemenceau, Jaurès, Daladier, sogar Präsident Poincaré – sie konsultierten und ein Buch über sie geschrieben wurde, Une voyante à l’Élysée (Eine Hellseherin im Élysée, dem Präsidentenpalast von Paris).*

    André wuchs im Wesentlichen in Beaugency bei den Schwestern seines Vaters, bei seinem Großvater Edouard und bei seiner Großmutter auf. „Was mich am meisten beeindruckte, waren die Besuche, die meine Eltern mir in ihrem Auto abstatteten. Es war ein Richard-Brasier [ein kurzlebiges Modell aus dem Anfang des Jahrhunderts], und es brauchte kein Nummernschild, weil es nicht mehr als dreißig Stundenkilometer fahren konnte … Meine Eltern hatten immer ein paar Fahrräder dabei, ‚für den Fall der Fälle‘. Auf ihrer ersten, 150 km langen Reise nach Beaugency brach tatsächlich das Lenkgetriebe nach fünfzig Kilometern in Étampes, und das Auto kam erst in einer Bäckerei zum Stehen. Sie blieben über Nacht dort, benutzten die Fahrräder zum Erkunden des Ortes und fuhren am nächsten Tag weiter, nachdem das Auto vom Schmied des Ortes repariert worden war."¹⁸ Man möge bedenken, dass Fahrräder zu jener Zeit fast ebenso neumodisch waren wie Automobile. Der pneumatische Fahrradreifen wurde von John Dunlop erst 1888 auf den Markt gebracht; zusammen mit einem verbesserten Sicherheitsstandard machte dieser das Fahrradfahren plötzlich zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung.

    Gemälde von Mirra Alfassa wurden von der Jury des Salon de la Société Nationale des Beaux-Arts angenommen. Das war die damals bedeutendste offizielle Kunstausstellung in Paris, um nicht zu sagen in der Welt, mit nicht weniger als dreitausend ausstellenden Künstlern pro Ausstellung. Mirras Bilder wurden 1903, 1904 und 1905 ausgestellt. Ihre Titel waren, laut Katalog: Dans l’Atelier und Salon (1903), Nature morte und Vestibule (1904), Bibelots und La console (1905).

    Es lag nicht in ihrer Absicht, eine Karriere als Künstlerin aufzubauen und berühmt zu werden – sie bezeichnete sich selbst als „sehr durchschnittliche Künstlerin –, und man kann davon ausgehen, dass ihr Ehemann die erforderlichen Kontakte zu den Mitgliedern der Jury aufnahm. Sie betrachtete das ganze Geschäft mit durchdringendem, ironischen Blick und bemerkte später bei einer bestimmten Gelegenheit: „Das erinnert mich an die jährliche Eröffnung der Kunstausstellung in Paris, wenn der Präsident die Bilder betrachtet und sehr eloquent bemerkt, dass es sich bei dem einen um eine Landschaft und bei dem anderen um ein Portrait handelt und mit dem Gestus eines äußerst intimen, tief schürfenden Kunstkenners die allergrößten Plattitüden von sich gibt. Die Maler wissen sehr wohl, wie albern diese Bemerkungen sind, und doch lassen sie keine Gelegenheit aus, jene Würdigung ihres eigenen Genies durch den Präsidenten zu zitieren.¹⁹ Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Impressionisten, die fortschrittlichsten Künstler ihrer Zeit, keinen Platz im Salon fanden und ihre eigenen Ausstellungen organisieren mussten. Anerkennung in der Welt der öffentlichen Instanzen und der Kunstkritik sollten sie erst in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg finden.

    Mirra scheint Auguste Rodin, den großen Bildhauer, ziemlich gut gekannt zu haben, denn sie sollte später erzählen, wie er einst ihren Rat in einer affaire de coeur suchte: „Wie kann man verhindern, dass zwei Frauen aufeinander eifersüchtig sind? Bevor er seine Statuen in Marmor schuf oder in Bronze goss, formte er sie gewöhnlich aus Ton. Um zu verhindern, dass die Tonmodelle austrockneten und sich verzogen, wenn der Meister für ein paar Tage abwesend war, mussten sie in feuchte Tücher gehüllt und diese Tücher täglich mit Wasser besprenkelt werden. Sowohl seine Frau als auch sein „Lieblingsmodell besaßen den Schlüssel zum Atelier und beide Rivalinnen sprenkelten Wasser auf die Tonmodelle, obwohl es für seine Frau, die als Zweite kam, offensichtlich sein musste, dass die Arbeit bereits getan war. Ergebnis war, dass Rodin bei seiner Rückkehr erleben musste, dass der Ton aufgeweicht und die Arbeit ruiniert war. (Mutter erinnerte sich nicht, welchen Rat sie ihm gegeben hatte.)

    Rodin war vierzig Jahre älter als Mirra. „Er war ein alter Mann, auch zu jener Zeit war er schon alt. Er war großartig. Er hatte den Kopf eines Fauns, eines griechischen Fauns. Er war klein, ziemlich gedrungen, vierschrötig. Er hatte sehr kluge Augen. Er war bemerkenswert ironisch und ein wenig … Er fand das Problem amüsant, hätte es jedoch gleichzeitig vorgezogen, seine Tonmodelle unversehrt vorzufinden."²⁰

    Ein anderer Künstler, den Mirra offenbar gut kannte, war Henri Matisse. Er war schließlich gleichzeitig mit Henri Morisset Schüler von Gustave Moreau an der Beaux Arts gewesen. Sie hatte eine sehr hohe Meinung von Matisse als Maler, und sie berichtet von einem wichtigen Moment in der schnellen Entwicklung post-impressionistischer Kunst.

    Matisse, so sagt sie (ohne ihn namentlich zu nennen), mühte sich als Maler redlich, doch er erlitt das Schicksal so vieler Pariser Künstler zu Beginn ihrer Karriere: Er konnte seine Arbeiten nicht verkaufen, was bedeutete, dass er hungern musste. Eines Tages brachte jemand, der ihm helfen wollte, einen Kunsthändler in sein Atelier. Der Kunsthändler war von dem, was er sah, nicht besonders beeindruckt, bis er eine Leinwand erblickte, auf der Matisse nach jeder Malsitzung die Farbreste seiner Palette verschmierte und dabei seiner Fantasie freien Lauf gelassen hatte. Der Kunsthändler, auf der Jagd nach neuen Sensationen, wurde ganz ekstatisch: „Von dieser Art können Sie mir so viele Bilder geben, wie Sie wollen, zwanzig, dreißig im Monat, ich werde alle verkaufen und Sie berühmt machen!" Und berühmt wurde Matisse, als der erste und vielleicht differenzierteste Maler einer neuen Schule, die den Namen Fauvismus trug.²¹

    Später, als sie zu den Jugendlichen der Sri Aurobindo Ashram-Schule sprach, hielt Mutter oftmals Rückschau auf ihre Jahre unter den Pariser Künstlern. Sie erklärte die Rolle der Fotografie beim plötzlichen Übergang von den mittelmäßigen Kunstschöpfungen des Second Empire zum ekstatischen Sprung hinein in die direkte künstlerische Wahrnehmung der Impressionisten. Sie stellte Betrachtungen an über die ungezügelte Entwicklung der Malerei im Gefolge des Impressionismus und unterstrich, wie der Horror des Großen Krieges den Sinn für Schönheit und für die Erschaffung von Schönheit in all ihren Aspekten grundlegend erschüttert hatte.

    Auf die Frage: „Warum ist moderne Kunst so hässlich?, antwortete Mutter: „Ich glaube der Hauptgrund ist, dass die Menschen immer fauler werden und nicht arbeiten wollen. Sie wollen produzieren, bevor sie Übung haben, sie wollen wissen, bevor sie studiert haben, und sie wollen berühmt werden, bevor sie irgendetwas Wertvolles geschaffen haben.²² Aber: „Um euch die Wahrheit zu sagen, jetzt befinden wir uns wieder auf dem aufsteigenden Ast. Wirklich, ich glaube, wir sind in die Tiefen von Zusammenhanglosigkeit, von Absurdität und Hässlichkeit gelangt – von der Vorliebe für das Schäbige und Hässliche, das Schmutzige, das Ungeheuerliche. Wir sind, glaube ich, ganz bis auf den Grund gegangen … Es gibt Anzeichen dafür, dass wir wieder hinaufsteigen. Ihr werdet sehen, in fünfzig Jahren werden wir vielleicht wieder schöne Dinge anschauen können."²³ Das sagte sie 1951.

    Einige Jahre später bemerkte sie: „Als ich einst die Gemälde von Rembrandt, von Tizian oder Tintoretto, von Renoir, von Monet betrachtete, fühlte ich eine große ästhetische Freude. Diese ästhetische Freude fühle ich jetzt nicht mehr … Jenes subtile Etwas, das sich als wahre ästhetische Freude äußert, ist verschwunden, ich fühle es nicht mehr. Natürlich bin ich weit davon entfernt, es zu erleben, wenn ich die Dinge betrachte, die sie heute machen. Doch es ist nichtsdestotrotz etwas dahinter, was die frühere [Freude] verschwinden ließ. Vielleicht ist es so, dass wir in der Lage sein werden, die Formel einer neuen Schönheit zu finden, wenn wir nur eine kleine Anstrengung in Richtung Zukunft machen. Das wäre interessant.

    Gerade kürzlich erst empfing ich diesen Eindruck, es ist nichts, das schon lange da wäre. Ich habe versucht, mit einem äußersten Maß an gutem Willen [klassische Gemälde anzuschauen] und dabei alle möglichen Vorlieben, Voreingenommenheiten, Gewohnheiten, den alten Kunstgeschmack und all das beiseitezulassen. Wenn ich all das zurückgewiesen habe und dann ihre Gemälde anschaue, gelingt es mir dennoch nicht, irgendein Vergnügen dabei zu empfinden. Sie bereiten mir keines. Manchmal rufen sie eine Aversion in mir hervor, vor allem jedoch den Eindruck von etwas, das nicht wahr ist, einen unangenehmen Eindruck von Unaufrichtigkeit. Doch ganz kürzlich geschah es, dass ich plötzlich den Eindruck von etwas ganz Neuem hatte, von etwas aus der Zukunft, das drängte, drängte, das sich zu manifestieren suchte, sich auszudrücken suchte und es noch nicht konnte, etwas, das ein immenser Fortschritt sein wird gegenüber allem, was bisher gefühlt und ausgedrückt wurde. Zur gleichen Zeit wurde die Bewusstseinsformation geboren, die sich diesem neuen Ding zuwendet und es erfassen möchte. Das wird vielleicht interessant."²⁴

    Mirra, die immer bewusster und somit immer sensibler wurde, war sich auch überaus deutlich der Spannungen in all den kreativen Menschen, denen sie begegnete, bewusst, seien es Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker, Tänzer oder was auch immer, eine Spannung, die durch die Diskrepanz zwischen dem Streben nach einem künstlerischen Ideal und den niederziehenden Bedürfnissen des Körpers, den unteren Schichten des Wesens und dem Alltagsleben in einer allzu menschlichen Welt entstand. „Wenn man den Künstler bei der Arbeit sah, lebte er in großartiger Schönheit, doch wenn man dann den gleichen Herrn zu Hause erlebte, hatte er nur einen sehr begrenzten Bezug zu dem Künstler, der er war, und wurde im Allgemeinen zu einem sehr vulgären, sehr gewöhnlichen Mann. Viele waren so, da bin ich sicher. Doch jene, die [innerlich] geeint waren, in dem Sinne, dass sie ihre Kunst wirklich lebten, sie waren nicht so, sie waren großzügig und gut."²⁵

    Die frühe Sadhana (Fortsetzung)

    Wenn Mutter etwas aus jener Periode ihres Lebens unterstrich, dann ist es die Tatsache, dass sie eine unverbesserliche Atheistin, Positivistin und Materialistin war, ebenso wie ihre Eltern. Sie akzeptierte nur, was sie berühren und sehen konnte, und sie suchte nirgendwo anders nach Erklärungen als auf der materiellen Ebene. Das schloss nicht aus, dass sie innere Erfahrungen hatte, noch verhinderte es, dass sie jene innere „Präsenz erlebte, für die sie keinen Namen kannte und über die sie mit niemandem sprechen konnte. Sie wird es ganz gewiss nicht Gott genannt haben. „Ein Gefühl hatte ich mein ganzes Leben über, und zwar, dass ‚Gott‘ nur ein Wort war, ein Wort, mit dem die Menschen eine ganze Reihe sehr wenig wünschenswerter Dinge verbanden. Du weißt, die Vorstellung von einem Gott, der der absolut Einzige sein will … Das war es, was mich in meiner Kindheit vollkommen atheistisch gemacht hat, wenn man so sagen kann. Ich akzeptierte kein Wesen, das sich selbst zum Allereinzigen und Allermächtigsten erklärte, wer immer es auch sein mochte.²⁶ „Alles, was ich kannte, war der Gott der Religionen, Gott, wie die Menschen ihn geschaffen haben, und den wollte ich um keinen Preis. Ich leugnete seine Existenz, doch mit der Gewissheit, dass ich, sollte ein derartiger Gott existieren, ihn verabscheuen würde!"²⁷

    Mutter schätzte sich glücklich, dass sie so erzogen worden war, und sagte, das sei einer der Gründe, warum sie genau diese Eltern gewählt hatte. Wenn man ihre zahlreichen inneren Erfahrungen in Betracht zieht, dann war ihre erbliche Konstitution die bestmögliche Basis dafür, dass sie sich nicht in mentalen oder anderen Verirrungen verstrickte, sie bewahrte sie davor, sich in ihren Erfahrungen zu verlieren. So konnte sie sicher sein, dass ihre Erfahrungen keine mystischen Träumereien waren, denn sie sagte, ihr Körper, ihre konstitutionelle Veranlagung habe nichts Mystisches an sich.

    Dennoch fühlte sie sich innerlich allein, während sie in ihrem Oberflächenleben das vibrierende Paris des ausgehenden Jahrhunderts erlebte, einer Periode, die manchmal als la belle époque bezeichnet wurde (obwohl, wie wir sehen werden, die Schönheit jener Zeit durch eine ganze Reihe dunkler Flecken beeinträchtigt war). „Ich erinnere mich, als ich achtzehn Jahre alt war, fühlte ich in mir ein derart intensives Bedürfnis zu wissen. Erfahrungen hatte ich – ich hatte alle möglichen Erfahrungen –, doch angesichts des Milieus, in dem ich lebte, hatte ich niemals irgendeine Chance, das intellektuelle Wissen zu erwerben, das mir die Bedeutung all dessen enthüllen würde, und so konnte ich darüber gar nicht sprechen. Ich hatte Erfahrung über Erfahrung gehabt. Über Jahre hinweg hatte ich des Nachts Erfahrungen, doch ich war vorsichtig genug, kein einziges Wort über sie zu verlieren – alle Arten von Erinnerungen über vergangene Leben, alle möglichen Dinge, doch ohne jede Grundlage eines intellektuellen Wissens.

    Der Vorteil war natürlich, dass meine Erfahrungen keine mentalen Erfindungen waren, sie kamen absolut spontan. Doch ich trug in mir ein solches Bedürfnis zu wissen … Zu wissen, wissen, wissen! Weißt du, ich wusste nichts, aber auch wirklich nichts, außer den Dingen des gewöhnlichen Lebens: das äußere Wissen. Was immer mir zu lernen gegeben wurde, hatte ich gelernt. Ich hatte nicht nur gelernt, was ich gelehrt wurde, sondern auch, was mein Bruder gelehrt wurde, höhere Mathematik und all das. Ich lernte und lernte und lernte – und es war nichts. Nichts gab mir irgendeine Erklärung, ich konnte überhaupt nichts verstehen!"²⁸

    Doch wenn eine Seele ein starkes Bedürfnis hat, voranzuschreiten oder sich zu entwickeln, dann wird eine Antwort gegeben, meist auf höchst unerwartete Weise. „Zwischen achtzehn und zwanzig erreichte ich eine bewusste und beständige Vereinigung mit der göttlichen Gegenwart, und all das hatte ich allein getan, absolut ohne irgendjemandes Hilfe, sogar ohne Bücher. Als ich eines fand – ein wenig später bekam ich Vivekanandas Raja Yoga in die Hände –, erschien es mir als etwas so Wunderbares, weißt du, dass jemand mir etwas erklären konnte! Das ließ mich in ein paar Monaten erreichen, wofür ich ansonsten vielleicht Jahre gebraucht hätte."²⁹

    Wieder ein wenig später, als sie „vielleicht einundzwanzig war, entweder zwanzig oder einundzwanzig", traf sie einen Inder, der ihr den Schlüssel für die Lektüre der Bhagavad Gita gab. „Es gab da eine [französische] Übersetzung, die, nebenbei bemerkt, ziemlich schlecht war, doch zu jener Zeit wäre Mirra nicht in der Lage gewesen, sie in einer anderen Sprache zu lesen, „und er riet mir, sie zu lesen, und er gab mir den Schlüssel, seinen Schlüssel … Er sagte: ‚Lies die Gita und nimm Krishna als Symbol des immanenten Gottes, der inneren Gottheit.‘ Das war alles, was er mir sagte … Doch in einem Monat war die Arbeit getan … Als ich zum ersten Mal erfuhr, dass es in mir selbst etwas zu entdecken gab, war nichts anderes mehr wichtiger … Ich stürzte mich kopfüber hinein wie ein Wirbelsturm, und nichts hätte mich aufhalten können.³⁰

    Bei dem Inder handelte es sich um Jnanendranath Chakravarthy, damals Mathematikprofessor und später Vizepräsident der Universität von Lucknow. Seine Frau Monika Devi, „eine große Dame von Geburt und Erziehung mit dem natürlichen Charme einer geborenen Gastgeberin, aristokratisch bis in die Fingerspitzen",³¹ sollte später der Welt entsagen, den Namen Yashoda Ma annehmen und einen ashram (eine spirituelle Gemeinschaft) in der Nähe von Almora am Fuße des Himalaya gründen.* Der Haushalt dieses bemerkenswerten Paares scheint ein Zentrum der Hingabe an Lord Krishna gewesen zu sein.

    Jnanendranath Chakravarthy war auch Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und in engem Kontakt mit Annie Besant, der späteren Leiterin dieser Gesellschaft. „[Annie Besant] reiste mit einem der anderen theosophischen Delegierten, Gyanendra Nath** Chakravarthy, einem brahmanischen Mathematikprofessor, nach Amerika [um 1893 die Theosophische Gesellschaft beim Weltparlament der Religionen zu vertreten]… Als brillanter Redner, flammender Hindu und attraktiver Mann fesselte er Annie … Mrs. Besant erzählte ihren Freunden, nun endlich habe sie ihren eigenen Guru gefunden. Sie war von dem Professor so betört, dass

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