Lebendige Seelsorge 6/2022: Kirche am Nullpunkt
Von Verlag Echter und Katharina Karl
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Über dieses E-Book
Ein Vergleich der Terroranschläge des 11. Septembers mit der Krise der katholischen Kirche in Deutschland hat natürlich Grenzen: Denn so drastisch wie Nine eleven ist die Situation der Kirche am Nullpunkt nicht. Viele Menschen nehmen den Zusammenbruch der deutschen Kirche nur beiläufig wahr, für andere stürzen jedoch Teile ihrer Glaubenswelt ein. Seitdem das Ausmaß der Missbrauchsverbrechen immer ersichtlicher wird und die Polarisierung
innerhalb kirchlicher Gruppierungen zunimmt, werden weitere Brüche und Erschütterungen deutlich. Aber es gibt auch Ungleichzeitigkeiten: Vieles geht weiter wie zuvor oder es wird versucht, die Krise zu verklären, Schaden zu begrenzen oder zu überdecken.
Diese Ausgabe der Lebendigen Seelsorge beleuchtet verschiedene pastorale Bereiche in ihrer Positionierung zum Nullpunkt. Dabei werden Strategien und Muster deutlich, wie mit dem Nullpunkt umgegangen werden könnte. An dieser Reflexion haben Sie als Leserin und Leser teil und ergänzen die Perspektiven der Autorinnen und Autoren durch ihre eigenen. Natürlich geschieht dies fragmentarisch und es bleibt die Herausforderung, auch das Fehlende mitzudenken und die Abwesenheit zu reflektieren, wie es die Gedenkstätte 'Reflecting Absence' am Ground Zero tun will.
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Lebendige Seelsorge 6/2022 - Verlag Echter
THEMA
Kirche am Nullpunkt?
In den Krisen, Polarisierungen und Lagerkämpfen scheint die katholische Kirche an einem Nullpunkt angekommen. Diesen Nullpunkt zuzulassen würde bedeuten, Gewissheiten und Identifikationen, Strategien und Kontrolle loszulassen. Wo das geschieht, kann Raum für Neues, Überraschendes entstehen. Die damit verbundene Ungewissheit, wie und ob es weitergeht, kann an die Geburtsstunde des Christentums erinnern und daran, dass Gottes Handeln unverfügbar bleibt. Martin Kirschner
„Wir leben in der Stunde, in der alle Glaubensentwürfe an ihr Ende gekommen sind und wir das große Ende, das Schweigen und Dunkel bestehen müssen. Aber eben durch dieses Ende sind wir auch an den großen Anfang aller Dinge gekommen. Wir müssen vom Anfang her glauben […]" (Welte, 229). Bernhard Welte hat diese Worte in der ‚Stunde Null‘ nach 1945 unter dem Eindruck des zuerst moralischen und dann alle Bereiche umfassenden, von Deutschland ausgehenden Zusammenbruchs Europas formuliert. Vom Anfang her glauben heißt für ihn dabei, neu und „wie vom ersten Anfang her auf die Stimme der Botschaft Jesu" (Welte, 229) zu hören.
Heute ist die Situation eine andere. Wir sind als Menschheit – Gläubige wie Nicht-(mehr)-Gläubige – mit einer Fülle von Krisen und Konflikten, drohenden und bereits eintretenden Katastrophenszenarien konfrontiert, die überfordern und Angst machen. Jedoch ist dies weder das Ende noch ein großer Anfang aller Dinge, sondern vielmehr eine bedrohliche, sich verschärfende Dauerkrise. Eher treffen die Worte Weltes die kirchliche Situation, die aber mittlerweile weniger von „Schweigen und Dunkel" (Welte, 229) als von Empörung, Frust, Überdruss und Konflikten geprägt ist, die den bekannten Vatikan-Experten Marco Politi kurz vor der dritten Synodalversammlung in Deutschland von einem „schwelenden Untergrund-Bürgerkrieg in der katholischen Kirche" (Politi im Gespräch mit Schlegelmilch) sprechen lassen. Mit der Ablehnung des Grundsatzpapiers zur Sexualethik durch eine Sperrminorität der Bischöfe (bei zugleich 82 Prozent Zustimmung im Plenum) wurde bei der vierten Synodalversammlung deutlich, was er meinte.
KIRCHENKRISENÜBERDRUSS
Die lange schon voranschreitende ‚Verdunstung‘, Entkirchlichung und Exkulturation des Glaubens, die immer wieder beklagte Glaubens- und Kirchenkrise haben sich mit den Skandalen um Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung so zugespitzt, dass der Kern des Glaubens betroffen ist und vielen jenes grundlegende Vertrauen in die Kirche als Glaubensgemeinschaft verloren geht, das Voraussetzung einer Kritik ‚von innen‘ ist. Vergiftet der Missbrauch im Namen Gottes und im Raum der Kirche nicht am Ende das Evangelium selbst, sodass die Botschaft nicht mehr erkennbar ist? Hat die Kirche die Kraft zu einer Erneuerung auch auf systemischer, kultureller und theologischer Ebene? Solche Zweifel haben selbst den innersten Zirkel engagierten Gemeinden erreicht, zumal Frauen, die sich vom sakramentalen Amt ausgegrenzt und klerikal bevormundet erleben. Die Verschleppung von Reform(debatt)en ist mittlerweile einem offenen Austrag der Konflikte um die Zukunft der Kirche gewichen, der allerdings die Polarisierungen verschärft. An beiden Polen kann das zu einer ermüdenden Dauermobilisierung führen, die in Aggression oder frustrierten Rückzug umschlägt. Die großen Konflikte auf Ebene der Weltkirche und des Synodalen Wegs schlagen sich im Gemeindeleben nieder und wirken sich auch auf die Gläubigen aus, die an ihrer Kirche (ver-)zweifeln oder den Corona-Lockdown im persönlichen Rückzug vom Gemeindeleben fortsetzen. Wie vom ersten Anfang her auf die Stimme Jesu zu hören, scheint da kaum mehr möglich: Von einem großen Anfang aller Dinge ist nichts zu spüren.
Martin Kirschner
Dr. theol. habil., Prof. für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Leiter des KU Zentrum Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel (ZRKG); ständiger Diakon und Vater von vier Kindern.
Was tun? Und: Wer ist schuld? Die zweite Frage markiert einen zentralen Teil des Problems: Die Erfahrung der Krise, die Empörung und der Frust münden in eine relativ kurzschlüssige Suche nach Schuldigen. Drei typische Muster lassen sich hier erkennen: (1) Schuld an der Misere sind die ‚Konservativen‘ und ihre intriganten Netzwerke, die Amtskirche und namentlich Rom, die seit Jahren die notwendigen Reformen blockieren, die seit der Nachkonzilszeit theologisch ausgearbeitet vorliegen und nur umgesetzt werden müssten. (2) Schuld an der Misere sind die modernen Theolog:innen und Apologet:innen eines liberalen Zeitgeistes, die die Substanz des Katholischen verraten und die Missbrauchsverbrechen dazu nutzen, ihre eigene Reformagenda in der Art einer politischen Partei durchzusetzen. (3) Schuld ist die Kirche als solche, die längst an ihrem eigenen Anspruch gescheitert und nicht mehr zu retten ist: Es ist Zeit, auszutreten und mit diesem ‚Verein‘ zu brechen.
Wenn ich es so formuliere, dürfte bereits klar sein, dass ich die drei Reaktionen für einen Teil des Problems, nicht der Lösung halte. In der Bestimmung der ‚Schuldigen‘ können sich alle drei Muster mit einer je eigenen Form von Selbstgerechtigkeit verbinden. Gemeinsam ist die Weigerung, das kritisierte Gegenüber von seiner starken Seite her zu sehen und eigene Blößen und Schwächen einzugestehen. Beides würde einen Raum öffnen, in dem vom anderen etwas gelernt werden könnte. Zugleich sind aber alle drei Vorwürfen auch nicht falsch. Die geäußerte kritische Sicht markiert drei elementare Gefahren im Umgang mit der Krise: (1) Die Gefahr der Verdrängung, Reformverweigerung und Selbstbehauptung, die auch auf Kosten der Betroffenen geht und das Überkommene überhöht und gegen Kritik immunisiert. (2) Die Gefahr der Ideologisierung einer Reformagenda, die Erneuerung mit den eigenen Lösungsansätzen identifiziert und die mit ihnen verbundenen Verluste ausblendet. (3) Die Idealisierung von Kirche, die auch dort noch moralisierend bleibt, wo sie aus Enttäuschung oder Empörung zum Bruch mit der Kirche führt.
In der Krise geht es sicher nicht darum, Kritik und Vorwürfe abzuschwächen. Aber konstruktiv und spannend wird es dort, wo sie statt als Label für die Gegner:innen zum Kriterium für die Überprüfung der eigenen Position werden. Das könnte es ermöglichen, sich der ‚gegenwärtigen Stunde‘ zu stellen und nach Wegen zu suchen, mit der Situation so umzugehen, dass sich vielleicht ein neuer Raum öffnet, der weder von einem Grundkonsens noch von einem Kompromiss oder kleinsten gemeinsamen Nenner her definiert ist, sondern aus dem Eingeständnis heraus entsteht, dass die Kirche an einem Nullpunkt angelangt ist. Was ist damit gemeint?
NULLPUNKT ZWISCHEN WIDERSTAND UND ERGEBUNG
Mit dem Wort ‚Nullpunkt‘ ist zunächst gemeint, sich radikal der Situation zu stellen und sowohl Ausflüchte, Apologetik und Rechtfertigungen aufzugeben als auch die eigenen Vorstellungen von Kirche, Erwartungen, Besitzstände usw. loszulassen. Es geht um ein Moment der Resignation und Ergebung, ein Seinlassen von Gewissheiten und Zulassen von Enttäuschung, Ratlosigkeit und Anfechtung in den unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Erfahrungen und Erwartungen (vgl. Sander, 55–70). Der Nullpunkt meint dann nicht ein negativ bilanzierendes Urteil, erst recht nicht den Nullpunkt im Koordinatensystem als einen neutralen Ort, von dem aus Wirklichkeit vermessen werden könnte, sondern den Umschlag von Widerstand zu Ergebung, in dem die Situation in allen Konsequenzen angenommen wird, ohne dies sofort mit einer Stellungnahme zu verbinden. Es geht also um eine Urteilsenthaltung (Epoché), eine Haltung der Indifferenz, der Gelassenheit oder Abstandnahme, wie sie Kern spiritueller Praxis und einer philosophischen Öffnung für die Phänomene selbst ist. Das meint nicht Gleichgültigkeit oder Verantwortungslosigkeit, sondern eine Distanzierung und Relativierung gegenüber Vorstellungen, Bildern, Handlungsoptionen, mit denen ich mich selbst, andere oder die Kirche identifiziere. Es geht um ein Öffnen der Frontstellungen und Abwehrlinien, eine ‚Schleifung der Bastionen‘, ja radikaler: ein Sterbenlassen des Alten, ohne zu wissen, was kommen wird.
Ein Beispiel für eine solche Bewegung ist das an den Papst gerichtete Rücktrittsangebot von Kardinal Marx vom 21. Mai 2021, das in einem persönlichen Rückblick eine Bestandsaufnahme der Situation gibt und das eigene Amt zur Verfügung stellt. Eine solche Geste – auch wenn sie strategische Überlegungen enthalten haben mag – öffnet einen Raum, um in den Machtkämpfen und Frontstellungen den Blick auf das Eigentliche zu richten: die Opfer des Missbrauchs und eine neue Ausrichtung am Evangelium. Ein (wenn auch allgemeines) Eingeständnis von Schuld verbindet sich hier mit der Bereitschaft, auf die eigene (Macht-)Position zu verzichten, ohne die Verantwortung aufzukündigen: „Mein Dienst für diese Kirche und die Menschen endet nicht. Aber um eines notwendigen Neuanfangs willen möchte ich Mitverantwortung für die Vergangenheit übernehmen. Ich glaube, dass der ‚tote Punkt‘, an dem wir uns im Augenblick befinden, zum ‚Wendepunkt‘ werden kann. Das ist meine österliche Hoffnung und dafür werde ich weiter beten und arbeiten" (Marx).
Die Rede vom ‚toten Punkt‘ bezieht sich auf einen Text von Alfred Delp mit dem Titel „Das Schicksal der Kirchen, den er während der Berliner Haftzeit 1944/45 verfasst hat. Dort spricht er von der Notwendigkeit, dass die Kirche radikal in den Dienst und die Begleitung der Menschen tritt (Rückkehr zur Diakonie) und sich nur erneuern kann, wenn sie erfüllte, schöpferische Menschen aus sich entlässt: „Aber wie dahin kommen? Die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. […] Man soll deshalb keine großen Reformreden halten und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und zugleich sich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen
(Delp, 834).
Am Nullpunkt anzukommen heißt, in der Erfahrung der Krise am Boden anzukommen, im Sinn einer Demut als ‚humilitas‘, welche die Situation nüchtern annimmt im Vertrauen, dass der Gott, der diese Situation zulässt, auch durch sie hindurchführt. Demut ermöglicht dann auch Respekt für die jeweiligen Gegner:innen. Als tiefste und wichtigste Umkehr der Kirche fordert Alfred Delp: „Weg von der Anmaßung zur Ehrfurcht" (Delp, 834).
Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Antwort von Papst Franziskus an Kardinal Marx, auch wenn er dessen Gesuch ablehnt und die Opfer von Missbrauch nur am Rande erwähnt. Der Papst unterstreicht die Notwendigkeit, „sich der Krise auszusetzen: „Die Krise anzunehmen, als einzelner und als Gemeinschaft, das ist der einzige fruchtbringend[e] Weg; denn aus einer Krise kommt man nur in Gemeinschaft heraus, und außerdem müssen wir uns klarmachen, dass man aus der Krise als ein besserer oder als ein schlechterer Mensch hervorkommt, aber niemals unverändert.
Man müsse