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Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie: Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau
Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie: Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau
Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie: Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau
eBook1.162 Seiten11 Stunden

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie: Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau

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Über dieses E-Book

"Charisma" ist zum beliebten Modewort der Alltagssprache geworden. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung, durch persönliche Ausstrahlung im Privat- und Berufsleben erfolgreich zu sein. Im Kontext von Theologie und Kirche löst der Begriff ambivalente Reaktionen aus. Die einen richten ihre Sehnsucht nach einer geistlichen Erneuerung auf die Charismen, die sog. Gnaden- und Geistesgaben. Die anderen wittern die Gefahr unbiblischer Schwärmerei.
Doch was sind überhaupt Charismen? Welche Bedeutung haben sie für Theorie und Praxis des christlichen Glaubens? Mit diesen Fragen hat sich die Praktische Theologie seit ihren Anfängen nur selten beschäftigt. Dieses Buch stellt sich der Herausforderung und etabliert Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Es zeichnet nach, wie die neutestamentliche Charismenlehre im Laufe der Theologiegeschichte zuerst an den Rand gedrängt und schließlich wiederentdeckt wurde. Nach einer gründlichen exegetischen Klärung der biblischen-theologischen Aspekte rekonstruiert es die Bedeutung der Charismenlehre für die Praktische Theologie. Dabei tritt die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau in den Fokus. Aktuelle Herausforderungen erscheinen in einer neuen Perspektive: Welche Chancen und welche Gefahren beinhalten die sog. Gabentests? Welches pastorale Leitbild entspricht der Verheißung des Geistes und seiner Gaben? Welche Prinzipien geistlichen Gemeindeaufbaus lassen sich aus ihr ableiten? In welchem Verhältnis steht das Charisma zur natürlichen Begabung und zur Kompetenz, die ein Mensch durch Bildungszwecke erwerben kann?
Die gesamte Arbeit ist von der Grundüberzeugung getragen, dass in den Charismen das Handeln des dreieinen Gottes und das Mitwirken des Menschen zusammenkommen. Das Charisma ist die menschliche Praxis Gottes.
Das Buch wurde 2012 mit dem Johann-Tobias-Beck-Preis prämiert.
Die vorliegende zweite Auflage wurde für die digitale Veröffentlichung bearbeitet. Eine Printversion ist bei epubli (POD) erhältlich.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum26. Jan. 2018
ISBN9783745087772
Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie: Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau

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    Buchvorschau

    Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie - Dirk Kellner

    Dirk Kellner

    Charisma als Grundbegriff der

    Praktischen Theologie

    Die Bedeutung der Charismenlehre für die

    Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau

    Impressum

    © 2018 Dirk Kellner

    2. korrigierte und für die digitale Veröffentlichung bearbeitete Auflage

    Die erste Auflage erschien 2011 als Print-Ausgabe im TVZ Zürich (ISBN-13: 978-3290175818)

    Das Cover enthält eine bearbeitete Aufnahme von Gunther Klenk (churchphoto.de)  

    Verlag:

    Dirk Kellner

    Am Neugraben 4

    79585 Steinen

    dirk.kellner@posteo.de

    ISBN e-Book: 978-3-7450-8777-2               

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Vorwort des Autors zur zweiten Auflage

    Die erste Auflage dieses Werkes ist seit einiger Zeit vergriffen. Hin- und wieder erreichen mich Anfragen nach einer Neuauflage. Das Interesse ist unterschiedlich motiviert: Die einen befassen sich exegetisch, theologiegeschichtlich oder dogmatisch mit der Charismenlehre, die anderen wollen  einen Überblick über die Oikodomik und Pastoraltheologie gewinnen, manche suchen Impulse zu Einzelthemen wie zum Beispiel dem Verhältnis von Heiligem Geist und pastoraler Kompetenz, von Geistesgabe und natürlicher Begabung, von Ordination und innerer Berufung.  

    Mit der zweiten Auflage und digitalen Veröffentlichung komme ich diesen Bedürfnissen nach und mache das Buch zugleich denen zugänglich, die die höheren Kosten der Druckausgabe bislang scheuten.

    Die Rezensionen der  ersten Auflage waren durchweg positiv und würdigten den Ansatz, die Praktische Theologie grundzulegen in der Praxis Gottes, die uns als Auftrag, Verheißung und Wirklichkeit begegnet. Es freut mich, dass diese Impulse aufgenommen wurden, so zum Beispiel im praktisch-theologischen Grundriss von Stephan Schweyer und Helge Stadelmann (Brunnen 2017).

    Bereits 2012 wurde die Arbeit mit dem Johann-Tobias-Beck-Preis prämiert. Dr. Eckhard Hagedorn wünschte ihr in seiner Laudatio «Leserinnen und Leser, ja wirkliche Studierende unter denen, die in der Praktischen Theologie Verantwortung tragen für Forschung und Lehre, für die Gestaltung von Curricula und für den wissenschaftlichen Nachwuchs». Besonders freut mich seine Zuversicht, dass «auch die Praktiker, die eigentlich für dieses Buch zunächst keine Zeit haben und sie sich dann doch nehmen,... für diese ihre ‹Tapferkeit vor dem Buch› belohnt werden».

    Auch die zweite Auflage dieses Buches widme ich meiner Frau und meinen Kindern. Sie sind - jeder auf seine Art - Spiegel der bunten und kreativen Gnade Gottes. 

    Ich danke dem Heilsarmee Bildungszentrum Basel/Biel und dem Theologischen Seminar Chrischona für die Möglichkeit, nebenberuflich einzelne Module zu unterrichten. Die Dozententätigkeit machte Freude, sie motivierte und forderte mich heraus, trotz der vielfältigen Aufgaben im Gemeindedienst die theologische Weiterbildung nicht zu vernachlässigen.

    Zuletzt danke ich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der evangelischen Kirchengemeinde Steinen. Der treue Einsatz ihrer Gaben und die Bereitschaft, sich von Gottes Geist leiten und in Dienst nehmen zu lassen, sind eine lebendige und ermutigende Erinnerung an die Verheißung Jesu: «Ich werde meine Gemeinde bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.» (Mt 16,18)

    Vorwort des Autors zur ersten Auflage

    Wer eine Arbeit über die praktisch-theologische Bedeutung der Charismenlehre schreibt und Charisma als einen Grundbegriff der Praktischen Theologie erweisen will, betritt wenig begangene Wege, zum Teil Neuland. Wie jede Expedition in eine ‹terra incognita› ist diese Unternehmung ein Wagnis. Sie steht in der Gefahr, sich im Dickicht der Details zu verlieren, ohne grundlegende Wegmarkierungen herauszuarbeiten.

    Dass die vorliegende Dissertation trotz ihres Umfangs vor dieser Gefahr bewahrt wurde, verdanke ich meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Zimmerling (Leipzig), der mich immer wieder zu exemplarischem Arbeiten ermutigt und ermahnt hat. Seine lutherische Akzentuierung reformatorischer Theologie war ein wichtiger Kontrapunkt zu den reformierten Prägungen, die ich als Kind der badischen Bekenntnisunion erfahren habe. Die spannenden Diskussionen führten zwar nicht immer zu einer Veränderung der Standpunkte, waren aber stets gewinnbringend und bereichernd.

    Danken möchte ich Herrn Prof. em. Dr. Peter Stuhlmacher, Herrn Prof. em. Dr. Christian Möller und der Sozietät der theologischen Fakultät Leipzig. Ihr Interesse und ihre Ermutigung haben diese Arbeit gefördert. Weiterhin gilt meine Anerkennung den unermüdlichen Korrekturleserinnen und Korrekturlesern, von denen ich stellvertretend Herrn Pfr. i. R. Reinhard Fritsche, Herrn Pfr. Dr. Eckhard Hagedorn, Frau Pia von Usslar-Gleichen und Frau Pfrin Christine Gellrich erwähne. Für die Promotionsförderung durch die Deutsche Studienstiftung danke ich deren Präsidenten Herrn Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth.

    Der Theologische Verlag Zürich hat die Arbeit in sein Verlagsprogramm übernommen und mir durch Frau Marianne Stauffacher eine freundliche und kompetente Ansprechpartnerin zugewiesen. Die Evangelische Kirche in Baden, die Evangelische Kirche in Deutschland und die Georg-Strecker-Stiftung haben die Veröffentlichung durch großzügige Druckkostenzuschüsse gefördert. Dafür ein herzliches Dankeschön.

    Der Impuls zu dieser Untersuchung kam aus der Praxis. In den Kirchengemeinden, in denen ich in den letzten Jahren haupt- und ehrenamtlich tätig war, spiegelte sich die bunte Vielfalt der bewegenden Gnade Gottes wider, die Menschen als Charisma zuteil wird. Mein Dank gilt daher auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchengemeinde Sulzfeld, der Gemeinde an der Christuskirche Lörrach und der Petrusgemeinde Steinen.

    Zu guter Letzt danke ich den vielen Menschen, die mich in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit auf vielfältige Weise unterstützt haben: meinen Eltern, meinen Freunden, den Leuten von ChurchConvention und vor allem meiner Frau Sanne und unseren Kindern Matthea und Jonathan. Sie gehören (im übertragenen Sinn) zu den größten «Gnadengeschenken», die mir Gott anvertraut hat.

    Der Epheserbrief spricht von der «Herrlichkeit» und dem «überschwänglichen Reichtum» der Gnade Gottes (Eph 1,6; 2,7), die sich den Menschen nie gänzlich erschließt, sie aber zu Lob und Anbetung bewegt. Und so danke ich letztlich, dass mich das theologische Nach-Denken über die Charismen bei allen noch offenen Fragen immer wieder ins Danken und Staunen über ihren Urheber geführt hat. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern eine ähnliche Erfahrung.

    1 Einleitung

    1.1 Problemstellung und Forschungsstand

    «Charisma» ist zu einem beliebten Modewort der Alltagssprache geworden. Mit ihm verbindet sich die Sehnsucht nach etwas Außergewöhnlichem, nach etwas Besonderem, das die Routine durchbricht und Farbe in das Grau des Alltags bringt. Wer eine Anleitung zur Verbesserung des persönlichen Charismas auf dem populären Buchmarkt veröffentlicht, kann mit einem guten Absatz rechnen. Wer möchte nicht mehr Charisma haben, mehr gewinnende Ausstrahlungskraft besitzen, mehr bewundernde Aufmerksamkeit erfahren? Charisma ist für viele eine Zauberformel, die privaten und beruflichen Erfolg zu garantieren scheint.

    Äußerst divergente Reaktionen löst der Begriff im Kontext von Theologie und Kirche aus. Hoffnungen und Ängste werden wachgerufen, wenn das Charisma zum Thema wird. Während der eine seine Sehnsucht nach geistlicher Erneuerung des eigenen Glaubens und der gesamten Kirche auf das Charisma richtet, wittert der andere die Gefahr eines schwärmerischen Enthusiasmus. Beide ahnen: Im Charisma konkretisiert und manifestiert sich die Dynamis des Geistes, dessen Wirken Altes überholt, Neues schafft und sich dabei nicht immer nach unseren dogmatischen Prämissen und kirchlichen Institutionen richtet. «Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde», so dichtet Kurt Marti.[1]

    Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird der Charismenlehre eine zunehmende Beachtung in der wissenschaftlichen Theologie zuteil. Vor allem in der historischen, exegetischen und dogmatischen Forschung erschienen zahlreiche Untersuchungen. Doch kommt ihr auch in der Praktischen Theologie eine besondere Bedeutung zu? Konnte sich Charisma als praktisch-theologischer Grundbegriff etablieren? Wenn Ernst Käsemanns Feststellung zutrifft, dass der Begriff «Wesen und Aufgabe aller kirchlichen Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt»[2] und die Charismenlehre nichts anderes ist als eine «Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein»[3], dann müsste ihr eine praktisch-theologische Relevanz zukommen, die der systematisch-theologischen Bedeutung des articulus stantis et cadentis ecclesiae vergleichbar wäre.[4] Charisma müsste ein Grundbegriff der Praktischen Theologie sein.[5]

    Praktisch-theologische Grundbegriffe sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie in Handbüchern und Enzyklopädien zum Thema eingehender Reflexionen werden. So wird man zum Beispiel in keinem dieser Werke ausführliche Erörterungen zu «Kirche» oder «Amt» vermissen müssen, bündeln sich in diesen Grundbegriffen doch zentrale theologische Fragen und Einsichten. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Begriff des Charismas? Konsultiert man die enzyklopädischen Werke der letzten Jahrzehnte, wird man nur selten fündig. Im «Wörterbuch des Christentums» (WdC) und in der vierten Auflage des Handwörterbuchs «Religion in Geschichte und Gegenwart» (RGG 4. Aufl.) fehlen praktisch-theologische Ausführungen zum Stichwort «Charisma». Es bleibt bei religionswissenschaftlichen, soziologischen, exegetischen und systematisch-theologischen Erörterungen.[6] Dem Charisma bzw. der Charismenlehre scheint keine praktisch-theologische Relevanz zuzukommen – ganz im Gegensatz zu «Amt» oder «Pfarrer», die beide explizit zum Gegenstand praktisch-theologischer Betrachtung werden.[7] Eine Ausnahme bildet Rudolf Landaus Artikel in der «Theologischen Realenzyklopädie» (TRE), der lakonisch mit der Bemerkung einsetzt: «Die Charismen waren kein zentrales Thema der Praktischen Theologie von ihren Anfängen bei Schleiermacher an.»[8] Die praktisch-theologischen Handbücher zeigen ein ähnliches Bild. Das Fehlen eines entsprechenden Artikels in den von Peter C. Bloth und Heinrich Ammer herausgegebenen mehrbändigen Werken lässt sich durch ihre spezielle Architektonik erklären. Auffallend ist allerdings, dass das von Birgit Weyel und Wilhelm Gräb herausgegebene «Handbuch Praktische Theologie» Charisma weder zu den «Grundbegriffen» zählt, die als «stets wiederkehrende elementare […] Begriffe einer Einführung bedürfen», noch zu den «Phänomenen» rechnet, die die Religionspraxis in ihren vielfältigen kulturellen und institutionellen Erscheinungsformen prägen.[9]

    Wie ist das weitgehende Schweigen der Praktischen Theologie zu deuten? Kann man mit Cicero «cum tacent, clamant»[10] behaupten und in der geringen Berücksichtigung des Charismas einen Hinweis sehen, dass die Pneumatologie nur marginale Bedeutung für die Praktische Theologie hat und das überwunden geglaubte pastorale Paradigma weiterhin seinen verborgenen Einfluss ausübt? In dieser pauschalen Gestalt ist das Urteil sicherlich nicht angemessen, dennoch sollte es die Praktische Theologie mit Unbehagen erfüllen, dass ein biblisch-theologischer Zentralbegriff wie Charisma, bzw. die sich in ihm bündelnde Charismenlehre, bisher kaum Eingang in sie gefunden hat.

    Dieses Unbehagen ist seit dem 19. Jahrhundert vereinzelt geäußert worden. David Schulz sieht in der Charismenlehre eine «tief eingreifende Grundlehre des Christentums», die unmittelbaren Einfluss «auf die Gestaltung des Lebens der Christgläubigen» hat.[11] Umso bedauerlicher sei daher, dass man «eine den wichtigen Gegenstand in dasjenige Licht setzende Arbeit, dessen derselbe […] wohl empfänglich scheint, fortdauernd vermisst»[12]. Hermann Cremer klagt in ähnlicher Weise, dass «dort, wo man eine eingehendere Behandlung erwarten sollte, in den Arbeiten zur praktischen Theologie, […] man dieselbe vergebens [suche]»[13]. Moritz Lauterburg schließt seine grundlegende Untersuchung mit dem Wunsch, dass «insbesondere in den Arbeiten zur praktischen Theologie […] der Begriff des Charisma nicht länger vermißt werden»[14] sollte. Wie bereits deutlich wurde, hat sich dieser Wunsch bisher nur zum Teil erfüllt. So bemerkt schließlich Rudolf Bohren im Blick auf die Arbeiten von Ernst Käsemann und Eduard Schweizer zum paulinischen Verständnis charismatischer Gemeinde, dass «die praktisch-theologische Relevanz der exegetischen Ergebnisse bis jetzt nicht annähernd ausgeschöpft worden» sei.[15]

    Andererseits sind Versuche nicht zu übersehen, die Charismenlehre aus ihrem Schattendasein zu befreien und ihr die Relevanz, die ihr exegetisch und dogmatisch zugesprochen wird, auch in der praktisch-theologischen Reflexion zukommen zu lassen. So betonen z.B. einige Konzepte des missionarischen Gemeindeaufbaus die grundlegende Bedeutung, die den Charismen der Mitarbeitenden zukommt. Christian Möller regt an, den Begriff «Charisma» für die Pastoraltheologie wiederzugewinnen und könnte dabei auf August F. Chr. Vilmar oder Carl Immanuel Nitzsch verweisen.[16] Schließlich fragt Rudolf Bohren nach der Möglichkeit, die Praktische Theologie grundsätzlich «als Charismatik»[17] zu entwerfen.

    Eine umfassende Übersicht und kritische Würdigung der vorhandenen Ansätze ist seit über einem Jahrhundert nicht mehr erarbeitet worden. Ebenso fehlt ein Versuch, die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre in kritisch-konstruktiver Aufnahme der exegetischen und systematisch-theologischen Forschung prinzipiell zu begründen und zu entfalten. Beides stellt ein Desiderat praktisch-theologischen Arbeitens dar und umschreibt das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

    Im Jahre 1898 veröffentlichte der Berner Pfarrer Moritz Lauterburg mit seiner Dissertation die erste monographische Abhandlung, die die praktisch-theologische Rezeption der Charismenlehre nachzeichnet und grundsätzlich nach der Bedeutung des Begriffs Charisma für die Praktische Theologie fragt.[18] Er geht dabei von der Prämisse aus, dass es sich bei der paulinischen Charismenlehre nicht um eine «Illusion über vermeintliches Hineinragen höherer geistlicher Kräfte in diese Welt» handle, sondern sie auf der «Realität des durch den Glauben an Christum sich den Menschen mitteilenden Gottesgeistes» beruhe.[19] Daher komme ihr mehr als nur ein geschichtlicher Wert, sondern «ein stetsfort actuelles Interesse»[20] zu. Lauterburgs Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile:

    Zunächst bietet er eine «Entwicklung des Begriffes Charisma im Anschluss an Paulus»[21]. Er hebt dabei vor allem seinen «transitiven Charakter» hervor: «Sein Ursprung und Inhalt ist die Gnade Gottes, welche einen einzelnen also zu ihrem Organe macht, daß er andern die göttliche Gabe vermittelt.»[22] Der pneumatische Ursprung und die Ausrichtung auf die Gemeinde sind die beiden konstitutiven Elemente.[23] Umgekehrt haben aber auch die Charismen eine zentrale ekklesiologische Bedeutung. Sie sind «Lebensbethätigungen der Gemeinde als solcher»[24]: «Was irgend der Gemeinde dienlich und förderlich ist, es geschehe nun durch das Mittel des Worts oder der That, kraft unmittelbaren oder überlegten Handelns, beruht auf einem Charisma.»[25]

    Der zweite Hauptteil zeichnet die «geschichtliche Entwicklung des Begriffes Charisma» von den Apostolischen Vätern bis in die Neuzeit in groben Zügen nach. Bereits in den ersten Jahrhunderten sei das Charisma zunehmend auf das Gebiet des Wunderhaften verlegt worden, so dass der «für die Kirche fruchtbare Begriff»[26] weitgehend verloren gegangen sei. Erst im 19. Jahrhundert sei zu Bewusstsein gekommen, «daß dieser Begriff der Theologie und der Kirche wohl noch etwas mehr zu sagen hätte, als bisher geschehen ist»[27].

    Im dritten Hauptteil erarbeitet Lauterburg schließlich «die Bedeutung des Begriffes Charisma für die praktische Theologie».[28] Er skizziert sie zunächst für die «principielle Lehre von Wesen und Erfordernissen des geistlichen Amtes» und entwickelt ein Verständnis der inneren Berufung zum kirchlichen Amt (vocatio interna ad ministerium), die sich vollständig durch die charismatische Ausrüstung konstituiert. Die Vocatio könne nicht das Produkt eigener Frömmigkeit oder Bildung, sondern müsse eine freie Gabe des Geistes sein, die zugleich eine besondere Aufforderung an den Menschen enthält. «Das ist aber eben das Charismatische.»[29] Weiterhin lässt Lauterburg von der Charismenlehre her «Licht auf die drei großen Principienfragen»[30] der Praktischen Theologie fallen. Sie kläre die Frage nach einem «echt reformatorischen […] und […] praktisch verwertbaren Kirchenbegriff»[31], nach der «Stellung des geistlichen Amtes»[32] und dem Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie. Abschließend skizziert Lauterburg ein Verständnis von Praktischer Theologie als «Charismatik»[33], «als die Lehre von den durch die Charismen vermittelten Thätigkeiten zur Erbauung der Gemeinde Christi»[34].

    Insgesamt geurteilt, bietet Lauterburgs Studie viele wertvolle Einsichten, die von der Praktischen Theologie bisher kaum wahrgenommen wurden.[35] Nach über 100 Jahren bedürfen sie allerdings einer kritischen Prüfung, Aktualisierung, Ergänzung und Bewährung im Kontext gegenwärtiger praktisch-theologischer Ansätze und Fragestellungen.[36]

    Silke Obenauers Dissertation «Vielfältig begabt», die nach der Fertigstellung und Einreichung der eigenen Untersuchung erschien (2009), ist seit Lauterburgs Impuls die erste praktisch-theologische Monographie, die sich intensiver mit der Thematik befasst.[37] Sie entwickelt ausgehend von gemeindepraktischer Literatur eine Theorie der gabenorientierten Mitarbeit in der evangelischen Kirche. In diesem Zusammenhang rekurriert sie exegetisch und systematisch-theologisch auf die «Gaben»; der Begriff «Charisma» bzw. «Charismen» wird von Obenauer weitgehend gemieden. «Gabe» definiert sie als «eine vom dreieinigen Gott aus Gnade jedem Christen individuell gegebene Begabung…, die von Gott je aktuell und ereignishaft in Dienst genommen wird und derart vom Empfänger zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschen eingesetzt wird.»[38] Der Zielrichtung der Dissertation entsprechend konzentriert sich Obenauer auf gemeindepraktische und kirchentheoretische Fragen. Die Auswahl der Literatur und die Perspektive ihrer Bearbeitung orientiert sich an der zu entwerfenden Theorie der gabenorientierten Mitarbeit, so dass die grundlegende Bedeutung der «Gaben» für den untersuchten (oikodomischen) Teilbereich ersichtlich wird. Die vorliegende Arbeit öffnet einen breiteren Fragehorizont. Sie rekonstruiert die Rezeption der Charismenlehre in zwei Teildisziplinen der Praktischen Theologie und fragt grundsätzlich nach ihrer praktisch-theologische Relevanz. Obernauers Studie bietet aber anregende Impulse und wichtige Einsichten, die eine erfreuliche Kongruenz zur vorliegenden Arbeit aufweisen. Trotz jeweils unterschiedlicher Akzentuierung entsprechen sich nicht nur die Versuche einer trinitarischen Konzeption der Charismenlehre, sondern auch die Betonung des habituellen und dynamisch-ereignishaften Moments der Charismen.[39]

    1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

    Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, Charisma als einen Grundbegriff der Praktischen Theologie zu erweisen. Die Spezialisierung, die die Praktische Theologie seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplin erfahren hat, nötigt zu einem exemplarischen Vorgehen.[40] Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird zunächst im Kontext der Pastoraltheologie und Oikodomik validiert. In diesen beiden Teildisziplinen ist es bereits seit Mitte des 19. bzw. 20. Jahrhunderts vereinzelt zu einer Rezeption der Charismenlehre gekommen, von der aus sich ihre Bedeutung erheben und im Kontext gegenwärtiger Fragestellungen bewähren lässt. In der oikodomischen und pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre spiegelt sich ihre grundsätzlich praktisch-theologische Bedeutung wider. Durch einen Transfer der Ergebnisse in weitere Teildisziplinen und ins Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena lässt sich Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie erweisen.

    Die Arbeit gliedert sich in fünf Argumentationsschritte:

    1. Ein theologiegeschichtlicher Abriss skizziert die zunehmende theologische Marginalisierung der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz im 19. und 20. Jahrhundert (Kapitel 2). Dabei werden zum einen Fehldeutungen erkennbar, die teilweise bis in die Gegenwart wirksam sind und die praktisch-theologische Wahrnehmung der Charismenlehre trüben. Zum anderen zeigen sich Einsichten und offene Problemdiskussionen, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sind und einer weiterführenden Reflexion bedürfen.

    2. Die beiden folgenden Kapitel rekonstruieren die Rezeption, die die Charismenlehre in der Oikodomik (Kapitel 3) und in der Pastoraltheologie (Kapitel 4) erfahren hat. Anhand von jeweils fünf repräsentativen Positionen wird der Beitrag erhoben, den die Charismenlehre im Kontext der jeweiligen Argumentation zu praktisch-theologischen Fragestellungen leistet und an dem sich ihre oikodomische bzw. pastoraltheologische Relevanz ablesen lässt.

    3. In der praktisch-theologischen Rezeptionsgeschichte zeigen sich problematische Implikationen eines biblisch-theologisch unzureichend geklärten Charismabegriffs. Daher wird als Zwischenschritt eine kriteriologische Vergewisserung erforderlich, die die Grundlinien der Charismenlehre biblisch-theologisch rekonstruiert (Kapitel 5). Sie intendiert keinen eigenständigen exegetischen oder systematisch-theologischen Forschungsbeitrag, sondern zielt auf einen praktisch-theologischen Charismabegriff, der Vereinseitigungen und Defizite in der gegenwärtigen Rezeption überwindet und die Frage nach der oikodomischen bzw. pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre einer umfassenden, kriteriologisch vergewisserten Antwort zuzuführen vermag.

    4. Die Ergebnisse der ersten drei Arbeitsschritte werden gebündelt, kritisch-konstruktiv weiterentwickelt und in die aktuelle oikodomische (Kapitel 6) und pastoraltheologische Diskussion (Kapitel 7) eingebracht. Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird anhand des Beitrages erhoben, den sie zum vertieften Problembewusstsein bzw. zur kreativen Lösungsfindung bei umstrittenen oder auch vernachlässigten Fragen beisteuert. Die Arbeit zielt dabei nicht auf die Entwicklung einer eigenständigen Gemeindeaufbaukonzeption oder Pastoraltheologie. Sie benennt aber ausgehend von der Charismenlehre regulative Prinzipien, die sich als kritisch-konstruktive Theorieelemente in eine solche einfügen lassen.

    5. Das letzte Kapitel versucht, die praktisch-theologische Bedeutung der Charismenlehre in weiteren Subdisziplinen (Homiletik und Poimenik) und im Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena exemplarisch zu verifizieren (Kapitel 8).

    Charisma erweist sich als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Charisma wird nicht zum Zauberwort, das der Theorie alle Probleme löst oder der Praxis oikodomischen und pastoralen Erfolg garantiert. Die Charismenlehre eröffnet aber eine Reflexionsperspektive, die der Theorie und der Praxis den Blick auf die Promissio des Geistes lenkt, der in Freiheit und Treue «einem jeden zuteilt, wie er will», und «alles in allen» wirkt (1Kor 12,6.11). Damit wird die Charismenlehre zu einem integralen Bestandteil einer Praktischen Theologie, die das biblische Zeugnis nicht als gesetzliche Norm, sondern als Verheißungsperspektive «wahr-nimmt». Der, «der ist, der war und der kommt» (Offb 1,4), ist aller Theorie und Praxis des christlichen Glaubens voraus und will doch in ihr Gestalt gewinnen.[41]

    2 Die Marginalisierung der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz

    Die Charismenlehre wurde im Laufe der Theologiegeschichte nur selten zum Thema eingehender Reflexionen. In den großen theologischen Systemen kam ihr meist nur eine marginale Bedeutung zu. Ihre Behandlung wurde vielmals erst durch Erneuerungsbewegungen angestoßen und gefördert, die innerhalb oder außerhalb der institutionell verfassten Kirche für eine Realisierung des allgemeinen Priestertums und die Freisetzung der charismatischen Vielfalt eintraten.[42] Die Charismenlehre blieb aber weitgehend ein Randthema der akademischen Theologie. Erst im 19. und 20. Jahrhundert kam es allmählich zu einer Wieder- bzw. Neuentdeckung der Charismenlehre und ihrer theologischen Relevanz.[43]

    Die Gründe für die Marginalisierung sind vielschichtig. Sie hängen einerseits mit der pastoralen Orientierung der traditionellen Theologie zusammen, sind andererseits aber auch durch eine einseitige Rezeption der Charismenlehre bedingt, die sich bereits seit der Alten Kirche abzuzeichnen beginnt. Die Charismen werden zunehmend als wunderhafte pneumatische Erscheinungen der ersten Christenheit verstanden. Ihre theologische Bedeutung beschränkt sich damit auf die historische Betrachtung der Anfangszeit der Kirche. Charisma wird zu einem musealen Begriff, der im Schaukasten der Geschichte betrachtet werden kann, aber seine grundlegende Relevanz für das kirchliche Leben und die theologische Reflexion verloren hat. Begleitet und begünstigt wird diese Entwicklung durch die allmähliche Übertragung zentraler Gemeindefunktionen auf das kirchliche Amt. Was die paulinische Charismenlehre der ganzen Gemeinde zuspricht, konzentriert und beschränkt sich letztlich auf den in seiner unverlierbaren geistlichen Würde von der Gemeinde unterschiedenen Amtsträger. Das jedem Glaubenden verheißene Charisma wird zum Privileg des kirchlichen Amtes.

    Im Folgenden werden die Entwicklung der mirakulösen und pastoralen Usurpation der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz skizziert. Angestrebt ist dabei keine erschöpfende kirchen- oder theologiegeschichtliche Studie,[44] sondern ein exemplarischer Überblick in praktisch-theologischem Interesse.[45] Eine Untersuchung zur praktisch-theologischen Rezeption und Relevanz der Charismenlehre muss theologiegeschichtliche Erblasten klären und vergessene Einsichten vergegenwärtigen, wenn überkommene Verengungen aufgedeckt und weiterführende Impulse aufgenommen werden sollen.

    2.1 Die mirakulöse und pastorale Usurpation der Charismenlehre und die Marginalisierung ihrer theologischen Relevanz

    2.1.1 Von Clemens bis Origenes: Die Frage nach der Aktualität der Charismen

    Die grundlegende theologische Bedeutung, die dem Charisma in der paulinischen Ekklesiologie zukommt, findet in der nachneutestamentlichen Zeit zunächst wenig Widerhall. Bei den Apostolischen Vätern erscheint der Begriff χάρισμα zwar mehrmals im formalen Anklang an paulinische Formulierungen, doch nur in 1Clem 37,5–38,2 wird das theologische Konzept, das der Apostel mit dem Begriff verbunden hat, inhaltlich aufgenommen und für die eigene Argumentation fruchtbar gemacht.[46] Angesichts der Spannungen zwischen Jung und Alt ermahnt Clemens die korinthische Gemeinde, wie Glieder in einem Leib zusammenzuwirken, und fordert: «Jeder soll sich seinem Nächsten unterordnen, wie es in seiner Gnadengabe bestimmt ist.»[47] Die paulinische Einsicht in den göttlichen Ursprung, die Universalität und den Gemeindebezug des Charismas klingt im Kontext an: Jeder wird von Gott mit einem Charisma begabt und ist als einzelnes Glied für die Gesamtheit des Leibes von Bedeutung (vgl. auch 1Clem 46,7). Die nach alttestamentlichem Vorbild gestaltete Unterscheidung von Priester und «Laie» (λαϊκὸς ἄνθρωπος),[48] die jedem einen festen «Platz» (τόπος) in der «Ordnung» (τάγμα) der Gemeinde zuweist (1Clem 40,5 vgl. u.a. 40,1; 41,1; 42,2) und der der erste Clemensbrief seine Beurteilung als frühkatholische Schrift verdankt,[49] ist noch nicht mit einer Beschränkung des Charismas auf den Amtsträger verknüpft. Sie tendiert aber bereits zu einer Abschwächung der Souveränität des Geistes bei der Verteilung der Charismen. Als einmal ausgeteilte und habituell verfügbare Größe führt das Charisma einerseits zu einer rechtlich fixierten Privilegierung einzelner Personen, andererseits zur Einschränkung des Dienstes des «Laien» auf das Nichtkultische (1Clem 41,1–4). Eine Eingrenzung der Charismen auf wunderhafte Phänomene ist im ersten Clemensbrief dagegen nicht zu finden. Im Unterschied zu Paulus wird das Charismatische sogar ins Ethische und Soziale ausgeweitet. Nach 1Clem 38,2 haben nicht nur der Weise (vgl. 1Kor 12,8) und der Enthaltsame (vgl. 1Kor 7,7) ein besonderes Charisma empfangen, sondern auch der Demütige, der Starke, der Schwache, der Reiche und der Arme.[50]

    Ein anderes Bild beginnt sich bei den Apologeten des zweiten Jahrhunderts abzuzeichnen. Justin und Irenäus sind von der bleibende Aktualität der Charismen «bis auf den heutigen Tag»[51] und ihrer konstitutiven Bedeutung für das tägliche segensreiche Wirken der Kirche überzeugt. Die Charismen werden von Christus an jeden Glaubenden, «den er für würdig erachtet»[52], durch den Geist ausgeteilt – und zwar an Männer und Frauen.[53] Wahrer Jünger bzw. wahre Jüngerin Christi zu werden und mit Gaben des Geistes beschenkt zu werden, ist für Justin untrennbar miteinander verbunden.[54] In ähnlicher Weise schreibt Irenäus:

    «Deshalb tun in dessen Namen auch seine wahren Jünger, die von ihm die Gnade empfangen haben, Wunder, zum Segen der übrigen Menschen, je nachdem jeder das Gnadengeschenk (δωρεά) von ihm bekam. Die einen treiben nämlich wirklich und wahrhaftig Dämonen aus […]; andere wissen die Zukunft voraus und haben Gesichte und Weissagungen; noch andere heilen durch Handauflegung die Kranken und machen sie wieder gesund. Auch Tote sind schon erweckt worden […] und haben noch eine beträchtliche Zahl von Jahren unter uns gelebt. Was weiter? Es läßt sich die Zahl der Gnadengaben (χαρίσματα) nicht angeben, mit denen die Kirche, die sie von Gott empfing, überall auf der Welt im Namen Jesu Christi […] Tag für Tag zum Segen der Völker wirkt, ohne jemand zu täuschen oder Geld dafür zu nehmen.»[55]

    Irenäus lehnt sich in den zitierten Versen zum Teil an den biblischen Sprachstil an.[56] Die beispielhafte Aufzählung einzelner Charismen orientiert sich an den wunderhaften Gaben aus 1Kor 12,8–10 und Mk 16,17f. Erwähnt werden Exorzismen, prophetische Weissagungen, Krankenheilungen und Totenauferweckungen,[57] während weniger spektakuläre Charismen wie z.B. seelsorgliche Ermahnung (Röm 12,6) oder fürsorgliche Hilfeleistung (1Kor 12,28) ungenannt bleiben. Diese Eingrenzung ist zwar aus der polemischen Abgrenzung gegenüber den aufsehenerregenden und auf eigenen Profit ausgerichteten magischen Praktiken der Gnostiker verständlich,[58] zeigt aber eine grundsätzliche Tendenz, die Charismen «aus dem nüchternen Gebiet der Gemeindeerbauung in das Gebiet der σημεῖα und τέρατα, des Prodigiösen, hinüberzuziehen»[59]. Der wunderhafte Aspekt, den Paulus im Konflikt mit dem korinthischen Enthusiasmus zwar nicht aus dem Charisma ausgeschlossen, aber als nicht konstitutiv erachtet hat, tritt nun ins Zentrum des Begriffs.

    Die Auseinandersetzung mit dem Montanismus hatte einen nicht geringen Einfluss auf das sich wandelnde Verständnis der neutestamentlichen Geistesgaben. Der Anspruch der Bewegung, «die charismatische Fülle der Apostelzeit weiterzuführen»[60], und die großkirchliche Ablehnung der ekstatischen Prophetie führten zu einer Festigung der sich allmählich abzeichnenden Identifikation von Charisma und außerordentlichem Wunder.[61] Bereits das Insistieren auf der bleibenden Bedeutung der neutestamentlichen Charismen konnte unter den Verdacht des Häretischen gelangen. Der «Rauhreif», der nach einer eingängigen Formulierung Urs von Balthasars mit Montanus auf die christliche Charismatik gefallen war, ist «nie wieder ganz behoben» worden.[62] Da zugleich versäumt wurde, den Charismen «den ihnen zukommenden Platz in der Kirche und ihrer Theologie anzuweisen»[63], konnte seit der Mitte des dritten Jahrhunderts die Frage nach der Fortdauer der neutestamentlichen Charismen nicht mehr durch einen Hinweis auf ihre gegenwärtige Fülle, sondern musste zurückhaltender und vorsichtiger beantwortet werden. Attestierte Ignatius am Anfang des zweiten Jahrhunderts der Kirche noch, dass sie überaus reich mit Charismen beschenkt sei,[64] so findet sich bei Origenes zum ersten Mal eine Klage über ihren Rückgang.

    «Wundere dich aber nicht, wenn jetzt keiner mehr gefunden wird, der in Gottes Augen wahrhaftig weise ist. Denn die meisten der besonderen Charismen sind vergangen, so dass sie entweder gar nicht (mehr) oder nur (noch) selten gefunden werden.»[65]

    Die Charismenfülle der urchristlichen Zeit ist zwar vergangen und mit ihr die außerordentlichen Wunder, von denen in der Gegenwart nur noch «Spuren» zu finden sind.[66] Dennoch ist χάρισμα bei Origenes nicht «zu einem archaischen Begriff»[67] geworden, denn die sich im zweiten Jahrhundert andeutende Entwicklung zu einem mirakulösen Verständnis wird bei Origenes nicht fortgesetzt. So bezeichnet er einerseits die Taufe als «Anfang und Quelle der göttlichen Charismen»[68]. Andererseits folgert er – gemäß seiner Hochschätzung der Wissenschaft und Erkenntnis – aus der Reihenfolge des «Kataloges der von Gott gegebenen Charismen» (nach 1Kor 12,8–10), dass die Wunderkräfte und Heilungen den keineswegs vergangenen vernunft- bzw. worthaften Charismen (λογικὰ χαρίσματα) unterzuordnen sind.[69]

    2.1.2 Die Apostolischen Konstitutionen: Ein Demutsappell an die charismatisch begabten Amtsinhaber

    Die Apostolischen Konstitutionen, eine apostolische Verfasserschaft beanspruchende heterogene Sammlung und Überarbeitung verschiedener kirchenrechtlicher und liturgischer Ordnungen aus dem 4. Jahrhundert,[70] enthalten zu Beginn des achten Buches den ersten und einzigen erhaltenen Text aus altkirchlicher Zeit, der die Charismen zum Thema praktisch-theologischer Überlegungen macht. Dabei scheint es, als wäre die sich im zweiten Jahrhundert andeutende Einengung der Charismen auf das Mirakulöse zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Denn unter den von Gott «durch den Heiligen Geist verliehenen Charismen» (τὰ […] διὰ τοῦ πνεύματος διδομένα χαρίσματα) werden zunächst nur die «Zeichen» (σημεῖα) aus Mk 16,17f (Exorzismen, Krankenheilungen und Glossolalie) genannt, die den Aposteln und ihren Schülern zur Überzeugung der Ungläubigen verliehen wurden.[71] Da aber nicht jeder Glaubende einer Gnadengabe gewürdigt ist,[72] führt die ganze Erörterung zu einer Ermahnung an diejenigen, die Charismen empfangen haben (οἱ λαβόντες χαρίσματα), sich nicht über die zu erheben, die sie nicht empfangen haben (οἱ μή λαβόντες).[73] Die Kraft zum Wundertun komme nämlich nicht aus ihnen selbst, sondern ausschließlich von Gott.[74]

    Daneben erscheint aber eine andere Argumentation, die ein erweitertes Charismenverständnis zeigt:[75] Es wird ausdrücklich klargestellt, dass die Unterscheidung zwischen Charismatikern und Nicht-Charismatikern eben nur für die wunderhaften Charismen gilt.[76] Geistlicher Hochmut sei weiterhin ausgeschlossen, weil es in einem allgemeinen Sinn keinen zum Glauben gekommenen Menschen gebe, der nicht eine «geistliche Gabe» (χάρισμα πνευματικόν) empfangen habe.[77] Die folgende Ausführung zeigt allerdings, dass der Verfasser hierbei nicht mehr die Vielfalt charismatischer Dienste vor Augen hat, die Paulus jedem Glaubenden in je individueller Verschiedenheit zugesprochen hatte. Das jedem Menschen verliehene Charisma ist vielmehr identisch mit dem Glauben ans christologische Dogma und mit der Abkehr von Judentum, Heidentum bzw. Häresie. Das jedem auf seine Weise verliehene Charisma beruft, ermächtigt und begabt nicht mehr zur Ausübung einer bestimmten Funktion in der Gemeinde, sondern wird hier im allgemeinen Sinn auf den privaten Heilsglauben und an anderer Stelle auf Tugenden eingeschränkt.[78] Von daher ist es fast zwangsläufig, dass die Ermahnung an die Charismatiker, sich nicht über die anderen zu überheben, «unter der Hand»[79] zu einer Ermahnung der «Priester» (ἱερεῖς) wird, sich aufgrund der ihnen verliehenen Gnadengabe nicht über die «Laien» (λαϊκοί) zu erheben.[80] Sie sind im eigentlichen Sinn «diejenigen, die eines Charismas oder einer Ehrenstellung gewürdigt werden».[81] Die Charismen außerhalb des Amtes unterliegen zwar nicht – wie Moritz Lauterburg meint[82] – einer konsequenten «Nichtanerkennung», haben allerdings für die Gemeindepraxis keine wesentliche Bedeutung mehr. Es wundert daher kaum, dass die folgenden Kapitel über die kirchliche Weihe der Bischöfe mit dem Satz eingeleitet werden, dass man nun zu dem «wichtigsten Punkt der kirchlichen Organisation» komme.[83] Somit findet sich in den Konstitutionen neben dem mirakulösen Missverständnis der Charismen als wunderhafte Phänomene auch die Konzentration auf das Amt, wenn auch beides noch nicht in sachlicher und terminologischer Strenge durchgeführt wird.

    Insgesamt bleibt diese erste praktisch-theologische Abhandlung über die Charismen auffallend blass. Sie übernimmt aus der paulinischen Charismenlehre letztlich kaum mehr als die Warnung vor geistlichem Hochmut, während die grundsätzliche theologische und praktische Relevanz des Charismabegriffs für das Zusammenwirken der gesamten Gemeinde oder für ein vertieftes Verständnis des geistlichen Amtes weitgehend unbeachtet bleibt.

    2.1.3 Johannes Chrysostomus: Die Fokussierung des Charismas auf den begabten Lehrer

    Ein Blick auf Johannes Chrysostomus zeigt, dass die Entwicklung des Charismenverständnisses nicht linear verläuft, sondern komplex bleibt. In der Frage nach der bleibenden Aktualität der Charismen bleibt Chrysostomus, wie es zunächst scheint, hinter Origenes und den Apostolischen Konstitutionen zurück. Die Charismen, die er an mehreren Stellen seines umfangreiches Werkes mit den Zeichen und Wundern der Urchristenheit identifiziert und als «Befähigung zu wunderhaften Auftreten und Wirken»[84] versteht, sind nicht mehr wie bei Origenes nur spurenhaft vorhanden, sondern «längst vergangen»[85]. Sie waren nur die zeitlich begrenzte Ergänzung und Bekräftigung der apostolischen Missionspredigt, die aufgrund der fehlenden Bildung der Apostel und der Verblendung der Hörer durch den heidnischen Götzendienst notwendig wurde – eine Erklärung, die in ähnlicher Weise schon im achten Buch der Apostolischen Konstitutionen begegnet und im Laufe der Theologiegeschichte immer wieder aufgegriffen werden wird.[86] Nun herrsche «Unkenntnis und Mangel an den Dingen, die sich zwar damals ereigneten, aber jetzt nicht mehr geschehen»[87]. Das Aufhören dieser Charismen ist für Chrysostomus aber nicht wie etwa bei Origenes Gegenstand des Bedauerns oder der Klage. Denn das Ziel, das die Charismen verfolgt haben, könne auch ohne sie erreicht werden.[88] Die Charismen sind entbehrlich geworden.

    Scheint Chrysostomus zunächst ganz auf der Linie des sich allmählich einengenden Charismenverständnisses zu stehen, so zeigt sich doch immer wieder, dass der «eigentliche Bibelmann des 4. Jahrhunderts»[89] durch seine intensive Paulusexegese zumindest teilweise «zu einer stillschweigenden Revision seines Urteils»[90] geführt wurde. Denn neben den wunderhaften kennt Chrysostomus durchaus noch «andere Charismen»[91] und greift dabei paulinische Aussagen auf. So erschließt er aus Röm 8,26f das «Charisma des Gebetes», von dem heute noch die «Erinnerung» im liturgischen Fürbittgebet des Diakons für das ganze Volk erhalten sei.[92] Außerdem legt er immer wieder großen Wert auf die bleibende Aktualität des von ihm hochgeschätzten Charismas der Lehre.[93] Es ist nicht auf die kirchlichen Amtsträger beschränkt, sondern findet sich in abgeschwächter Form bei jedem Gemeindeglied.[94]

    «Sage nicht, warum habe ich nicht das Lehrcharisma erhalten? Oder: wenn ich es besäße, so würde ich Unzählige erbauen. Du weißt nicht, wenn du es besäßest, ob es dir nicht zum Gericht sein würde, ob nicht Mißgunst oder Trägheit dich dahin bringen würden, das Talent zu vergraben […] Übrigens bist du auch jetzt nicht ganz ohne dies Charisma […]. Wenn du auch nicht in der Kirche einen großen Vortrag zu halten vermagst, so kannst du doch in deinem persönlichen Lebensbereich heilsame Mahnungen erteilen.»[95] «Darum ermahne ich euch: vernachlässigt nicht jeder dies Charisma. Jeder hat ja entweder ein Weib oder einen Freund, einen Diener oder einen Nachbarn. Diesen vermahne er, den ermuntere er […]. Und zum besseren Verständnis wisse: Der, der die fünf Talente empfing, ist der Lehrer, und der das eine empfing, der Schüler (der Laienchrist). Wenn nun der Schüler spräche: Ich bin Schüler und laufe keine Gefahr, und vergrübe (sein Talent, nämlich) das Redevermögen, das er von Gott erhielt, weil es ihn gewöhnlich und zu nichts nütze dünkte, und ermunterte weder, noch redete er frei heraus […], sondern vergrübe es in der Erde - denn Erde und Asche ist in Wahrheit ein Herz, das Gottes Charisma verbirgt -, sei es aus Faulheit und Böswilligkeit, so hülfe ihm die Ausrede nichts: Ich habe nur ein Talent empfangen.»[96]

    Die Annäherung des Chrysostomus an die von Paulus betonte Universalität charismatischer Befähigung ist bemerkenswert.[97] Sie stellt eine kritische Stimme dar in einer Zeit, in der viele Dienste und Funktionen «im institutionellen Amt der Gemeindeleitung monopolisiert»[98] waren, zu denen Paulus alle Glaubenden durch das ihnen je individuell zukommende Charisma ermächtigt und berufen sah.[99] Dennoch kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kirchliche Klerus der eigentliche Charismenträger ist, während sich bei den Laienchristen nur schwache Abschattierungen der Geistesgaben finden und ihr Dienst auf den privaten Bereich beschränkt bleibt. Die erstmals bei Chrysostomus erscheinende bewusste Verbindung des Gleichnisses von den Talenten mit den paulinischen Charisma-Aussagen verfestigt zudem die schon bei 1Clem beobachtete Tendenz zu einem habituellen Charismenverständnis. Charisma wird zu einer einmal zugeteilten und verfügbaren Begabung. Die Souveränität des Geistes beschränkt sich auf einen initialen Akt, der nicht nur das Maß charismatischer Begabung, sondern auch den jedem zukommenden Platz in der Gemeinde bleibend festzulegen scheint.

    2.1.4 Thomas von Aquin: Die Charismen als «gratiae gratis datae» zur Bevollmächtigung des kirchlichen Amtsträgers

    Das entbehrlich gewordene Charisma wird in den folgenden Jahrhunderten zu einem «Randphänomen» theologischer Reflexion,[100] das außerhalb oder am Rande der großkirchlichen Theologie, im Mönchtum und in der mittelalterlichen Mystik, neue begriffliche Formen findet.[101] Erst bei Thomas von Aquin stößt das Thema wieder auf ein Interesse, das für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich war. An zwei Stellen innerhalb der «Summa Theologica» beruft sich Thomas explizit auf 1Kor 12,4–11 und die dort genannten Gaben,[102] verwendet für sie aber nicht den latinisierten Begriff charisma,[103] sondern das aus der augustinischen Tradition kommende Syntagma gratia gratis data («freigewährte Gnade»).[104] Im Unterschied zur «rechtfertigenden Gnade» (gratia gratum faciens) bewirkt die «freigewährte Gnade» nicht die eigene Rechtfertigung, sondern die des anderen. Sie ist die Gnade, «wodurch ein Mensch mit dem anderen mitwirkt, damit er zu Gott zurückgeführt werde […]. Ein solches Geschenk heißt ‹freigewährte Gnade›, weil diese dem Menschen über die Fähigkeit der Natur hinaus und über das Verdienst der Person hinaus gewährt wird.»[105]

    Der Ausrichtung auf die Rechtfertigung des anderen Menschen entspricht die Konzentration auf die Lehre des Evangeliums als der einen gratia gratis data, aus der alle in 1Kor 12,8–10 genannten weiteren Formen der Gnade deduziert und je einem der drei Aspekte der Lehre (Erkenntnis, Bekräftigung, Vortrag) zugeordnet werden können:[106]

    1. Erkenntnis: «Glaube» (als Zustimmung zur Glaubenswahrheit der Kirche), «Rede der Weisheit» (als Kenntnis der göttlichen Dinge) und «Rede der Wissenschaft» (als Kenntnis der menschlichen Dinge) wirken im Menschen «die Fülle der Erkenntnis der göttlichen Dinge, damit er aus dieser Fülle andere unterrichten kann».

    2. Bekräftigung: Die «Gnade der Heilungen», das «Wirken von Wundern», die «Prophetengabe» (als Voraussage der Zukunft) und die «Unterscheidung der Geister» (als Offenbarung des im Herzen Verborgenen) sind gegeben, «daß er das Gesagte bekräftigen oder beweisen kann».

    3. Vortrag: Die «Sprachengaben» (als Kenntnis der Sprache der Hörer) und die «Auslegung der Rede» (als Übersetzung der Tradition) helfen, «daß er das, was er empfängt, den Hörern sinnvoll vortragen kann».

    Die Systematisierung[107] zeigt die Überordnung der Lehre als dem Charisma schlechthin, dem alle anderen Gnadengaben funktional unter- oder zugeordnet werden. «Während bei Paulus die Charismen vorwiegend auf die einzelnen Gemeindeglieder verteilt erscheinen, deren jedes seine Gliedfunktion erhält, sind sie bei Thomas allesamt Funktionen eines einzigen Auftrages.»[108] Diese Einschränkung der charismatischen Vielfalt führt aber unweigerlich zur Eingrenzung des Kreises charismatisch Begabter auf diejenigen, denen die gratia der Lehre zukommt: die alttestamentlichen Propheten, Christus als Quelle und Fülle aller Gnaden, die Apostel als Nachfolger Christi und der «Doktor», «da er für die heutige Kirche als Hermeneut des Wortes Gottes die Stelle der Propheten einnimmt und für den Predigerbruder Thomas die zentrale geistige Funktion in der Kirche ausübt».[109] Damit werden die Charismen Gegenstand einer vornehmlich historischen Betrachtungsweise. In der Gegenwart sind sie im Wesentlichen auf die kirchlichen Amtsträger beschränkt,[110] so dass «in einer Verschränkung von Amt und Charisma […] die kirchliche Charismatik als ganze zu einer Teilhabe an der apostolischen Vollgewalt und Vollgnade»[111] wird. Dem entspricht ihr systematisch-theologischer Ort am Ende der theologischen Ethik der Summa: Nach der Behandlung der alle Menschen bzw. Christen betreffenden Sittenlehre kommt Thomas zu der «Erwägung […], was einige Menschen im besonderen betrifft»[112]. Von den Charismen der «Laien» ist bei Thomas im Gegensatz zu Johannes Chrysostomus nicht mehr die Rede. Die aktuelle Relevanz der Charismenlehre bleibt im Wesentlichen auf den kirchlichen Amtsträger als den privilegierten Inhaber des Lehrcharismas beschränkt.

    2.1.5 Martin Luther: Die Charismen als «Beigaben» des Glaubens

    Bereits die Wortstatistik zeigt, dass weder der Begriff Charisma noch die mit ihm verbundenen theologischen Zusammenhänge eine entscheidende Rolle in Luthers Denken spielen.[113] Der lateinische Terminus charisma erscheint nur selten,[114] und wenn Luther von «Gaben» (bzw. lat. dona) spricht, fasst er darunter fast ausschließlich allgemeine Heilsgaben Gottes, wie den Glauben oder das ewige Leben.[115] Oskar Föller urteilt zutreffend: «Luthers Hauptinteresse gilt nicht der Vielfalt der Charismata, sondern der einen heilsnotwendigen, Zeit und Ewigkeit umfassenden Charis.»[116] Ausführlichere Erörterungen finden sich nur in Luthers Schriftauslegung und Predigten über die entsprechenden neutestamentlichen Stellen[117] – «und auch dort äußert er sich jeweils eher zurückhaltend»[118]. Dabei zeigen sich theologische Akzentuierungen, die für die Frage nach der aktuellen praktisch-theologischen Relevanz der Charismenlehre von Bedeutung sind.

    1. Relativierung des Mirakulösen: Luther hat das überkommene Urteil vom Aufhören der (außergewöhnlichen) Charismen nicht unbesehen übernommen. So schränkt er in seinen Himmelfahrtspredigten die wunderhaften Zeichen aus Mk 16,17f nicht grundsätzlich auf die Apostelzeit ein, sondern hält die Möglichkeit eines gegenwärtigen Erscheinens für besondere Situationen offen, in denen die Lehre des Evangeliums durch Wunder verteidigt oder bestätigt werden muss.[119]

    «Dann ain Christen mensch hat gleich gewalt mit Christo […] Darumb wa ain Crysten mensch ist, da ist noch der gewalt solch zaichen zu thun, wenn es von noeten ist. Es sol sich aber niemandts understeen die zu ueben, wenn es nicht von noeten ist oder nit erforderet […]. Seytemal aber das Euangelium nun außgebraitet und aller welt kund worden ist, ist nit von noeten zaichen zu thun als zu der Apostel zeiten. Wann es aber die not fordern wurde unnd sye das evangelium engsten und dringen woltten, so muessendt wir warlich dran und muessen auch zaichen thun, ee wir das Euangelium uns liessen schmehen und underdrucken. Aber ich hoff es werd nit von noeten sein und wirt dahyn nyt geraichen: also das ich mit newen zungen solt alhye reden, Ist doch nit von noeten […]. Wann mich got aber hin schickte da sy mich nit vernamen, da kund er mir wol jre zung oder sprach verleyhen, dadurch ich verstanden wurde. Hierumb sol sich niemant understeen on anligende noeten wunderzaichen zu thun.»[120]

    Da diese Notwendigkeit aber gegenwärtig nicht gegeben sei, sind die wunderhaften Charismen für Luther ohne herausragende aktuelle Bedeutung.[121] Sie sind der Verkündigung des Evangeliums und dem Glauben als dem wahren und größten Wunder Gottes untergeordnet und verhalten sich zu ihm wie Blei zu Gold.[122] Aufgrund ihrer Zweideutigkeit sind sie wie alle anderen Gaben Gottes immer an der Lehre des Evangeliums zu prüfen.[123]

    2. Betonung des Geschenkcharakters: Die rechtfertigungstheologische Prämisse des sola gratia kommt in Luthers Verständnis der geistlichen Gaben immer wieder zur Anwendung. Die Gaben sind «von oben her geschenkt» (e supernis datum)[124], «Gnadengaben»[125], nicht aufgrund eines eigenen Verdienstes verliehen. Sie sind Beigaben, die Gott zusammen mit dem Glauben als der ersten und wichtigsten Gabe schenkt.

    «Aber ich acht […], Das der Glaube mit sich bringe als ein heupbt gutt die andern gaben […], das wyr solche gaben nicht verdienet haben, sondern wo glaube ist, da ehret Gott den selben glauben mit ettlichen gaben als zur mitgabe odder ubergabe,[126] wie viel er will […]. Eben darumb spricht er auch, es seyen mancherley gaben, nicht nach unserm verdienst, sondern nach der gnaden, die uns geben ist; das also die gnade gleich wie der glaube mit sich bringe solch edle kleynot und geschencke, eym iglichen seyne mas.»[127]

    Die Gaben dienen daher auch nicht dazu «fur Gott frum, selig odder besser denn der andre»[128] zu werden. Es ist eine Verkehrung von «Gottis warheyt […] ynn eyne lugen», wenn die Glaubenden «aus den gaben Gottis eynen dienst fur Gott [machen], die doch zum dienst des nehisten geben sind»[129].

    3. Hervorhebung des Ordnungsgedankens: Auf dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit radikalen Reformbestrebungen legt Luther besonderes Gewicht auf die paulinische Mahnung zur Selbstgenügsamkeit und Ordnung. Wie die Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Geistes die Geringschätzung einer Gabe ausschließt,[130] so widerspricht die Verschiedenheit des nach Gottes Willen je individuell zugeteilten Charismas der geistlichen Selbstüberschätzung. Es sei kennzeichnend für die Schwärmer, sich in einen Dienst zu drängen, zu dem sie weder Gabe noch Verständnis haben.[131] In der Schrift «Von den Schleichern und Winkelpredigern» (1532) wird die Frontstellung gegenüber den Spiritualisten des linken Flügels der Reformation exemplarisch greifbar. Luther polemisiert gegen Prediger, die ohne Berufung öffentlich auftreten und «jnn ein frembd ampt greiffen und fallen»[132] Sie legitimieren ihr Rederecht mit einem Verweis auf die Charismenlehre, besonders auf 1Kor 14,30f. Luther widerspricht, indem er in problematischer Umdeutung der paulinischen Aussagen behauptet, die Stelle habe nur die (amtlich eingesetzten) Propheten und Lehrer im Blick, nicht den «pobel, der da zu hoeret»[133]. Luther ermahnt daher, dass sich niemand als «hans ynn allen gassen»[134] zu allem berufen fühlen und in Aufgabe und Dienst der anderen eingreifen dürfe, sondern bei seinem «Amt» bleiben solle.[135] Durch die Verbindung der Leib-Christi-Metapher mit der mittelalterlichen Standes- und Berufsethik geht Luther aber über die paulinische Ermahnung zur τάξις (1Kor 14,40) hinaus.[136] Die Dynamik der paulinischen Charismenlehre geht verloren, wenn das Charisma zu einer statischen Ortzuweisung wird.[137]

    4. Fokussierung auf das kirchliche Amt: Die statische Auffassung der Charismen als angelegte oder erworbene Begabung begünstigt ihre Fokussierung auf den kirchlichen Amtsträger.[138] Er wurde von Gott mit der Gabe des Weissagung, interpretiert als die Gabe der Verkündigung ausgestattet,[139] bzw. hat sich durch sein Studium die Gabe der Auslegung der Sprachen, d.h. in Luthers Verständnis die Kenntnis der biblischen Ursprachen und die Fähigkeit der Übersetzung, angeeignet.[140] In der Fastenpostille von 1525 bezieht Luther ausdrücklich die ersten sechs in Röm 12,6–8 genannten Charismen auf das «gemeyn regiment der Christenheyt, wilchs man nu heysst den geystlichen stand»[141], und hält die Begabung einer einzigen Amtsperson mit mehreren Gaben für die Regel.[142] Zu den «stücke, die yderman angehen ynn der Christenheyt»[143] zählt er neben den in Röm 12,9–16 folgenden Tugenden und Wohltaten nur das Charisma der Barmherzigkeit. Für die Gemeinde hat die paulinische Charismenlehre nur wenig Bedeutung. So beginnt Luther eine Predigt über 1Kor 12,1–11 mit den Worten: «Haec Epistola ist nicht fast von noten pro gmeinen man.»[144]

    Luthers Charismenverständnis bietet somit bedeutsame Einsichten, überwindet aber letztlich nicht die überkommene Fokussierung der Charismen auf die kirchlichen Amtsträger. Dies ist umso bedauerlicher, als Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum in der neutestamentlichen Charismenlehre eine wichtige pneumatologische Vertiefung erfahren hätte. Damit wäre sie eventuell nachhaltiger gegen die Gefahr gewappnet gewesen, auf den Bereich der persönlichen Gottesbeziehung oder des privaten Lebensumfeldes beschränkt zu werden. Ihre reformerische Kraft konnte sie bisher jedenfalls nicht zur vollen Entfaltung bringen.[145]

    2.1.6 Tobias Pfanner: Die Charismen als «dona miraculosa antiquae ecclesiae»

    Während sich bei Luther die Charismen im kirchlichen Amt konzentrieren, aber nicht gänzlich der Vergangenheit überlassen werden, findet sich in der altprotestantischen Orthodoxie erstmals eine explizite definitorische Beschränkung der Charismen auf wunderhafte Phänomene der Urchristenheit. Von Tobias Pfanner stammt die erste monographische Abhandlung der Theologiegeschichte über die Charismen.[146] Schon der Titel deutet ihre Identifikation mit den Wundergaben der Alten Kirche an: «Diatribe de charismatibus sive donis miraculosis antiquae ecclesiae» (1680). Die Charismen bleiben auf die Gaben beschränkt, die der auferstandene Christus der Kirche nach Mk 16,17f verheißen hat (Exorzismus, Sprachengabe, Krankenheilung, Unversehrtheit). Hinzu kommt noch das donum prophetiae, das Pfanner allerdings nicht wie Luther auf die Verkündigung bezieht,[147] sondern als visionäre Zukunftsweissagung versteht.[148] Die weniger wunderhaften Gaben aus Röm 12,6–8 sind nicht im Blick. Zugleich versucht Pfanner mit zahlreichen Belegen aus den Schriften der Kirchenväter nachzuweisen, dass die Charismen nur die zeitlich begrenzte Funktion hatten, die Heiden zur Zeit der ersten Kirche vom Evangelium zu überzeugen.[149] Nach der Ausbreitung der Kirche hätten sie ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit verloren, in ihrer Häufigkeit nachgelassen und schließlich gänzlich aufgehört. Seine «Diatribe» schließt folgerichtig mit dem Kapitel «De Cessatione Miraculorum».[150] Als Größen der Vergangenheit sind die Charismen für die heutige Theologie und Kirche ohne eine Bedeutung, die das historische Interesse übersteigt.[151]

    2.2 Impulse zur Neuentdeckung der Charismenlehre in der Theologie des 19. Jahrhunderts

    Die von Tobias Pfanner definitorisch fixierte Historisierung des Charismabegriffs wurde von den unterschiedlichen Frömmigkeitsbewegungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts nur zögerlich überwunden. Die neutestamentliche Charismenlehre wurde auch dort nur selten rezipiert, wo sich die Reformbemühungen auf die geistliche Mündigkeit und Aktivierung der (erweckten) Gemeindeglieder konzentrieren.

    So propagiert zum Beispiel Philipp Jacob Spener in seinen «Pia Desideria» die «auffrichtung und fleissige übung deß Geistlichen Priesterthums» und empfiehlt die Einrichtung von «versamlungen […], auff die art wie Paulus I.Corinth. 14. dieselbe beschreibet / wo nicht einer allein aufftrette zu lehren / (welches zu andernmahlen bleibet) sondern auch andere / welche mit gaben und erkanntnuß begnadet sind».[152] Die neutestamentliche Charismenlehre klingt hier und an wenigen weiteren Stellen an.[153] Sie hat aber für Speners Theologie keine konstitutive Bedeutung. Die argumentative Begründung des geistlichen Priestertums bleibt daher, wie Hans-Martin Barth bemerkt, «eher dürftig»[154], der «ihm so wichtige pneumatologische Ansatz [wird] nicht nach allen Hinsichten einfaltet, die dieser ihm zur Verfügung stellen würde»[155]. Die fehlende theologische Reflexion kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Charismenlehre den weitgehend unthematisierten Legitimationshorizont für die praktische Realisierung der Laientätigkeit in den Spener’schen Collegia pietatis oder in der Herrenhuter Brüdergemeine mit ihren an Röm 12 orientierten Ämtern und ihrer Durchgliederung in «Banden», «Classen» bzw. «Chöre» bildet.[156] So ist es wenig verwunderlich, dass ein «Herrnhuter […] von einer höheren Ordnung»[157] sich von 1Kor 12 inspirieren lässt.

    2.2.1 Friedrich D. E. Schleiermacher: Evangelische Gemeinde als Prozess gegenseitiger Begabung

    Der junge Schleiermacher wurde in seinen Gedanken zur Erneuerung der Kirche entscheidend vom Beispiel der Herrnhuter Brüdergemeine und ihren praktischen Ansätzen zur Wiedergewinnung der charismatischen Vielfalt geprägt. Seine berühmte Rede «Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum» kann als eigentümliche Reformulierung der paulinischen Charismenlehre gelesen werden – auch wenn Schleiermacher wie sonst in seinen «Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» biblische Begrifflichkeiten meidet und sich weder der Begriff «Charisma» noch ein entsprechendes Äquivalent («Gabe», «Geistesgabe» oder «Gnadengabe») finden lässt. Schleiermacher versteht die «wahre Kirche» als eine Gemeinschaft religiös affizierter Menschen, die auf «gegenseitige[r] Mitteilung» beruht und in der der Gegensatz zwischen Priestern und Laien überwunden ist.[158] Jeder ist Priester und bringt das «Feld» des Religiösen zur Darstellung, «welches er sich besonders zugeeignet hat, und wo er sich als Virtuose darstellen kann».[159] Jeder ist aber auch Laie, «indem er der Kunst und Weisung eines anderen dahin folgt, wo er selbst Fremder in der Religion ist»[160]. Die wahre Kirche ist eine «vollkommene Republik» ohne «tyrannische Aristokratie»[161], eine «Akademie von Priestern», in der jeder Einzelne «die reifsten Früchte seines Sinnes und Schauens, seines Ergreifens und Fühlens mit fröhlichem Herzen herbeibringt», je nachdem wie die «Religion […] aus ihrem unendlichen Reichtum […] einem jeden ein eigenes Los» erteilt hat.[162]

    Das Bild, das Schleiermacher, «von dem reichen, schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes» zeichnet, nimmt sprachliche Anleihen und inhaltliche Impulse sowohl aus den paulinischen Anweisungen zur gottesdienstlichen Feier in 1Kor 14,26–33a, als auch aus der Charismenliste von 1Kor 12,8–10 auf.

    «Wenn ihre Bürger zusammenkommen, [ist] jeder voll einer Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde, alles aufzufassen und sich anzueignen, was die anderen darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den übrigen, ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung, die ihn berechtigt […]: es ist freie Regung des Geistes […]. Er tritt hervor, um seine eigne Anschauung hinzustellen, als Objekt für die übrigen […]; er spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeinde seiner begeisterten Rede. Es sei nun, daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weissagender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe; es sei, daß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige oder daß seine feurige Phantasie in erhabenen Visionen ihn in andere Teile der Welt und eine andre Ordnung der Dinge entzücke.»[163]

    Schleiermachers Relecture von 1Kor 12–14 stellt trotz einzelner fragwürdiger Implikationen[164] einen bemerkenswerten Versuch dar, die paulinische Charismenlehre aus ihrem mirakulösem Missverständnis zu befreien und ihr eine gegenwärtige Relevanz zuzuschreiben. Er verbindet zentrale Aspekte zu einem Bild von Gemeinde, das den Gegensatz von Priestern und Laien überwindet und «evangelische Gemeinde als Prozeß einer gegenseitiger Begabung»[165] versteht. Im Gegensatz zu seinen späteren Schriften hält er in den Reden von 1799 diese Art religiöser Kommunikation allerdings nur im Rahmen kleiner religiöser Hausgemeinschaften für realisierbar, während für die Amtskirche der Gegensatz von Priester und Laien notwendig ist[166] und die Mehrheit der Gemeindeglieder aufgrund ihrer fehlenden religiösen Ergriffenheit «völlig passiv» bleiben muss.[167]

    2.2.2 Johann Hinrich Wichern: Die christliche Gemeinde als Entwicklungsschule der Charismen

    Die Bedeutung der «Inneren Mission» für den sich allmählich abzeichnenden theologischen Bewusstseinswandel kann kaum überschätzt werden. Das hohe Laienengagement und seine theologische Legitimation u.a. durch Johann Hinrich Wichern befreiten die Charismen mehr und mehr vom Schleier des Historischen und bereiteten den Weg für die Wiederentdeckung ihrer gegenwärtigen Bedeutung. Wer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Charismen reflektierte, musste früher oder später auf die Innere Mission zu sprechen kommen.[168]

    Johann Hinrich Wicherns Reformprogramm nimmt seinen Ausgangspunkt beim reformatorischen Prinzip des allgemeinen Priestertums.[169] Es geht ihm immer wieder um den «Beruf der Nichtgeistlichen für die Arbeiten im Reiche Gottes und den Bau der Gemeinde»[170]. Zu seiner theologischen Begründung bezieht sich Wichern nicht konsequent, aber ausführlicher als Philipp J. Spener auf die Charismenlehre. Wichern entwickelt zwar keine eingehende theologische Theorie über die Charismen,[171] doch ihre praktische Freisetzung ist ein zentrales Motiv seiner neuen Vision von Gemeinde und Gesellschaft.[172] In den bekannten zwölf Thesen zum «Beruf der Nichtgeistlichen für die Arbeit im Reiche Gottes und den Bau der Gemeinde» (vorgelegt zum Kirchentag 1867) schreibt Wichern:

    «Es kommt darauf an, […] die in der Gemeinde vorhandenen und bis dahin noch vielfach gebundenen Charismen zu erwecken, zu entwickeln und zu verwerten […]. Die Gemeinde selbst mit ihren amtlich geordneten und ihren freien Institutionen […] muß die praktische Erziehungs- und Entwicklungsschule für die geweckten Charismen der Nicht-Geistlichen werden.»[173]

    In der darauf folgenden, frei gehaltenen und nur in Nachschrift erhaltenen Rede ermahnt er die Zuhörer, es nicht einem badischen Pfarrer gleich zu tun, der einer engagierten Christin verbat, sich um arme Waisenkinder zu kümmern. Wer so handelt «werde […] nirgends Charismen entdecken»[174]. Vielmehr gilt: «Charismen sollen nicht getötet, sondern erweckt werden.»[175] Wichern ist überzeugt: Wer in der Gemeinde wahrhaft Seelsorge übt, Gottes Wort als lebendiger Zeuge verkündigt und «stille und treu sucht», der wird «die freudige Entdeckung machen, daß ein, ja welch’ ein Reichtum von Gaben in einer solchen Gemeinde aus der Verborgenheit erwacht»[176].

    2.2.3 Johann Christoph Blumhardt: Die Verheißung des Geistes und seiner Gaben

    Johann Christoph Blumhardt geht nicht wie Schleiermacher vom idealistisch geschauten Reichtum der wahren Kirche, sondern vom real erfahrenen Mangel der sichtbaren Kirche aus. Sein Verständnis der Charismen ist aufs Engste mit der Klage über die geistliche Armut der Kirche und mit der für ihn eigentümlichen sehnsüchtigen Erwartung einer erneuten Ausgießung des Pfingstgeistes verbunden.[177] Wenige Jahre vor dem Ende seines Lebens gibt Blumhardt in den «Blättern aus Bad Boll» über diese «Hoffnung des Heil[igen] Geistes» Rechenschaft und erinnert sich, dass er seit seiner Kindheit an der Diskrepanz zwischen dem, was in der Schrift über die Wirksamkeit des Geistes und seiner Gaben bezeugt ist, und der von ihm wahrgenommenen kirchlichen Wirklichkeit gelitten habe.[178] Stets war das «Bewußtsein von einer Armuth» mit einer «eine[r] Sehnsucht nach dem geheimnißvollen Etwas» verbunden.[179] In den Möttlinger Erfahrungen, v.a. im Kampf mit den «Banden der Finsternis», erfuhr Blumhardt «einen Anfang» von dem, was er sich für die ganze Menschheit erhofft: «eine neue Ausgießung des Heil[igen] Geistes».[180] Zwar sei «Vieles von dem ersten Feuer» inzwischen wieder zurückgetreten und ihm selbst sei aus dieser Zeit «nur von einer gewissen Gabe für Kranke […] etwas geblieben», doch blieb ihm umso mehr die «Sehnsucht nach der Rückkehr des Verlorenen»[181]. Die Erfahrungen der geistlichen und speziell der charismatischen Armut der Kirche verbindet er mit einer eigentümlichen geschichtstheologischen Konstruktion, in der das orthodoxe Verständnis der Charismen als «dona miraculosa antiquae ecclesiae» (Pfanner; → 2.1.6) nachklingt: «Durch fortwährendes ‹Betrüben des Heil. Geistes› von Seiten der Christenheit»[182] habe sich der persönlich im Glaubenden wohnende Pfingstgeist mitsamt seinen Gaben nach der Apostelzeit immer mehr zurückgezogen und sei schließlich verschwunden.

    «Wo sind denn die Gaben, mit und in welchen der Heil. Geist jetzt noch fortwirkt, und als ewig wirkend sich zu erkennen gibt? Wenn die Gaben doch irgendwo wären, so müßten sie sich bemerklich machen; aber man weiß nirgends von solchen, wenn auch viel Edles da und dort zu finden ist.»[183]

    Erst in einer von Blumhardt in unmittelbarer Nähe erwarteten dritten Heilszeit werde es zu einer erneuten Ausgießung des Geistes bzw. – wie Blumhardt später präzisiert – zu einer Fortsetzung der sich schon in der Apostelzeit wiederholenden Ausgießungen des Geistes kommen und damit zugleich zu einer neuen Wirksamkeit der geistlichen Gaben.[184] Blumhardt zeigt sich in diesen Anschauungen einerseits abhängig vom traditionellen Verständnis der Charismen als wunderhafte und nunmehr vergangene Größen.[185] Andererseits aber überlässt er sie nicht der Vergangenheit einer vermeintlich einzigartigen Urzeit, sondern gewinnt sie neu für die Zukunft der Kirche. Die Charismen sind Gegenstand der Verheißung Gottes und Bestandteil der sehnsuchtsvollen Erwartung, mit der sich die Kirche auf eine geistliche Erneuerung ausrichtet.

    Die umfassendste Darlegung seines Charismenverständnisses bietet Blumhardt in der Abhandlung «von den geistlichen Gaben», veröffentlicht in den «Blättern aus Bad Boll» (Nr.37/1876). Er ermahnt die Glaubenden, in Geduld und Demut auf eine erneute Ausgießung des Geistes mit einer umfassenden Austeilung der geistlichen Gaben zu warten.[186] Er warnt ausdrücklich davor, sie für sich selbst als «etwas Habituelles und Bleibendes» zu erstreben, «statt demüthig um ein Durchkommen im einzelnen Fall, mit stets wiederholten Hilfsleistungen von oben» zu bitten.[187] In einem eigenmächtigen Streben nach dem Besitz von geistlichen Gaben sieht Blumhardt einen ungeistlichen Unabhängigkeitsdrang, mit dem sich der Mensch von Gott lösen, und einen Geltungsdrang, mit dem er sich über den Nächsten erheben will.

    «Denn es sieht sich an, als ob man sichs nur bequemer machen wollte, um nicht immer wieder den Heiland bitten zu müssen, wenn mans vermöge der innwohnenden Gaben von selbst, und dann gewissermaßen sicher machen könnte. Warten wir, bis es dem Herrn gefällt, im Ganzen und Großen die Kräfte des Heiligen Geistes auszugießen; und daß diese Zeit beschleunigt werde, dürfen wir immerhin bitten […]. Soll Er etwas geben, so muß Er es von sich aus thun. Um dieses aber kann und darf ich nicht bitten, ohne vor Ihm und Andern anmaßend zu erscheinen, weil ein Gelüste darin liegt, darum hoch angesehen zu werden vor den Menschen.»[188]

    Von den in Demut zu erwartenden «eigentlichen ächten geistlichen Gaben» unterscheidet Blumhardt die «natürlichen Gaben». Sie sind «angeboren, im eigenen Geiste des Menschen wurzelnd», können aber «durch Nachdenken, Studium, Fleiß, Uebung, Ausdauer […] sehr gesteigert werden».[189] Weil sie aber «nie als unmittelbar von oben gegeben» erscheinen, unterliegen sie der Gefahr des Irrtums und sind «um so gefährlicher, weil sie gerne mit einer gewissen Macht auftreten, und überwältigend für kleinere Geister werden»[190]. Trotz dieser Warnungen schreibt Blumhardt den natürlichen Gaben in einer Morgenandacht zu 1Petr 4,10 eine hohe Bedeutung für den Aufbau der Gemeinde zu:[191] Im Vergleich zu den Gaben der Apostelzeit sind die heutigen zwar «nicht

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