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Sri Aurobindo und die Transformation der Welt
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eBook364 Seiten4 Stunden

Sri Aurobindo und die Transformation der Welt

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Über dieses E-Book

„Das Tier ist ein lebendes Laboratorium, in dem die Natur sozusagen den Menschen ausgearbeitet hat. Es ist gut möglich, dass der Mensch seinerseits ein lebendes und denkendes Laboratorium ist, in dem sich mit seiner bewussten Mitbildung das „supramentale Wesen“, der Gott, herausbildet.“
Sri Aurobindo schrieb diese Worte vor fast einem Jahrhundert in seinem monumentalen Hauptwerk „Das Göttliche Leben“. Heute ist sein Name nicht unbekannt, aber Inhalt und Bedeutung seiner Vision und seines weltverändernden Lebenswerks, wie auch das seiner spirituellen Gefährtin, Mirra Alfassa, Mutter genannt, sind es zweifellos immer noch.
Im vorliegenden Buch erklärt Georges Van Vrekhem, ein Schüler dieser beiden großen spirituellen Gestalten, die wichtigsten Eckpfeiler ihres allumfassenden Integralen Yoga in Form einer Reihe von teilweise posthum veröffentlichten Essays und Artikeln. Darin wird gezeigt, wie die Manifestation des Supramentals oder Wahrheits-Bewusstseins auf unserer Erde die Verwirklichung eines völlig neuen Ansatzes in der spirituellen Geschichte der Menschheit ermöglicht. Anstatt die Erlösung weiterhin in einer Weltflucht und einer Aufgabe des so lange geschmähten Körpers zu suchen, rehabilitierten Sri Aurobindo und Mutter Körper und Materie: „Auch die Materie ist göttlich“, sagt die Upanishad. Die beiden nahmen dies wörtlich und begaben sich auf einen Weg ins Unbekannte, dessen Ergebnisse den Lauf der irdischen Evolution selbst verändern sollten.

SpracheDeutsch
HerausgeberAquamarin Verlag
Erscheinungsdatum28. Apr. 2020
ISBN9783968610757
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    Buchvorschau

    Sri Aurobindo und die Transformation der Welt - Georges Van Vrekhem

    369

    Einführung

    Als Georges Van Vrekhem am 31. August 2012 verstarb, hinterließ er eine Reihe von unveröffentlichten Essays und Artikeln. Einige dieser Essays basierten auf seinen Vorträgen in Auroville, als er gegen Ende des Jahres 2011 eine zweite Serie von elf Vorträgen über eine Vielzahl von Themen im Zusammenhang mit Sri Aurobindo und Mutter in Angriff nahm. Diese Vorträge sollten ursprünglich als eine Folge zum Buch Auf dem Weg zum Wunderbaren ¹ erscheinen, das seine erste Vortragsreihe in Auroville umfasst.

    Der Zyklon Thane, der Auroville am 30. Dezember 2011 traf, brachte diese Pläne durcheinander, und seine Vorträge wurden verschoben; in der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden sie aufgrund von Gesundheitsproblemen erneut auf später vertagt. Georges hatte vor, die Vorträge im September 2012 wiederaufzunehmen, aber leider entschied das Schicksal anders.

    Durch die Veröffentlichung dieser Essays soll Georges und seine immense Arbeit zum besseren Verständnis von Leben und Werk Sri Aurobindos und Mutters gewürdigt werden. Wir hielten es auch für angebracht, verschiedene Artikel, die in Zeitschriften, wie Auroville Today, Mother India und The Advent, sowie im Buch The Journeying Years [Die Wanderjahre] von Dianna Bowler, erschienen, in diese Kompilation aufzunehmen.

    Wie im Buch Auf dem Weg zum Wunderbaren sind die meisten Essays in dieser Sammlung nicht überarbeitet und sollen das Thema auch nicht erschöpfen. Der Leser mag darin auch auf gelegentliche Wiederholungen stoßen. Diese wurden beibehalten, da jede davon als integraler Teil eines spezifischen Vortrags oder Essays erscheint.

    Außer anders erwähnt, stammen alle Zitate Sri Aurobindos in diesem Buch aus der vollständigen Werkausgabe von Sri Aurobindo [Complete Works of Sri Aurobindo] und aus den gesammelten Werken der Mutter [Collected Works of the Mother – Centenary Edition].

    Sämtliche Bücher von Georges und ihre Übersetzungen wie auch seine Vorträge, Videotalks und die Interviews können online eingesehen werden unter www.beyondman.org und www.georges-van-vrekhem.org.

    Wir hoffen, dass diese Posthum-Ausgabe all ihre Leser in und außerhalb von Auroville inspirieren wird.

    Carel Thieme

    Guy Ryckaert


    1. Georges Van Vrekhem: Auf dem Weg zum Wunderbaren, Aquamarin Verlag, 2018

    Anmerkungen zur Terminologie

    Für ein besseres Verständnis der in diesem Buch benutzten Terminologie führen wir untenstehend einige Zitate von Sri Aurobindo und Mutter an zu den Begriffen „Supermind", „Supramental", „Overmind" und „Surhomme" (von Georges Van Vrekhem wörtlich als overman [Übermensch] übersetzt).

    Sri Aurobindo in Briefe über den Yoga

    Es ist in der Sprache des Mentals kaum ausdrückbar, was das Supramental [Supermind] ist, selbst in der des spiritualisierten Mentals, denn es ist insgesamt ein anderes Bewusstsein und handelt auf andere Art und Weise. Was immer man darüber sagen mag, würde voraussichtlich nicht verstanden oder missverstanden werden. Einzig und allein indem wir in das Supramental hineinwachsen, können wir begreifen, was es ist, und auch dies erst nach einer langen Entwicklung, in deren Verlauf das höhere und erleuchtete Mental zur reinen Intuition wird (doch nicht jenes vermischte Etwas, das meist unter diesem Namen läuft) und sich in das Übermental [Overmind] zusammenballt; danach kann das Übermental in das Supramental erhoben und mit ihm verschmolzen werden, bis es eine Umwandlung erfährt.

    Im Supramental [Supermind] ist alles selbstwissend, selbsterleuchtend, es gibt keine Teilungen, Gegensätze oder getrennten Aspekte wie im Mental [Mind], das nach dem Prinzip der Gliederung des Wissens in einzelne Teile arbeitet, die es dann einander gegenüberstellt. Das Übermental [Overmind] nähert sich an seinem höchsten Punkt dem Supramental und wird oft damit verwechselt, vermag es jedoch nicht zu erreichen, außer durch Erhöhung und Umwandlung. ²

    ***

    Das Supramental [Supermind] ist die Eine Wahrheit, es entfaltet und bestimmt die Manifestation seiner Mächte, und alle diese Mächte wirken als eine vielfältige Einheit, in Harmonie, ohne Widerstreit oder Zusammenprall, gemäß dem Einen Willen, der ihnen allen innewohnt. Das Übermental [Overmind] ergreift diese Wahrheiten und Mächte und setzt jede einzelne von ihnen als eine für sich selbst bestehende Kraft mit ihren unausbleiblichen Folgen in Tätigkeit – in ihrem Wirken kann Harmonie sein, doch diese ist eher künstlich und einseitig und nicht innewohnend und unausweichlich; in dem Maße, wie man vom höchsten Übermental herabkommt, mehren sich Teilung, Zusammenprall und Widerstreit der Kräfte, die Trennbarkeit dominiert, die Unwissenheit wächst und das Dasein wird zu einem Aufeinanderprallen von Möglichkeiten und ist dann ein Gemisch gegensätzlicher Halbwahrheiten, ein ungelöstes und scheinbar unlösbares Rätsel und Zusammensetzspiel. ³

    ***

    Das Supramental [Supermind] ist das Wahrheitsbewusstsein; darunter liegt das Übermental [Overmind], dessen charakteristische Eigenschaft es ist, die Mächte des Göttlichen zu empfangen und wenn möglich getrennt zu verarbeiten, mit dem Ziel, dass jede [dieser Mächte] auf ihre eigene Art handelt und versucht, eine eigene Welt zu schaffen oder aber, im Kontakt untereinander, den anderen möglichst das eigene Prinzip aufzuerlegen. Seelen, die auf die Übermental-Ebene herabkommen, handeln auf die gleiche Weise. Von hier stammt das Prinzip einer für sich bestehenden Individualität. Diese ist sich zunächst noch ihres göttlichen Ursprungs bewusst, doch in dem Maße, wie sie weiter herabkommt, trennt sie sich von diesem mehr und mehr, vergisst ihn und wird schließlich durch das Prinzip der Trennung und des Egos gelenkt. Das Mental ist von der Wahrheit weiter entfernt als das Übermental, die vitale Natur ist von der Verwirklichung unwissender Kräfte in Anspruch genommen, während in der Materie dann das Ganze in etwas übergeht, das ein fundamentales Unbewusstes zu sein scheint. Es ist die Maya des Übermentals, die diese Welt regiert; doch in der Materie verliert sie sich im Unbewussten, aus welchem dann wieder Bewusstsein auftaucht und emporsteigt, um Leben und Mental in die Materie herabzubringen und sich im Mental den höheren Bereichen zu öffnen – die noch in einer Art direkter Verbindung mit der Wahrheit stehen (Intuition, Übermental, Supramental).

    ***

    Zu jener Zeit, als die letzten Kapitel von Die Synthese des Yoga im Arya erschienen, war der Begriff „Übermental" [overmind] noch nicht geprägt und wird daher dort nicht gebraucht. Was in jenen Kapiteln beschrieben wird, ist das Wirken des Supramentals, sobald dieses in die Übermental-Ebenen herabkommt und das Wirken des Übermentals aufnimmt und umwandelt. Das höchste Supramental oder die in sich bestehende Göttliche Gnosis ist etwas, das noch jenseits davon und ziemlich darüber liegt. In den letzten Kapiteln sollte aufgezeigt werden, wie schwierig dies zu erreichen ist und wie viele Ebenen es zwischen dem menschlichen Mental und dem Supramental [supermind] gibt; und wie selbst das Supramental bei seiner Herabkunft mit dem niedrigen Wirken vermischt und in etwas Geringeres als die eigentliche Wahrheit verwandelt wird. Doch diese Kapitel wurden nicht geschrieben.

    ***

    Das Supramental [supermind] ist schlicht das direkte, aus sich selbst existierende Wahrheits-Bewusstsein und die direkte selbst-wirksame Wahrheits-Macht. Ein Jonglieren mit Begriffen ist fehl am Platz. Was nicht wahr ist, ist nicht supramental.

    ***

    Mutter an Satprem

    (vgl. Mutters Agenda, Bd. I, 10. Mai 1958)

    Die Arbeit von Sri Aurobindo zu tun, bedeutet im Grunde, das Supramental auf der Erde zu verwirklichen. So nahm ich diese Arbeit auf, und eigentlich verlangte ich von meinem Körper nur das. Ich sagte ihm: „Nun wirst du alles in Ordnung bringen, was in Unordnung geraten ist, und nach und nach wirst du dieses Zwischenstadium der Übermenschlichkeit verwirklichen, die Brücke zwischen dem Menschen und dem supramentalen Wesen, also das, was ich den Übermenschen nenne." Genau das tue ich seit acht Jahren, und noch mehr seit zwei Jahren, seit 1956. Das ist jetzt die Arbeit eines jeden Tages, einer jeden Minute. Da stehe ich jetzt. Auf die unbestrittene Autorität eines Gottes habe ich verzichtet, auf die unerschütterliche Heiterkeit des Weisen habe ich verzichtet … um zum Übermenschen zu werden. Darauf habe ich alles konzentriert.

    ***

    Mutter an die Kinder des Sri Aurobindo Ashrams

    (in Gespräche 1958, S. 73f)

    Am 16. April 1958 verkündete Mutter als existierende Tatsache, was Sri Aurobindo in Die Offenbarung des Supramentalen vorausgesehen hatte. Sie versichert, dass es bereits „einen Anfang von Verwirklichung" gebe. „Wir haben den Beweis dafür, dass unter bestimmten Bedingungen der gewöhnliche Zustand der Menschheit überschritten und ein neuer Bewusstseinszustand ausgearbeitet werden kann, der zumindest eine bewusste Beziehung zwischen dem mentalen und supramentalen Menschen ermöglicht. Es kann mit Sicherheit erklärt werden, dass es eine Zwischengattung zwischen dem mentalen und supramentalen Wesen geben wird, eine Art Übermensch [surhomme], der immer noch die Eigenschaften und teilweise die Natur des Menschen haben wird. Dies bedeutet, dass er in seiner äußerlichsten Form immer noch dem menschlichen Wesen [d.h. Spezies] tierischen Ursprungs angehören wird, aber dass er sein Bewusstsein ausreichend transformieren wird, um in seiner Verwirklichung und seinem Handeln einer neuen Spezies, einer Spezies von Übermenschen [surhommes] anzugehören. Diese Spezies mag als Übergangsspezies betrachtet werden, denn es kann vorausgesehen werden, dass sie das Mittel entdecken wird, neue Wesen hervorzubringen, ohne auf die alte tierhafte Methode zurückzugreifen, und es sind diese Wesen – die eine wahrhaft spirituelle Geburt haben werden – welche die Elemente der neuen Spezies, der supramentalen Spezies, ausmachen werden. Somit könnten wir diejenigen Übermenschen nennen, die aufgrund ihres Ursprungs immer noch der alten Zeugungsmethode angehören, die aber auf der Basis ihrer Errungenschaften in bewusstem und aktivem Kontakt mit der neuen Welt der supramentalen Verwirklichung stehen."

    ***


    2. Sri Aurobindo: Briefe über den Yoga, I, S. 269 (Alle Seitenzahlen der Zitate aus Briefe über den Yoga beziehen sich auf die 4 Bände der deutschen Übers. v. Elisabeth Beck.)

    3. Ibid., S. 267

    4. Ibid., S. 308

    5. Ibid., S. 272

    6. Letters on Himself and the Ashram, CWSA [Complete Works of Sri Aurobindo], vol. 35, S. 347

    Auf dem Marktplatz

    Schweigend stand er auf dem Marktplatz

    tagein, tagaus im Staube,

    mit ausgestrecktem rechten Zeigefinger,

    verspottet von der lauten Menschenschar.

    Dann, an einem Tag nach vielen langen Tagen

    – niemand gab noch Acht auf ihn – siehe,

    da ließ sich nieder auf seinem rechten Zeigefinger

    ein goldener Schmetterling, und saß still.

    Artikel über

    Sri Aurobindo und Mutter

    1.

    Die Neue Spiritualität oder die aurobindianische Revolution

    In seinem Opus magnum Das Göttliche Leben zitiert Sri Aurobindo die dreifache Aussage der Upanishaden: „Brahman ist in allen Dingen, alle Dinge sind in Brahman, alle Dinge sind Brahman." ⁷ Die Upanishaden, die Grundlage des Veda, sind eine lebendige Quelle spiritueller Inspiration, seit sie vor ungefähr dreitausend Jahren verfasst wurden; jedoch wurde der volle Umfang ihrer Bedeutung nicht in der Praxis verwirklicht, bis Sri Aurobindo sein Leben der Umsetzung ihrer unverfälschten Botschaft widmete.

    Unterdessen gab es Mahavira und den Buddha, Shankara und Christus und eine Vielzahl von großen Heiligen und verwirklichten Seelen; keine Religion und kein spiritueller Pfad aber lehrt, dass Brahman, die Allgegenwärtige Realität, „dieser alte Mann, dieser Junge und dieses Mädchen, dieser Vogel, dieses Insekt" ⁸ ist – und diese Hausfrau beim Einkaufen, dieses Düsenverkehrsflugzeug, dieser Krebstumor und dieser sich selbst verbrennende Fanatiker … Alle spirituellen Wege und alle Kirchen verweisen auf ein Jenseits, Moksha, Nirvana und lehren, wie man aus diesem Leben oder diesen Lebenszyklen auf dem nach ihrer Meinung kürzestmöglichen Weg aussteigen kann.

    Materie ist das Anti-Göttliche, der Körper ist eine Last, ein Gefängnis, ein Grab. Die individuelle Flucht aus dieser bösen oder illusionären irdischen Welt ist das direkte Ziel – danach das Glück und die Ekstase in Ewigkeit. Für Sri Aurobindo jedoch fühlte sich „eine einzelgängerische Erlösung, die die Welt ihrem Schicksal überlässt, als fast geschmackslos" an. ⁹ Daher schrieb er über seinen Yoga: „Selbst der Tantrismus und Vishnuismus enden in der Befreiung vom Leben; hier ist das Ziel die göttliche Erfüllung des Lebens." ¹⁰

    Im Verlauf seiner Sadhana wurden ihm die Dimensionen spiritueller Erneuerung, die von ihm zu verwirklichen waren, stufenweise bewusst. Erstens wurden die Materie und die Erde nicht mehr als etwas Verachtenswertes gesehen, in welche die Seele durch diesen oder jenen Unfall geraten ist. Die Aussage in den Upanishaden „Auch die Materie ist Brahman musste wörtlich genommen werden, und das physische Universum wurde „als der äußere Leib des Göttlichen Wesens ¹¹ gesehen.

    Er schrieb: „Das Erdenleben ist kein Absturz in den Schlamm von etwas Ungöttlichem, etwas Eitlem und Elendem, das irgendeine Macht sich selbst als Schauspiel darbietet oder das für die verkörperte Seele etwas sein soll, das sie zu erleiden und dann wegzuwerfen hätte. Nein, es ist die Bühne, auf der sich die evolutionäre Entfaltung des Seienden abspielt, die bis zur Offenbarung eines höchsten spirituellen Lichts und einer Macht, einer Freude und eines Einsseins fortschreitet, die aber auch in sich die mannigfaltige Verschiedenheit des sich selbst verwirklichenden Geistes enthält. Es gibt ein alles überragendes Ziel in der irdischen Schöpfung, einen göttlichen Plan durch all seine Widersprüche und Verworrenheiten hindurch …" ¹²

    Zweitens wurde „die evolutionäre Entfaltung des Seienden" mehr als eine naturwissenschaftliche Theorie, sie wurde zu einem spirituellen Faktum von direkter Relevanz für das Streben des Yoga. Vieles von unseren Körpern, Lebenskräften und geistigen Fähigkeiten wird durch die Evolution geprägt. Wir tragen die Entwicklung des Lebens auf der Erde nicht nur in unserem sichtbaren Körper, sondern tief in uns selbst, wo die Vergangenheit fortbesteht und überwunden werden muss, wenn wir in die Zukunft schreiten wollen. Die Chakras repräsentieren die irdische und deshalb kosmische Evolution in uns und sind von unten nach oben hierarchisch angeordnet, hin zu den Bereichen, die Bewusstseinswelten über unserer gegenwärtigen menschlichen Verstandesbestimmtheit sind und die in die Körper der Zukunft eingegliedert werden müssen.

    Zwar geht es in Sri Aurobindos Yoga zuerst darum, die seelischen und übermentalen spirituellen Verwirklichungen zu erlangen, aber dann, gestärkt durch diese Verwirklichungen, gilt es, in die unteren Bereiche des Unterbewusstseins hinunterzusteigen, wo die dunkeln Wurzeln der Menschheit liegen.

    Drittens erfuhr Sri Aurobindo die Offenbarung des Supramentals, des göttlichen Wahrheitsbewusstseins. Dies ist das Bewusstsein, in dem alles eins ist und als eins erfahren wird, sowohl in den zeitlosen unermesslichen Weiten wie auch in den zeitgebundenen subatomaren Materialisationen; es ist das Bewusstsein, das auf ewig alles in sich selbst enthält, alles aus sich hinaus in die Manifestation bringt und schließlich alles wieder zu sich nimmt. Dies ist der wahre „Geist Gottes hinter den Mysterien des Unendlichen und unendlich Kleinen, verwirrend für die heutige Wissenschaft, weil diese unfähig ist, ihre Sicht auf einen Bereich jenseits des physischen Reichs auszudehnen. Sri Aurobindo sah, dass dieses Wahrheitsbewusstsein, wie hoch oder weit oder tief es auch über unser gegenwärtiges Mental hinausgehen mag, die einzige Basis ist, auf der sich der nächste anstehende Schritt der Evolution gründen muss. „Dies Wissen ward ihm von zeitgebornen Menschen zuerst. ¹³

    Schließlich musste er, um seine Schau und seine persönliche Verwirklichung derselben auszuarbeiten, eine Methode begründen, auf der ihm andere folgen konnten, einen spirituellen Weg, den er den „Integralen Yoga nannte. Integral deshalb, weil er die Essenz der spirituellen Errungenschaften der Menschheit in der Vergangenheit enthalten musste, um diese in eine Vision der Zukunft zu integrieren. In diesem spirituellen Unterfangen, in der Ausarbeitung dieser „neuen Spiritualität standen er und Mutter ganz alleine. Immer wieder verglichen die beiden ihr pionierhaftes Bemühen mit dem Hauen eines Pfades in den Dschungel, da sie ins Unbekannte voranschritten, bedroht von ständig lauernder Gefahr; denn die mächtigen Kräfte, die einer jeden spirituellen Errungenschaft oder Veränderung feindlich gegenüberstehen, sind gnadenlos, wenn ihre Herrschaft bedroht wird und ihre Beherrschung der Erde zu einem Ende kommen könnte. „Meine klaffenden Wunden sind tausend und eine / von den Titanenfürsten geschlagen …" schrieb Sri Aurobindo in seinem großartigen autobiographischen Gedicht Eines Gottes Arbeit ¹⁴

    All dies zusammen war – und ist – die aurobindianische Revolution. „Revolution" ist nichts als ein aufgeblasenes Wort. Aber wenn die Einführung einer neuen Stufe in der irdischen Evolution, basierend auf der Materialisation eines Bewusstseins, das weit jenseits unseres heutigen Mentals oder gar unserer Vorstellung liegt und sich in einem materiellen Wesen auf Erden verkörpern soll – wenn das keine Revolution ist, was ist es dann?

    Es wird nur selten realisiert, dass zur Zeit der frühen Jahre Sri Aurobindos und Mutters das Kommen des „Übermenschen" von vielen als notwendig, ja sogar als unmittelbar bevorstehend wahrgenommen wurde. Der Name Friedrich Nietzsches, mit dessen Denken Sri Aurobindo gut vertraut war, drängt sich einem in diesem Zusammenhang auf. Aber da war auch Marxens neuer homo oeconomicus, da war der neue atheistische und humanistische Mensch von August Comte, der freudianische und jungianische neue Mensch, nebst einigen anderen. Tatsächlich waren dies die Jahrzehnte einer Reaktion des intensiven Missbehagens an der trockenen Rationalität der Aufklärung. Diese Reaktion sollte zum Faschismus führen, mit seinem eigenen Ideal des neuen Menschen, dem Tatmenschen, und letztlich zu Hitlers rücksichtslosem Übermenschen, der „blonden Bestie".

    Die historische Perspektive sollte jedoch noch viel weiter in die Vergangenheit ausgedehnt werden; denn falls dies der Moment einer neuen evolutionären Schöpfung war, und ist, welche die Erfüllung der evolutionären Vergangenheit ist und einen Quantensprung darüber hinaus macht, muss das bedeuten, dass die Natur alle Vorstufen auf der Erde bis zum Äußersten entwickelt hatte. Wie Mutter sagte, gibt es lange Stufen der Vorbereitung, aber dann kommt der Moment, an dem der Evolutionssprung erfolgt. Die heutige Menschheit im Umbruch weist gewiss auf einen solch kritischen Moment in ihrer Evolution.

    Die Stufenfolge der Avatare ist ein wohlbekanntes Konzept im Hinduismus und ist, wie Sri Aurobindo bemerkte, ein perfektes Bild für die aufeinanderfolgenden Evolutionsstufen. ¹⁵ Sri Krishna erklärte in der Bhagavad Gita, dass der Avatar in Zeiten kommt, in der die Menschheit durch eine Krise geht. ¹⁶ Die Materialisierung einer neuen Evolutionsstufe ist, wie jede Geburt, eine Zeit intensivster Krise, deren Bedeutung die von Karl Jaspers definierten „Achsenzeiten bei Weitem übersteigt. Die Vertreter einer fest begründeten Evolutionsstufe sind selbst außerstande, den Rahmen ihrer Spezies zu sprengen, die höchste Schicht ihrer Materialisation zu überschreiten. Solch ein Durchbruch kann nur durch eine direkte Intervention von „oben erfolgen, materiell in einem Wesen verkörpert, das in Indien unter dem Namen „Avatar" bekannt ist. Sri Aurobindo argumentiert in einem seiner Briefe, dass zwischen den Hominiden und dem Homo sapiens ein Avatar, in diesem Fall Lord Rama, auftreten musste. Wenn dem so ist, brauchte es auch einen Avatar, um den noch größeren Sprung zwischen dem Homo sapiens und dem supramentalen Wesen zu ermöglichen – und wir kennen den Namen dieses Avatars: Sri Aurobindo-Mutter:

    A single being in two bodies clasped,

    A diarchy of two united souls. ¹⁷

    Ein einzig Wesen, umfangen in zwei Körpern,

    Doppelherrschaft zweier vermählter Seelen.

    Das Göttliche nimmt einen materiellen Körper an in einem Bereich, den man, bildlich gesprochen, ein „avatarisches Feld" nennen könnte. Dieses besteht aus einer Vorbereitungszeit bis zum Erscheinen des Avatars. Darauf folgt seine Gegenwart auf Erden, wenn er das Fundament zum Wandel errichtet, den zu bringen er gekommen ist, im Kampf mit schier unüberwindlichen Widerständen, denn seine Aufgabe ist es, das Unmögliche zu erschaffen. Während der Wandel stattfindet, sind sich nur wenige Menschen seiner Gegenwart bewusst, und noch weniger wissen um die Konsequenzen seines Wirkens. Nachdem der Avatar seinen irdischen Körper verlassen hat, folgt eine Übergangsperiode von oft großer Verwirrung; und schließlich kommt die Zeit der Erfüllung des evolutionären oder spirituellen Wandels, wahrnehmbar für alle und von dauerhafter Auswirkung auf das Schicksal der Menschheit als Ganzes.

    Wir befinden uns in der Übergangsperiode zwischen dem Auftreten des Avatars und der konkreten Erfüllung seines Daseinszweckes. Unsere Stärke liegt in unserem Glauben, unvernünftig oder gar grotesk in den Augen jener, die nicht den Ruf haben, bewusst am Großen Wandel teilzunehmen.

    Eines der Schlüsselwörter des Integralen Yoga ist „Hingabe" [surrender], denn obwohl wir unser Leben dem Werk gewidmet haben, akzeptieren wir doch, dass die letztliche Verwirklichung – die Transformation des Körpers – in diesem Leben sich für uns nicht realisieren lässt. Aber um unseren Glauben zu stärken, ist da die Gegenwart Sri Aurobindos und Mutters – denn die Aufgabe des Avatars wird durch seine oder ihre physische Inkarnation nicht begrenzt; und wir können uns inwendig der supramentalen Kraft öffnen, die sich 1956 in der Erdatmosphäre manifestierte, sowie ihrer Stellvertreterin, der im Jahr 1969 herabgestiegenen Kraft, welche die Verwirklichung des übermentalen, vorübergehenden Zwischenwesens ermöglichen soll. Der Versuch, Zwischenwesen (Übermenschen – surhommes) zu werden, ist gemäß Sri Aurobindo und Mutter die uns übertragene Aufgabe.

    In den Naturwissenschaften gilt die Regel, dass eine Theorie ihre Gültigkeit beweist durch das Aufstellen von Voraussagen, die verifiziert werden können. Ist Sri Aurobindos Theorie des Supramentals nur eine grandiose Illusion oder wird die Menschheit aussterben, bevor sich so etwas wie das Erscheinen des supramentalen Wesens auf unserem Planeten ereignen kann? Sri Aurobindo hat solche Voraussagen aufgestellt. In seinen Schriften im Arya, die später in Buchform veröffentlicht wurden, stoßen wir auf folgende Thesen: 1. Indien muss frei werden; 2. Asien muss erwachen; 3. die Menschheit muss eins werden; 4. die indische Spiritualität muss sich in der ganzen Welt verbreiten; 5. die menschliche Spezies muss durch eine neue Spezies von supramentalen Wesen abgelöst werden. – Es sollte dabei berücksichtigt werden, dass diese Voraussagen während des Ersten Weltkriegs und kurz danach erfolgten, zu einer Zeit also, da vernünftige Menschen diese nur als Chimären betrachten konnten. Im Jahr 1947 fasste Sri Aurobindo diese Aussagen in einem Text zusammen, der anlässlich von Indiens Unabhängigkeit im Radio übertragen werden sollte, und nannte sie seine „fünf Träume".

    Wenn man berücksichtigt, was heute aus diesen „Träumen geworden ist, können wir nicht anders als zuzugeben, dass alle fünf bis zu einem beträchtlichen Grad bereits verwirklicht worden sind. Somit kann diese Entwicklung als eine rationale Bestätigung von Sri Aurobindos Voraussagen der Zukunft betrachtet werden. Er schrieb, dass eine nächste Evolutionsstufe unvermeidlich sei, eine Aussage, die angesichts des evolutionären Prozesses nur aus Furcht bezweifelt werden kann, dass unsere Erde ihre gegenwärtige missliche Lage nicht überleben könnte. Aber die grundlegende Ursache dieser misslichen Lage ist eben die „Umwertung aller Werte, die erforderlich ist, um das Neue, bisher Unbekannte zu schaffen. In dieser sogenannten postmodernen Periode einer Menschheit, die im Wirbel ihrer Vereinigung gefangen ist, versieht uns Sri Aurobindos Vision mit einer hoffnungsvollen Interpretation des augenscheinlichen Chaos.

    Im Banne der geistigen Konditionierung durch die Naturwissenschaften glauben nur noch wenige Leute an Wunder, aber ich weiß von zweien, die historisch bewiesen sind. Das erste ist die Geschichte von Jeanne d’Arc, dem jungen französischen Dorfmädchen, das als Anführerin von rauen mittelalterlichen Armeen die Engländer besiegte, ihren König auf seinen Thron setzte und ihren Richtern freimütig sagte: „Je suis venue de par Dieu – „Ich bin von Gott gekommen. Das andere Wunder ist Auroville, die Utopie aller Utopien, das nach vierzig Jahren schier unmöglicher Umstände und trotz aller Widerstände und Prüfungen immer noch fortbesteht – und weiter wächst.

    ***

    (Dieser Text wurde am 17. Februar 2008 im Sri Aurobindo Centre of Human Unity anlässlich des Symposiums zur Feier des 40-jährigen Bestehens von Auroville vorgelesen und erschien im Juni 2008 in Mother India.)


    7. Sri Aurobindo: Das Göttliche Leben, I, S. 164

    8. Sri Aurobindo: Das Göttliche Leben, II/1, S. 40

    9. Sri Aurobindo: Autobiographical Notes, S. 107

    10. Sri Aurobindo: Briefe über den Yoga, I, S. 103

    11. Sri Aurobindo: Das Göttliche Leben, I, S. 18

    12. Ibid., II/1, S. 61f

    13. Sri Aurobindo: Savitri, S. 74 (66) – Seitenzahlen in Klammern bei Savitri-Zitaten beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die Übersetzung von Hans Peter Steiger in Sri Aurobindo: Sawitri – Eine Sage und ein Gleichnis, 2. Aufl. 1988, einsprachige Ausgabe.

    14. Deutsche Übersetzung in Medhananda: Flammenworte

    15. Vgl. Sri Aurobindo: Briefe über den Yoga, II, S. 21f

    16. Vgl. Sri Aurobindo: Essays über die Gita, S. 167

    17. Sri Aurobindo: Savitri, S. 295 (266)

    2.

    Sri Aurobindo und die Zukunft der Menschheit

    „Das Tier ist ein lebendes Laboratorium, in dem die Natur sozusagen den Menschen ausgearbeitet hat. Es ist gut möglich, dass der Mensch seinerseits ein lebendes und denkendes Laboratorium ist, in dem sich mit seiner bewussten Mitwirkung das supramentale Wesen [superman], der Gott, herausbildet." ¹⁸ Sri Aurobindo schrieb diese Worte vor fast einem Jahrhundert in Das Göttliche Leben. Heute ist sein Name nicht unbekannt, aber Inhalt und Bedeutung seiner Vision und seines spirituellen Werks sind es zweifellos immer noch. Seine philosophische Vision war und ist revolutionär.

    Die ganze vergangene und gegenwärtige spirituelle und religiöse Bemühung ist auf ein Jenseits ausgerichtet – der Himmel, das Nirvana, brahmaloka etc. –, aber Sri Aurobindo hielt sich an die grundlegende Bedeutung der Upanishaden: Wenn alles Das ist, dann ist die Materie, die Erde und der physische Körper auch Das. „Brahman ist das Alpha und das Omega. Brahman ist der Eine, neben dem nichts anderes existiert." ¹⁹

    Sri Aurobindos Vision ist auch evolutionär. Wenn Brahman (das Absolute) alles ist, und wenn es nichts als Brahman gibt, dann muss alles, was ist, wo immer und wann immer auch, Brahman sein. Dies bedeutet, dass alle Abstufungen des Seins das Göttliche sind – obwohl Brahman auch jenseits seiner Emanationen als das schweigende Brahman in „selbst-absorbierter Form existiert. In den Abstufungen der Manifestation, die als die vielen Ebenen der Welt das Göttliche Wesen umfassen, verkörpert sich Brahman selbst in verschiedenen Dichtigkeitsgraden der Substanz, angefangen von den höchsten Ebenen von Sein-Bewusstsein-Seligkeit bis hinunter zur niedersten Materie und dem Unbewussten. Evolution kann nur stattfinden, wenn etwas da ist, aus dem sie sich entwickeln kann. Falls die Evolution, so wie wir sie kennen, mit der Materie ihren Anfang nahm, dann muss alles, was sich aus ihr entwickelte, bereits in ihr enthalten gewesen sein. „Auch die Materie ist Brahman. ²⁰ „Da all das in jedem Atom der Materie gegenwärtig ist, ist es notwendigerweise auch in allem gegenwärtig, was durch ein Aggregat von Atomen geformt ist, und

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