Der Schrank
Von Simon Sailer und Jorghi Poll
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Über dieses E-Book
Eine hochkomische, sozialkritische Erzählung über das Verhältnis von Mensch, Arbeit und Leben.
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Buchvorschau
Der Schrank - Simon Sailer
1
Das Treppenhaus war eng, aber hell. Lena Kovac wohnte im siebten Stock eines Gemeindebaus, zusammen mit ihrem Freund Hakan. Sie arbeitete als Möbelpackerin bei einer Transportfirma und er als Nachtwächter in einem Messezentrum. Es gab einen Lift, mit dem Lena nie fuhr, weil sie fürchtete, er könnte steckenbleiben. (Sie wäre im Schacht gefangen, könnte sich nicht aus eigener Kraft befreien; vor dem Sterben hatte sie keine Angst, nur vor dem Eingesperrtsein.)
Lena blieb im vierten Zwischengeschoss stehen. Frau Bostanci von Tür neun hatte hier einen Kaktus aufgestellt, der rot blühte. Die Stacheln bildeten Dornenkränze: je Kranz sieben Stacheln. Die Sonne hatte die Luft erhitzt. Lena atmete ein und aus (schwer), beobachtete die Kinder beim Fangenspielen im Innenhof. Von oben sahen sie aus wie Eichhörnchen.
Lena verbrachte unter der Woche nur eine halbe Stunde täglich mit ihrem Freund: Sie kam um sieben nach Hause, Hakan musste um halb acht zur Arbeit. In der gemeinsamen Zeit aßen die beiden oder liebten sich auf dem Boden und ließen das Essen stehen. An den Wochenenden gingen sie im Lainzer Tiergarten spazieren (früher) oder sie lagen auf der Couch, sahen fern, aßen Chips und Gummibärchen.
Lena stieg die restlichen Treppen hoch, zog ihren Rucksack vor die Brust und tastete darin nach dem Filzball, an dem der Schlüssel hing. In der Wohnung roch es nach Knoblauch und getrockneter Minze. Lena rief einen Gruß und setzte sich auf das Garderobenbänkchen, um die Stiefel aufzuschnüren.
Ein schmaler Raum diente gleichzeitig als Vorzimmer, Küche und Bad. Der Vorzimmerbereich bestand aus ein paar in die Wand geschraubten Kleiderhaken, einem Schuhregal und der ledernen Sitzbank. Lena musste aufpassen, beim Schuheausziehen nicht an der Spüle zu rütteln. (Der zum Trocknen aufgeschichtete Geschirrturm könnte einstürzen.) Neben der Spüle köchelte etwas auf dem Herd. Hinter dem Herd gab es eine Duschkabine, ein Waschbecken und einen Spiegelschrank. An der Decke verdunkelte ein Wasserfleck, der sich als resistent gegen Übermalungsversuche erwiesen hatte, den Verputz. Lena wusch sich die Hände. Die Seife war hart und schäumte fast gar nicht. Auf das Einseifen konzentriert zuckte Lena zusammen, als Hakan sie umarmte. Er stand hinter ihr, sodass seine Hände sich vor ihrem Bauch berührten, und küsste sie auf den Hals.
»Es gibt Joghurtsuppe«, sagte er leise, das Kinn auf ihre Schulter gestützt. »Mit Käsetoast.«
Lena sah Hakan über den Spiegelschrank in die Augen. »Ich bin eine hungrige Bärin«, sagte sie und fasste ihm mit den nassen Händen an den Hals, drehte sich um und biss ihm, zur Demonstration ihrer Bärigkeit, erst in die Brust und dann in den Oberarm. Hakan schüttelte sich und kitzelte Lena an der untersten Rippe (dort war sie besonders empfindlich). Er führte sie an den gedeckten Tisch im Wohnzimmer. Zwischen den Suppentellern standen Gänseblümchen in einem nachtblauen Eierbecher.
»Selbst gepflückt«, sagte Hakan.
»Ach, Bär«, sagte Lena.
Das Wohnzimmer hatte nur ein Fenster, und das wurde halb vom Hochbett verdeckt, unter dem der Esstisch stand. Ansonsten gab es noch ein Sofa (dem an der Wand montierten Flachbildschirm gegenüber), auf dem zwei Menschen Platz hatten, die gerne kuschelten. Lena hatte es zwei Monate zuvor beim Abtransport einer Verlassenschaft abgezweigt. Um Platz zu schaffen, hatte Hakan an der Küchendecke einen Flaschenzug montiert, mit dem man den Wäscheständer hochziehen konnte. (Sonst hätte er dort gestanden, wo jetzt das Sofa war.) Zum Fernsehen saßen sie entweder am Esstisch, was auf Dauer unbequem war, oder krochen ins Bett und steckten die Köpfe durch das Hochbettgeländer. Alles in allem hatte das Wohnzimmer etwas Höhlenartiges. Hakan nannte die Wohnung nur »Bau«.
Den Boden bedeckten Flickenteppiche und Ansammlungen von Kleidungsstücken. Lena zog Hakan mit sich hinunter: »Deinen Toast kannst du am Weg zur Arbeit essen.«
2
Lena mochte den Benzingeruch in der Betriebsgarage. Normalerweise tankte man beim Einrücken, nach dem letzten Auftrag, aber das Team vom Vortag hatte wieder einmal nicht vollgetankt. Yilmaz saß bei geöffneter Tür auf dem Beifahrersitz und faltete aus einem violetten Papierquadrat einen Schwan. Er faltete immer, wenn er nicht rauchen konnte (Schwäne, Frösche, Schmetterlinge). Um die Hände zu beschäftigen, hatte er einmal erklärt.
»Wie viele Schwäne hast du schon?«, fragte Lena, die am weißen VW-Sprinter lehnte und die Tankanzeige im Auge behielt.
»Viele.« Yilmaz faltete den Kopf des Schwans zur Seite, wendete das Papier und bog es in die andere Richtung. Dann stülpte er alles so um, dass ein kleiner Schnabel entstand. »Hier.« Er hielt Lena den Schwan entgegen.
Lena deutete auf den Tank: »Gleich.«
»Die meisten schmeiße ich weg«, sagte Yilmaz und setzte den Schwan auf das Lenkrad (Lenas Platz). »Manchmal mache ich so ein Hängeding für meine Kinder. Oder Schmuck, man kann auch Schmuck machen. Meine Frau liebt Ohrringe.«
Es klickte, weil der Tank voll war. Lena hängte den Schlauch in die Halterung und sagte halblaut: »55 Liter.«
»Was?«, fragte Yilmaz.
»55 Liter«, sagte Lena. »Schreib auf.« Sie ging um den Wagen herum zur Fahrertür und stieg