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Manege
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eBook262 Seiten3 Stunden

Manege

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Über dieses E-Book

Der Straßenkünstler Art ist nicht gerade ein Publikumsliebling. Seine Nummer, sich alleine mit einer Zwangsjacke zu fesseln, führt mehr zu Streit als zu Kleingeld im Hut. Dennoch wird er eines Tages von Zozo, einer Mitarbeiterin beim größten Zirkus der Gegend, angesprochen. Sie erkennt das Poten­zial seiner Fesselungskunst und will Art auf die große Bühne bringen.
Doch der Weg zur Manege ist verschlungen und voller wunderlicher Begegnungen. Da sind die mysteriöse Reiterin Moni, Edgar, der Dompteur für imaginäre Tiere, bei dem Art ein Praktikum machen soll, die angehende Trickschleicherin Hildegard, ein zwielichtiger Schlangenmensch und viele mehr. Art verliert sein Ziel aber nicht aus den Augen. Wird er es ins Zirkuszelt schaffen?
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum12. Sept. 2023
ISBN9783990651056
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    Buchvorschau

    Manege - Simon Sailer

    1

    In fünf Minuten würde sich eine Traube um Art gebildet haben. Man stellte sich mit einer Zwangsjacke an einen belebten Platz, und die Leute blieben stehen, wollten wissen, was da vor sich ging. Er hatte eine Blechschale aufgestellt, in die er schon einige Münzen und kleine Scheine gelegt hatte. Niemand wirft Geld in eine leere Schale. Diesmal war ihm ein besserer Platz zugewiesen worden. Es gab reichlich Passanten, und sie konnten anhalten, ohne dabei den Weg zu blockieren. Ein gutes Dutzend von ihnen stand schon im Halbkreis und streckte die Augen aus.

    Art legte sich die Posey über die Schulter, und wenn jemand in seine Richtung lächelte, lächelte er zurück. Eine Frau kam nah heran, musterte die Jacke, musterte Art. Er ließ sich begutachten. Sie griff nach der Posey, und Art drehte ihr die Schulter zu, damit sie leichter fühlen konnte.

    »Meine Damen und Herren! Kommen Sie näher, keine Angst. Kommen Sie heran, ganz nah heran. Verfolgen Sie jeden Schritt. Bestaunen Sie den gefesselten Art! Kommen Sie, ja, Sie auch. Und Sie, worauf warten Sie? So etwas haben Sie noch nicht gesehen. Erleben Sie die Kunst der Fesselung. Ja, Sie haben richtig gehört. Das haben Sie noch nicht erlebt. Kommen Sie! Keine Angst. Es kann Ihnen nichts passieren – außer natürlich das Unvorstellbare, das Unglaubliche. Kommen Sie!«

    In dem Halbkreis standen jetzt dreißig, vierzig Schaulustige. Art fasste seine Jacke mit beiden Händen an den Schultern und streckte sie in die Höhe. Er drehte eine Runde, die Zwangsjacke vor sich hertragend wie ein Banner.

    »Das ist eine Posey-Zwangsjacke. Die Crème de la Crème der Zwangsjacken. Fühlen Sie, greifen Sie! Keine Scheu, packen Sie richtig zu.«

    Ein stämmiger Mann griff sich die Jacke mit beiden Pranken und zerrte sie auseinander.

    »Das ist Qualitätsarbeit«, sagte Art. »Da reißt nichts, da leiert nichts aus.« Er beendete die Runde und stellte sich wieder an seinen Ausgangspunkt, einen Meter vor dem Koffer, in dem er seine Requisiten aufbewahrte. »Sie haben gesehen: Es ist eine echte Zwangsjacke. Die gleiche finden Sie in den Psychiatrien, in den Gefängnissen.«

    Er zog sich die Jacke über den Kopf. Die Gurte hatte Art so justiert, dass er gerade noch hineinkam. Man musste nur den richtigen Punkt erwischen – zu locker eingestellt sah es nach nichts aus, und saß sie zu fest, konnte es peinlich werden. Er wand sich in die Jacke, drehte sich und wiegte hin und her. Als Art den Kopf durch die Öffnung geschoben hatte, sah er, dass die Menschentraube kleiner geworden war, während er getanzt hatte. Er hatte gelernt, sich nicht allzu sehr um die Reaktion des Publikums zu kümmern. Wenn er einmal angefangen hatte, dann machte er seine Nummer auch fertig, mutete sich dem Publikum regelrecht zu.

    Art kniete sich auf den Boden und klemmte den Gurt zwischen die Beine. Der Gurt verhinderte, dass man sich die Jacke einfach über den Kopf abstreifte. Die Arme hatte er noch frei, auch wenn sie in vorne geschlossenen Ärmeln steckten. Er zog den Schrittgurt fest, schob die Arme durch die Schlinge an der Brust. Um die Schnalle hinten festzuziehen, verwendete er ein Hilfsseil, das er danach abzog.

    Damit hatte er den Punkt erreicht, an dem er sich nicht mehr selbst befreien konnte.

    Über Arts Gesicht rollten Wellen, von der Stirn über die Nase zum Kinn, und mit jeder Welle lächelte er mehr. »Gefesselt!«, rief er. »Ganz und gar gefesselt!«

    Er rappelte sich so elegant es ging auf und verbeugte sich.

    »Danke schön! Sie waren ein wunderbares Publikum.«

    Einige Zuseher applaudierten. Ein Großteil ging sofort weiter, eine Dame im Nerz schüttelte den Kopf und murmelte etwas. Die Frau, die vorhin so neugierig gewesen war, schnippte ein Fünfzig-Cent-Stück in die Blechschale.

    »Vielen Dank«, sagte Art. »Sie waren das beste Publikum!«

    »Das war’s?«

    Es war der Mann, der vorher an der Jacke gezerrt hatte. »Diese Jacken sind dafür gemacht, dass man nicht rauskommt. Reinkommen kann ich selber.« Er kam angeprescht, fletschte die Zähne und fuchtelte schon beim Laufen mit den Armen in der Luft herum.

    Art duckte sich und machte sich bereit, den Aufprall mit der Schulter abzufangen. Am besten war es immer, auf der Schulter zu landen, wenn man gefesselt fiel. Aber der Mann bremste ab und klopfte Art auf den Nacken.

    »Starke Leistung, Garfunkel«, sagte er.

    Art verzog den Mund. »Tut mir leid, wenn Ihnen die Show zu subtil war. Für die Nuancen der Fesselung sind halt nicht alle empfänglich.« Er blickte sich im Publikum nach Unterstützung um.

    Der Mann zog Arts Gurte fester. Er tat so, als prüfe er nur, ob alles gut saß, aber er zog dabei so fest, dass es Art die Rippen zusammenschnürte.

    »Hören Sie auf«, sagte Art. »Lassen Sie mich in Ruhe! Wenn Ihnen meine Show nicht gefallen hat, dann gehen Sie eben weiter. Hatte ich nicht gesagt, was ich vorhabe? Ich hatte es doch gesagt.« Er suchte erneut in den Augen der Umstehenden nach Unterstützung. »Habe ich es nicht gesagt?«

    »Komm, Garfunkel«, sagte der Mann. »Befrei dich! Zeig, was du kannst!« Er zückte einen Fünfzig-Euro-Schein und drehte sich zum Publikum, das, sicherlich vom Tumult angezogen, wieder auf zwei Dutzend angewachsen war. »Das sind fünfzig Euro. Wenn er sich in fünf Minuten ohne Hilfe aus seiner Jacke befreit hat, bekommt er sie. Hast du gehört, Garfunkel? Fünf Minuten. Fünfzig Kröten. So viel hast du noch nie verdient, was?«

    Art atmete ein und spannte die Arme an, blähte sich auf, um etwas mehr Platz in der Jacke zu schaffen. »Schieben Sie sich Ihre fünfzig Euro sonst wohin! Ich bin ein Fesselungskünstler. Entfesselung interessiert mich einen Scheißdreck. Jeder Möchtegern-Houdini entfesselt. Sie haben gesehen, was es zu sehen gibt. Es war Ihnen zu hoch, dafür kann ich nichts. Und jetzt hauen Sie ab.« Art schob die Brust nach vorne und streckte das Kinn nach oben.

    Der Mann lächelte ins Publikum. Mittlerweile waren sogar mehr Menschen hier als am Anfang der Show. Einige mussten glauben, der Rüpel sei Teil der Show, ein bezahlter Schauspieler, und Art würde sich jeden Moment befreien und ihm einschenken. Der Mann versetzte Art einen Stoß. Art knallte auf den Boden und sein Gesicht malte einen Blutfleck auf den Beton.

    »Noch drei Minuten!« Der Mann forderte das Publikum zum Applaudieren auf, und einige folgten.

    »Kann mir bitte jemand aus der Jacke helfen?« Art sah sich nach der Frau um, die ihm fünfzig Cent zugeschnippt hatte, aber sie war wohl schon gegangen.

    »Du!« Er meinte einen Teenager, der neongrüne Kopfhörer trug. Der Teenager tippte sich auf die Brust.

    »Ja, du, machst du mir die Gurte auf?« Art drehte sich auf den Rücken, hob den Kopf.

    »Du rührst dich nicht, Pisser«, sagte der Mann.

    Der Teenager nahm die Kopfhörer ab und grinste den Mann an. Er ging zu Art, kniete sich neben ihn und öffnete die Gurte.

    »Ja, dann hilf ihm halt aus seinem Jäckchen«, sagte der Mann. »Du kannst ihm gleich einen blasen, wenn du dabei bist. Das wäre doch was. Ihr seid mir zwei.«

    »Tolle Nummer, die du da machst«, sagte der Teenager zu Art. »Voll Bondage.«

    »Es ist Kunst«, sagte Art. »Dieser Grobian versteht das einfach nicht.«

    »Kümmere dich nicht um den. Du machst dein Ding.«

    »Leckt mich doch am Arsch«, sagte der Mann und zog vor sich hin schimpfend ab.

    Man umringte Art, half ihm aus der Jacke.

    »Alles in Ordnung?« Eine Dame reichte ihm ein Taschentuch. »Ihre Lippe.«

    »Es geht schon.« Art zog sich die Knie an die Brust. Er zitterte, als habe er zu lange in der Kälte gehockt. »Entschuldigung. Es ist alles gut, ich muss nur ein bisschen sitzen.«

    Der Teenager kam mit der Schale Kleingeld an, stellte sie neben Art. Er brachte auch den Requisitenkoffer und legte die Posey hinein. Dann nickte er noch, wohl um Art aufzumuntern, setzte sich die Kopfhörer wieder auf und schlenderte davon.

    Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, man beachtete Art nicht mehr. Er zählte das Geld. Keine zehn Euro hatte er gemacht, aber wenigstens fehlte nichts. Es kam vor, dass am Ende weniger in der Schale war, als er selbst hineingegeben hatte.

    Tauben pickten ein Salzstangerl vom Boden, das jemand verloren haben musste. Eine hatte ein übergroßes Stück im Mund und schüttelte heftig den Kopf, wohl in der Hoffnung, es möge davon zerbrechen. Schließlich legte sie es ab und pickte darauf herum. Eine andere Taube packte das Stück. Die Tauben rauften darum, bis es endlich riss. Die eine Taube hatte ein kleines Stück, die andere ein immer noch zu großes. Der Vorgang wiederholte sich mehrere Male, bis das Salzstangerl restlos verschwunden war.

    Art griff sich an die Lippe. Am Finger war Blut. Er leckte die Lippe, presste den Handrücken auf die Stelle. Bald hatte er lauter rote Tupfer darauf. Er leckte sich sauber und wischte das Blut mit dem Taschentuch der Dame ab, faltete es zusammen, steckte es in seine Hosentasche und schloss die Augen.

    Als er etwas neben sich spürte, öffnete er sie wieder. Neben ihm saß eine junge Frau. Sie war klein und eine Sonnenbrille bedeckte fast ihr gesamtes Gesicht. Obwohl es ein warmer Tag war, trug die Frau einen schweren Trenchcoat.

    »Na«, sagte sie.

    »Sitze ich auf deinem Platz?« Art lehnte sich nach hinten und blickte die Hauswand hinter sich hinauf.

    »Auf meinem Platz.« Die Frau machte den Mund auf, als müsste sie lachen. »Glaubst du, man kann sich hier einen Platz am Gehsteig reservieren?«

    »Ich dachte nur«, sagte Art.

    »Starke Nummer«, sagte die Frau. »Ich bin Zozo.«

    »Freut mich, ich bin –«

    »Jaja, der gefesselte Art.«

    »Was ist das für ein Name: Zozo?«

    »Eigentlich heiße ich Zoey, aber so nennt mich niemand.«

    »Tut mir leid wegen der Show.«

    »Ach was. War doch gut! Du hast den Kerl provoziert, das ist ein gutes Zeichen. Wie ein richtiger Künstler.«

    »Ich will aber nicht provozieren, ich will begeistern.«

    Zozo verschränkte die Arme hinterm Kopf und rutschte ein Stück nach vorne. Dann zog sie eine Zigarette aus ihrer Brusttasche.

    »Auch eine?«, fragte sie.

    Art hob die Hand. »Nichtraucher.«

    »Hab ich mir schon gedacht.«

    Zozo zündete ihre Zigarette an, rauchte, blies den Rauch nach vorne, aber der Wind wehte Art alles ins Gesicht.

    Er wedelte mit den Händen in der Luft. »Kannst du bitte?«

    »Entschuldigung«, sagte Zozo. »Du bist mir vielleicht ein Pflänzchen.«

    »Man kann hier überall sitzen«, sagte Art. »Du hast gesagt, es ist nicht dein Platz.«

    »Ich wollte mit dir quatschen. Wegen deiner Nummer. Wie gesagt, sie ist stark.«

    Zozo nahm noch einen Zug, klopfte Asche ab und drehte die Zigarette zwischen den Fingern, die Glut studierend wie Kaffeesatz.

    »Ob sie auch gut ist, weiß ich nicht so genau. Wer will schon sehen, wie jemand eine Zwangsjacke anzieht?«

    »Es ist schwieriger, als es aussieht«, sagte Art. »Vor allem, wenn es halbwegs schnell gehen soll.«

    »Die Leute wollen aber etwas sehen, das schwierig aussieht. Ob es wirklich schwer ist, ist denen egal. Ein Freund von mir ist Jongleur. Und immer, wenn er einen neuen Trick zeigt – sagen wir, er jongliert mit fünf Keulen –, weißt du, was die Leute zu ihm sagen? Ob er das mit dem Apfel machen kann. Du weißt schon, wenn man beim Jonglieren vom Apfel abbeißt. Der leichteste Trick von allen, den kannst du an einem Tag lernen. Das wollen die Leute sehen.«

    »Nicht alle Leute«, sagte Art.

    »Nicht alle«, sagte Zozo. »Mir zum Beispiel macht es nichts aus, dass deine Nummer keinen Höhepunkt hat, keine Spannung und so weiter.«

    »Meine Nummer hat Spannung.«

    Zozo legte den Kopf auf die Seite. »Welche Spannung? Ob du in die Jacke kommst oder nicht?«

    »Setz dich bitte auf die andere Seite oder blas deinen Rauch nach oben.«

    Zozo blies aus, halb nach oben. »Wie gesagt, mir ist es egal. Deshalb nehme ich dich mit.«

    »Aha«, sagte Art. »Du nimmst mich mit?«

    Zozo sprang auf die Beine, flinker, als Art es ihr zugetraut hatte. »Komm schon! Hopp!«

    »Geh du schon mal vor.«

    »Du wirst es bereuen, wenn du nicht mitkommst.«

    »Wie soll ich es bereuen?« Art stemmte sich im Sitzen hoch. »Ich weiß ja nicht einmal, wo du mich hinbringst.«

    »Du wirst dir dies oder das ausmalen«, sagte Zozo. »Zum Beispiel wirst du denken: Vielleicht war sie vom Zirkus und wollte mir einen Platz in der Show anbieten. Das könntest du doch denken?«

    »Ist es so?«

    »Du wirst schon sehen«, sagte Zozo.

    »Sag mir doch einfach, was du willst, dann kann ich entscheiden, ob ich mitkomme.«

    »Art«, sagte Zozo. »Art, Art, Art. Du kommst doch sowieso mit. Das weiß ich so genau, wie ich gewusst habe, dass du deine Jacke anbekommen wirst. Willst du, dass ich bettle?«

    Sie schnippte die Zigarette auf den Boden, sodass sie Arts Hose streifte. »Auf, los geht’s!«

    Ehe Art über ihre Aufforderung nachdenken konnte, war er schon auf den Beinen.

    »Und jetzt?«

    Zozo drückte ihm den Griff seines Koffers in die eine Hand und packte die andere, schleifte ihn in eine Seitengasse.

    »Ist es weit?«, fragte Art. »Sollen wir nicht die Straßenbahn nehmen?«

    »Komm. Es ist nicht weit, und wohin wir gehen, führt keine Straßenbahn.«

    Es war doch weit. Außerdem fuhren hier Straßenbahnen. Offenbar bevorzugte Zozo es, ihn mit dem Koffer durch die Gassen zu schleifen. Ab und zu drehte sie sich nach Art um, als wolle sie prüfen, ob er noch da sei. Dabei hielt sie doch die ganze Zeit über seine Hand, klammerte sich daran, als würde er davongeschwemmt werden, sobald sie losließ.

    »Wie hat der Mann dich genannt? Garfunkel.« Zozo schmunzelte. »Das hörst du sicher oft. Dabei ist es eigentlich ein schöner Name: Art.«

    »Garfunkel ja auch«, sagte Art. »Klingt wie Funkeln.«

    »Aber auch wie Furunkel«, sagte Zozo. »Da ist Art besser. Eine schöne Silbe.«

    Art hielt an, löste sich aus Zozos Griff. Er stellte den Koffer ab und schüttelte die Arme aus. »Können wir die Seiten wechseln?«

    »Da vorne ist es schon.« Zozo zeigte geradeaus.

    Hinter einem Maschendrahtzaun erstreckte sich eine Wiese bis zum Horizont. Das Gras war braun und wuchs brusthoch.

    Art stellte den Koffer ab und setzte sich darauf, seitlich, sodass auch Platz für Zozo blieb. Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen, aber sie schüttelte den Kopf.

    »Wir sind doch gleich da.«

    »Und dort ist der Zirkus?«, fragte Art.

    »Du wirst schon sehen, komm.«

    Art beugte sich vor, vergrub den Kopf zwischen den Knien. Er spürte, wie sich Zozo doch neben ihn setzte.

    »Wenn das so ist«, sagte Zozo, »dann lasse ich dich hier. Du wirst den Zirkus aber ohne mich nicht finden. Es ist schon für mich schwer, zurückzufinden, allein wirst du dich in der Wiese verirren.«

    »Ich dachte, wir sind fast da.«

    »Sind wir auch. Man muss den Weg aber kennen.«

    »Der Zirkus wird mich nicht wollen, Zozo. Du meinst es gut, aber du hast ja gesehen, wie das Publikum auf mich reagiert.«

    »Das Publikum ist nicht alles«, sagte Zozo. »Heutzutage sind wir nicht mehr vom Publikum abhängig.«

    »Was gefällt dir überhaupt an meiner Nummer?«

    »Sie hat was«, sagte Zozo. »Mehr suche ich gar nicht. Das ist schon recht viel, weißt du. Ich sehe viele Nummern. Die meisten sind kompetent, aber haben nichts.«

    »Irgendwas wird doch jede haben«, sagte Art.

    »Nein, nicht das.« Zozo klopfte auf den Koffer. »Man kann es eigentlich nicht beschreiben. Ich spüre es eben.«

    »Wenn es das Publikum aber nicht spürt …?«

    »Ich verrate dir etwas über das sogenannte Publikum: Das sind Idioten. Die nehmen, was man ihnen vorsetzt. Ja, natürlich, wenn du so auf der Straße stehst, dann erlauben sie sich weiß Gott was, aber im richtigen Rahmen, wenn man ihnen die Nummer nur richtig serviert, dann schlucken sie alles.«

    Art fasste sich an den Hals. »Ich mache eben meine Nummer – aber wenn es nicht ankommt, dann glaube ich schon, dass es auch an mir liegt. Es gibt ja andere, die stellen sich nur hin, und die Leute sind schon verrückt nach ihnen.«

    »Das ist leicht«, sagte Zozo. »Da gibt es Tricks, und dann geht das. Du machst eben etwas Eigenes. Diese Art von Show liegt dir nicht.«

    »Sie liegt mir schon«, sagte Art. »Das ist es, was ich machen will, es gelingt mir nur nicht.«

    Zozo sprang auf, machte eine Pirouette, bei der sie fast stolperte. Im letzten Moment fand sie ihr Gleichgewicht. Dann hopste sie los, hörte erst nach zwanzig Metern mit dem Gehopse auf und ging normal weiter. Als die Silhouette ihres Kopfes – mehr ragte nicht über die Borsten des Grasteppichs – schon fast am Horizont verschwunden war, sprang Art auf, schnappte den Koffer und hastete ihr hinterher.

    »Warte!«, rief er. »Ich komme ja schon, warte auf mich!«

    2

    »Wieso hast du nicht gewartet?«

    Zozo kicherte.

    Das Gras war hier größtenteils abgetragen und sie gingen über steinige Erde. Nur hier und da ragte noch ein Büschel auf. Sie mussten sich auf einer kleinen Erhöhung befinden, denn man sah hinunter auf die Stadt.

    »Von hier sieht sie ganz anders aus«, sagte Art.

    »Du warst eben noch nie auf dieser Seite.«

    »Wenn wir vorher gleich da waren«, fragte Art, »was ist dann jetzt?«

    »Siehst du das Zelt dort vorne?«

    Art sah nur noch mehr Erde und Gras, ganz hinten am Horizont schimmerte etwas oder es flimmerte nur die Luft. »Das da?«

    »Was sonst?«, fragte Zozo.

    Das Schimmern wuchs, verwandelte sich in eine blaue, rote, und gelbe Fläche, aus der sich Konturen hoben, die schließlich wirklich ein Zelt ergaben: das Zirkuszelt.

    »Da ist es!«, rief Art.

    »Vorher müssen wir aber noch woandershin«, sagte Zozo.

    »Wir sind doch schon fast da. Können wir nicht erst zum Zirkus?«

    »Sie werden dich nicht reinlassen. Du willst doch nicht nur außen ans Lager, sondern mitmachen. Wenn du das willst, musst du die Schritte wie vorgesehen durchlaufen. Es hat noch niemand ins Zelt geschafft, der nicht den Ablauf durchgemacht hat. Da wirst du keine Ausnahme sein. Nur bei den Allerersten war es noch anders, notgedrungen, weil es da selbstverständlich noch keine Prüfwagen gegeben hat, aber seit es sie gibt, kommt man nicht um sie herum.«

    Zozo griff nach Arts Hand, ließ sie aber sofort wieder los. Dann bog sie rechts ab und Art folgte. Die Wiese formte hier einen flachen Krater, den man zunächst gar nicht hatte sehen können. In der Mitte des Kraters stand ein einzelner Wagen. Davor rauchte ein Grill.

    »Seltsam«, sagte Art, »dass wir vorhin gar keinen Rauch gesehen haben.«

    »Man sieht eben, worauf man achtet«, sagte Zozo. »Das Offensichtlichste kann man übersehen.«

    Am Grill stand ein Mann, der eine Grillzange hielt. Er musste gemerkt haben, dass sich jemand näherte, zeigte aber keine Reaktion, sondern drehte wie in Gedanken versunken seine Würstchen um. Der Wagen war ein alter Campinganhänger, von dem die vergilbte Plastikbeschichtung abblätterte. Die Wiese hatte ihn von allen Seiten umwachsen, und Auto war keines zu sehen.

    »Ich habe wieder einen«, sagte Zozo, als sie in Hörweite war. »Art heißt er.«

    »Art«, sagte der Mann. »Such dir einen

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