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Lillys Courage
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eBook342 Seiten4 Stunden

Lillys Courage

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Über dieses E-Book

Zürich, 1917. Lilly Volkart ist kaum zwanzig Jahre alt und träumt davon, Kinderärztin zu werden. Doch zunächst muss sie das nötige Geld für ein Medizinstudium in der Pension ihrer Eltern verdienen. Unter den Pensions­gästen, zumeist Schweizer Studenten des Poly­techni­kums, ist auch der Italiener Umberto, in den sich Lilly heftig verliebt. Aber die romantischen Pläne für eine gemein­same Zukunft scheitern am Ersten Weltkrieg, Umberto muss die Schweiz verlassen, um in Venetien zu kämpfen …
Ascona, 1943. Auch der Traum, Kinderärztin zu werden, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen gründet Lilly Volkart Ende der 1920er-Jahre ein privates Kinderheim oberhalb des Lago Maggiore, in dem sie vorwiegend Kinder wohlhabender Familien und Kinder von Kunstschaffenden betreut. Kaum zwanzig Jahre später – in Europa herrscht der Nationalsozia­lismus und wieder Krieg – wird aus dem Feriendomizil in mediterraner Umgebung ein Zufluchtsort für »bambini emigrati«, meist jüdische Kinder, die – getrennt von ihren Eltern – unter unvorstellbaren Strapazen die Schweiz erreichen. Getrieben vom Willen, die traumatisierten Kinder zu retten, schafft Lilly Volkart unter schwierigsten Bedingungen mehr als ein sogenanntes »Kinder-Auffanglager«.
Aus dem inzwischen auf mehrere Häuser verteilten Kinderheim wird ein schützendes Zuhause für Kinder wie Rainieri, Ettore und Dora, die der Autor im Roman aus der Gemeinschaft geflüchteter Kinder in berührender Weise hervortreten lässt. Auch sie machen aus der Heimleiterin Lilly »eine Mutter auf Zeit«, die in jeder Hinsicht für »ihre« Kinder sorgt. In diesem auf Tatsachen beruhenden Roman erzählt Mattia Bertoldi mit großer Sensibilität die überraschende Geschichte von Lilly Volkart, einer Frau, die wie Oskar Schindler das Schicksal vieler Menschen während des Zweiten Weltkriegs veränderte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Nov. 2023
ISBN9783906907864
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    Buchvorschau

    Lillys Courage - Mattia Bertoldi

    1

    EINE GUTE GESCHICHTE

    Lilly

    Samstag, 11. September 1943

    Lilly legt die Hände an die Tür, spürt das raue Holz unter den Fingern. Sie stößt sie auf, die Scharniere quietschen und eine warme Wolke umhüllt sie. Die Luft ist dick vor Feuchtigkeit. Mit der Holzpantine am Fuß schiebt sie den Keil über den Steinfußboden unter die Tür. Die Sonne fällt auf Dutzende von Strümpfen, die auf der Leine zwischen den Deckenbalken hängen. Ein Windhauch bewegt die Strümpfe am Eingang. Lilly betastet sie: Alle sind schon trocken.

    Sie geht zwischen den Körben voller schmutziger Wäsche hindurch zur alles überragenden Presse, die nun als Waschzuber dient. Sie stellt den Eimer unter das Abflussloch, zieht den Stöpsel hinaus und die Lauge fließt heraus. Dann steigt sie auf das Treppchen und klammert sich an die Latten, aus denen der Zuber gemacht ist. Sie zieht den Kopf ein, um nicht an die Decke zu stoßen. Ein Strumpf ist auf den Holzdeckel gefallen. Sie untersucht ihn: Er hat ein kleines Loch an der Stelle des großen Zehs. Lilly rollt ihn zusammen und wirft ihn in einen leeren Weidenkorb an der Wand. Mit aller Kraft schiebt sie den Deckel ein paar Zentimeter zur Seite, gerade genug, um die Hände hineinzustecken: Die nassen Betttücher sind noch lauwarm.

    Was würden die Bürger von Ascona denken, wenn sie sie in ihrer Waschküche sähen? Lilly fragt sich das an Waschtagen immer. Manche Bürokraten würden sagen, dass es zu viele Strümpfe gibt für die wenigen Füße, die im Gästebuch eingetragen sind, dass die Rechnung nicht aufgeht und dass man das überprüfen müsste. Julius Ammer und seine Nazibande würden sogar die Kleidung nach Flöhen oder Läusen absuchen. »Die sind dreckig, die sind krank«, würden sie sagen. »Bringt sie über die Grenzen zurück, jagt alle davon. Sonst stecken sie uns früher oder später noch an.« Polizisten würden kommen und fragen, woher so ein großer Zuber stammt, und es wäre sinnlos zu erklären, dass es eigentlich eine alte Traubenpresse gewesen ist, ein Geschenk des guten Geremia. Die Fragen (und die Probleme) würden sogar bis nach Brissago und in seine Weinberge gelangen.

    Lilly nimmt das erste Laken und hält es gegen das Licht: Es hat einen gelblichen Schatten. Sie verlässt den Keller und legt es in das steinerne Waschbecken. Sie nimmt eine Bürste und bearbeitet den Fleck damit, sie wringt den Stoff aus und drückt ihn gegen die Rillen des hölzernen Waschbretts. Ihre Finger weichen im Wasser auf, ein Rinnsal läuft zum Abfluss, und es verbreitet sich der Geruch von feuchtem Moos.

    In diesem Keller, der nun eine Waschküche ist, würden all diese Leute nur die Horde von sechzig Kindern sehen, bereit die Schweiz zu überrennen. Lilly hingegen sieht darin etwas anderes. Das Gesicht von Viktoria Leskovitz, zum Beispiel, das polnische Mädchen, das erst vor einem Monat in der Casa Gentile angekommen ist und das trotz seiner dreizehn Jahre immer noch ins Bett macht. In den schmutzigen Unterhemden, die in einem der vielen Körbe liegen, riecht sie die nahende Grippe, denn bevor sie die Sachen wäscht, schnüffelt sie daran und erkennt am säuerlichen, abgestandenen Geruch, dass bald jemand krank wird. In all dieser Wäsche sieht sie Tränen, Schuldgefühle, Hoffnungen. Es gibt so viel zu tun.

    »Ich wusste, dass ich dich hier finde.«

    Hedis Stimme. Lilly schiebt eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht, zwischen ihren Fingern bleibt eines der grauen Haare zurück, die ihr in den vergangenen Monaten gewachsen sind. Sie lässt es fallen und breitet das Laken aus: Der Fleck ist verschwunden.

    »Sind alle bereit?«, fragt Lilly, während sie sich aufrichtet.

    »Sie kommen gerade aus dem Speisesaal.«

    »Du könntest meinen Nähkasten holen und …«

    »Die Stopfeier. Die sind schon da, auf dem Rasen. Die Mädchen warten auf dich.«

    Lilly nickt. »Ich komme sofort.«

    Hedi verschwindet, Lilly geht wieder hinein und greift sich den Korb mit dem sauberen Strumpf; sie streift durch den Keller und kontrolliert alle Strümpfe, die zerschlissensten nimmt sie mit. Sie füllt den Korb zur Hälfte und folgt dem gepflasterten Weg. Eine Gruppe von vier oder fünf Kindern rennt ihr entgegen, in jeder Hand einen vollen Wassereimer.

    »Kinder«, sagt sie leise, sodass sie auf der Stelle langsamer werden. »Ich habe schon ein Laken herausgeholt, die anderen sind noch im Zuber. Passt bitte auf. Ich will keinen von euch aus dem Zuber fischen.«

    »Ja, Lilly«, sagen sie wie aus einem Mund und setzen ihren Weg fort, dieses Mal in gemächlichem Schritt.

    An der Eiche versucht Ettore, die Arme um den Stamm gelegt, zum wiederholten Mal, auf den Baum zu klettern. Er hält ein Seil zwischen den Zähnen, stützt einen nackten Fuß auf die Rinde und federt mit dem anderen Bein. Er springt, so hoch er kann, versucht, sich am Baum festzuhalten, aber er rutscht ab.

    Ettore sieht aus wie ein Pirat oder einer der Matrosen, der sich ums Tauwerk kümmert. Vielleicht sind sie, die Bewohner dieses Hauses, wirklich wie auf einem Schiff. Jeder hat eine Aufgabe, um der Leere um sich herum zu entfliehen, und alle sind in Sicherheit, solange sie zusammenhalten. Lilly aber fühlt sich nicht wie der Kapitän, sondern vielmehr wie eine Steuerfrau. Sie ist diejenige, die die Mannschaft aus den Untiefen holt, sie liest die Zeichen des Wetters und ändert die Route. Sie hat die Aufgabe, alle nach Hause zu bringen.

    Ettore versucht es noch einmal, aber er plumpst auf die Erde. Er schlägt mit der Faust ins Gras, zischt etwas durch die Zähne. Dann nimmt er einen Stein, knotet das Seil darum, wirft ihn über den Ast und sammelt das Ende wieder ein. Nickend geht er an Lilly vorbei, erreicht die Hauswand der Casa Gentile und bindet das Seil an den Haken dort. Aus dem Keller kommen zwei Kinder mit dem ersten Laken.

    »Lilly, komm!«, sagt eines der Mädchen hinter ihr. Sie sitzen im Kreis im Gras, jedes hat sein Nähkästchen vor sich: Metalldosen mit wenigen Nadeln, etwas Garn, einigen Sicherheitsnadeln. Ja, Kleider und Segel müssen repariert werden. Die Schiffsmannschaft braucht sie.

    »Guten Tag«, sagt Lilly, während sie sich an die letzte freie Stelle setzt. »Bereit fürs Stopfen?«

    Alle nicken und öffnen ihre Dosen, nur Viktoria zögert. Ihre mit Pflaster bedeckten Finger verharren in der Luft. Lilly tut, als bemerke sie es nicht. Sie holt die Strümpfe aus dem Korb, behält einen für sich und gibt die anderen zu ihrer Rechten weiter; sie öffnet das Kästchen mit den hölzernen Stopfeiern und gibt es zu ihrer Linken weiter. Während sich alle Hände bewegen, zählt Lilly bis dreiundzwanzig, dann hat jedes Mädchen alles Nötige. Sie ist es gewohnt zu zählen, es ist für sie selbstverständlich. Hier wird alles gezählt, und sie verzählt sich nie. Außer, sie will es: an der Grenze und bei der Fremdenpolizei, wenn das Leben ihrer Kinder auf dem Spiel steht.

    »Es ist wie beim letzten Mal«, sagt Lilly und zeigt, wie es gemacht werden soll, »steckt das Ei in den Strumpf und lasst es bis zur Spitze rutschen, damit der Stoff sich dehnt. Dann geht es leichter.«

    Ein paar Mädchen lassen die Eier fallen, bei anderen rutschen sie schief in die Strümpfe. Lilly wartet. Ettore hebt den Saum eines Lakens an und verdreht ihn, während zwei andere Kinder es auf der anderen Seite mit aller Kraft festhalten; der Stoff verwringt sich, Wassertropfen benetzen die Erde vor der Eiche. Der Junge wächst schnell, und bald wird er sich überlegen müssen, was er in Zukunft machen will. Im Gegensatz zu den anderen ist das Tessin seine Heimat, aber das macht die Sache nicht unbedingt leichter.

    »Und jetzt?«, fragt Viktoria leise.

    »Jetzt nehmt ihr Nadel und Faden, macht einen kleinen Knoten, und dann fangt ihr außen an. Näht hin und her, bis das Loch ganz ausgefüllt ist.«

    Die Mädchen stopfen, manche schneller, andere langsamer. Nur Viktoria seufzt jedes Mal, wenn sie die Nadel in den Stoff sticht, eine Träne rinnt ihr über die Wange. Lilly geht zu ihr.

    »Ist alles in Ordnung?«

    Viktoria nickt. Die Spitze ihres Daumens ist blutbefleckt, sie steckt ihn sich in den Mund.

    »Lass mal sehen«, sagt Lilly, die all die Ängste des Mädchens in dieser Geste erkennt. Sie möchte aufhören zu stopfen, sich in einer Ecke verkriechen und weinen. Aber bald wird sie dort draußen sein, wo das Wissen um eine solche Arbeit entscheidet, ob man eine Anstellung oder ein Almosen bekommt, während Europa versuchen wird, sich vom Krieg zu erholen. Und Lilly wird alles tun, damit Viktoria darauf vorbereitet ist.

    Das Stopfen hat gut angefangen, aber das Gewebe dieses Strumpfes ist so dünn, dass er durchsichtig geworden ist. Sie lässt ihn durch die Hände gleiten: Sogar die Ferse ist ausgeleiert und hat ein Loch. So wie Ettore wachsen hier alle Kinder schnell.

    Viktoria wischt sich den spuckenassen Daumen am Kleid ab. »Manchmal ist es schwierig, alle Löcher zu stopfen.«

    »Aber es ist eine wichtige Aufgabe. Gute Strümpfe bedeuten, dass man keine kalten Füße bekommt, und warme Füße bedeuten …«

    »… weniger kranke Kinder. Ich weiß, du hast recht«, sagt Viktoria leise, während sie die Nadel wieder aufnimmt.

    Aber es bedeutet nicht, dass es reicht. Der Herbst kommt bald und neben den Strümpfen brauchen die Kinder auch feste Schuhe, Mützen und Schals. Und die neue Lieferung vom Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder ist längst überfällig.

    Hedi tritt zu ihnen. »Lilly, ein Herr will dich sprechen.«

    »Was für ein Herr?«

    Sie zeigt zum Wald. »Ein Herr eben.«

    Lilly nickt. Sie steckt Viktorias Strumpf in die Tasche und gibt ihr dafür den eigenen. »Der hier ist einfacher«, flüstert sie ihr zu.

    Hedi nimmt ihren Platz ein, und Lilly geht zum Tor. Ettore rennt ihr nach.

    »Ist es einer von denen?«, ruft er, aber Lilly sieht ihn böse an.

    Ettore schluckt. »Ich komme mit«, sagt er leise.

    »Nicht jetzt, Ettore. Macht mit der Wäsche weiter.«

    »Aber …«

    »Nicht jetzt!« Sie starrt ihn an, bis er endlich zur Casa Gentile zurückläuft.

    Lilly schließt das Tor hinter sich und geht die Straße entlang. Sie biegt auf den Römerweg ein, der mit großen Steinplatten gepflastert und von unzähligen violetten Blütenständen des Schmetterlingsflieders gesäumt wird. Im Schatten einer Kiefer blickt sie nach links und nach rechts: Der Weg ist menschenleer. Sie weiß nicht, in welche Richtung sie gehen soll, aber sie weiß, dass die anderen sich bemerkbar machen werden. Sie geht in den Wald, bergauf, zum Monte Verità.

    »Danke, dass du gekommen bist«, sagt eine Männerstimme.

    Lilly dreht sich um: Der Mann ist dunkelgrün gekleidet, trägt einen Schnurrbart und hält einen Stock.

    »Soll ich dich mit deinem Spitznamen anreden oder …«

    »Nenn mich Cesare. Schön, dich kennenzulernen, Lilly.« Dann führt er eine Hand zum Kopf, so als wollte er den Hut lüften.

    Er ist schlank, fast mager, und hat spitze Finger, ohne Schwielen oder Narben.

    »Du bist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.«

    »Dachtest du, ich sei wilder? Ein Mann aus den Bergen?«

    Lilly will schon antworten, aber das wäre gemein; bei all den Gefahren für die Italiener, die heimlich die Grenze überqueren. An seinem Gürtel trägt er eine braune Ledertasche, klein wie eine Zigarettenschachtel.

    »Ich hätte dich nicht für einen Raucher gehalten.«

    »Das? Das sind keine Zigaretten.« Er zieht ein Etui mit Spielkarten heraus.

    »Ich hätte dich auch nicht für einen Glücksspieler gehalten.«

    »Ehrlich gesagt, mache ich damit andere Dinge. Ich zaubere oder erzähle Geschichten, zum Beispiel.«

    »Es gibt praktischere Methoden, um Geschichten zu erzählen.«

    »In einem Satz Karten habe ich vier Frauen und acht Männer, die reichen, um jede erdenkliche Geschichte zu erzählen.«

    Cesare klopft auf das Etui, und die Karten gleiten in seine Hand, er geht sie durch und fächert die zwölf Figuren auf. »Die Menschen unterschätzen die Bedeutung von Karten und guten Geschichten: Gemeinsam können sie Großes bewirken. Sie können dich sogar glauben lassen, dass etwas Unmögliches geschehen kann.«

    »Und was für Geschichten kommen von der Grenze?«

    Cesare schiebt die Karten zusammen und steckt sie zurück in die Ledertasche. »Keine guten. Anfang der Woche ist die Familie von General Badoglio in die Schweiz geflohen, gestern Abend war stundenlang Funkstille im Radio.«

    »Hitler hat nicht die Absicht, Italien aufzugeben, trotz des Waffenstillstands.«

    »Die Deutschen haben die Büros besetzt, die Grenzkontrollen werden verstärkt. Es werden noch mehr Leute kommen, Lilly, Familien, Kinder. Und ich weiß, dass die Casa Gentile voll ist, aber …«

    »Wir richten ein neues Haus ein. Für italienische Kinder, und für die, die es brauchen.«

    Cesare lächelt. »Ich habe aus deinen Briefen herausgelesen, dass du eine einfallsreiche Frau bist.«

    »Es gibt immer eine offene Tür, so oder so. Ich habe mir schon gedacht, dass mit der Verhaftung von Mussolini der Krieg in Italien nicht zu Ende sein würde.«

    »Ganz im Gegenteil, die Deutschen werden alles tun, um ihn zu befreien. Wenn das nicht schon längst passiert ist …«

    »Du hättest mir doch schreiben können, statt eine riskante Wanderung in die Schweiz zu machen.«

    »Dafür war keine Zeit, einer von ihnen kommt noch heute Nacht«, sagt Cesare, während er sich am Schnurrbart kratzt. »Mein Sohn.«

    »Und seine Mutter?«

    Cesare schüttelt den Kopf. »Wir sind nur zu zweit und die Lage in Domodossola wird immer gefährlicher. Ich vertraue ihn dir an, Lilly, aber niemand darf erfahren, wie er mit Nachnamen heißt. Das ist wichtig. Niemand darf ihn mit mir in Verbindung bringen. Er wird den Nachnamen seiner Mutter tragen: Carrara.«

    »Wie alt ist er?«

    »Elf. Er kommt mit Folgore, aber in diesen Zeiten ist es besser, wenn du ihn an der Grenze abholst. Bei Cortaccio, in Brissago. Morgen früh bei Sonnenaufgang.«

    Morgen ist der zweite Waschtag, und sie muss auch an die anderen denken.

    »Ich werde Ettore schicken. Er ist hier aufgewachsen, er kennt die Gegend.«

    »Aber mein Sohn hat Papiere bei sich.«

    »Mach dir keine Sorgen. Ettore kann nicht lesen. Euer Geheimnis ist sicher.«

    Cesare öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder. »Ich vertraue dir. Ich hoffe, dass ich bald wiederkommen kann.« Schon will er im Unterholz verschwinden.

    »Warte.« Cesare bleibt stehen. »Du hast mir nicht gesagt, wie dein Sohn heißt.«

    »Ranieri.«

    Lilly hat noch nie einen italienischen Vornamen gehört, der auf ›I‹ endet.

    »Wie Ranieri Bustelli, der größte italienische Zauberer.« Er klopft auf seine Ledertasche. »Noch jemand, der gute Geschichten erzählen kann.«

    Cesare entfernt sich mit immer größeren Schritten. Von einem Baum wirbelt ein grünliches Blatt durch die Luft und landet neben einer stachligen Kastanie. Schon ist er nicht mehr zu sehen, verschluckt vom Wald und der Welt, über die Lilly keine Kontrolle hat.

    2

    BROT UND KÄSE

    Ranieri

    Samstag, 11. September 1943

    Gut, er hat es in der Hand. Dieser Trick muss ihm nur noch ein einziges Mal gelingen.

    In Domodossola, in einer Wohnung, die er immer noch nicht sein Zuhause nennen kann, schiebt Ranieri sich auf dem Holzstuhl nach hinten und umklammert das Kartenspiel. Er klopft es dreimal auf den Tisch und streicht mit dem Daumen über die abgerundeten Ecken. Er macht sich gerade – ein Lichtstrahl blendet ihn. Der kleine Spiegel, der in der Mitte des Tisches ans Radio gelehnt ist, reflektiert die Karten und das Licht, das durch die Rollläden fällt. Die Sonne hat sich zwischen die gegenüberliegenden Häuser geschoben, sie geht gerade unter. Es muss etwa acht Uhr abends sein, mehr oder weniger.

    Er schließt die Rollläden und kehrt zu seinen Notizen zurück: Die letzte Seite seines Heftes ist voll mit Gekritzel und Flecken, er müsste alles noch mal schön abschreiben. Er denkt an den roten Faden der Geschichte, stellt ein paar Karten zusammen und dreht die ersten vier um: Pik-Bube, noch zweimal Pik, dann einmal Karo, um die drei anderen zufälligen Karten zu verdecken, die niemand außer ihm sehen wird. Seine vier Räuber: Die verteilt er im Kartenspiel und durch seine Berührung werden sie nach oben transportiert. Wie durch Zauberhand.

    Das Geräusch eines Schlüssels im Schloss.

    »Ranieri?«, sagt sein Vater.

    »Hier! Ich will dir den Trick zeigen, den du mir …«

    »Wir haben keine Zeit«, sagt sein Vater, während er ihn an die Hand nimmt. »Ich hatte doch gesagt, du sollst dich fertigmachen.«

    »Aber die Sonne ist doch noch gar nicht untergegangen und …«

    »Zieh die Stiefel an und dann los.« Sein Vater steht schon im Treppenhaus.

    »Was ist denn, Papa?«

    Er atmet tief ein und stößt all die Luft durch die Nase wieder aus; sein Hemd unter der Jacke ist ganz verknittert, so als wäre er geschrumpft.

    »Du musst jetzt tun, was ich dir sage.«

    »Aber …«

    »Keine Widerrede.« Er kniet sich hin. »Bitte, Ranieri. Mach genau das, was ich dir sage. Ich habe einen Plan, aber der funktioniert nur, wenn du mir vertraust.«

    »Einen Plan? Für was?«

    »Hast du mich verstanden, Ranieri?«

    Er nickt.

    »Gut.« Sein Vater steht wieder auf. »Jacke und Stiefel, mehr brauchst du nicht.«

    Ranieri zieht die Stoffjacke an und schnürt seine Stiefel, eng, aber nicht zu eng. Als sie zu Beginn des Sommers hierherzogen, waren sie gleich nach Sonnenaufgang in der Toskana aufgebrochen. Vielleicht ziehen sie wieder um, sein Vater hat ihm gesagt, dass das passieren könnte. Aber einfach so weggehen, ohne einen einzigen Koffer …

    Sie verlassen die Wohnung, sein Vater legt ihm eine Hand auf den Rücken. Das Geräusch ihrer schnellen Schritte hallt durch das Treppenhaus.

    Vielleicht hätte er einen von den Comics mitnehmen sollen, die er in Florenz gekauft hat: Das Kamel aus Lehm und Der geheimnisvolle Davos. Ranieri ist sich sicher, dass der zweite mehr wert ist als der erste, denn auf dem Titelblatt steht Mandrache statt Mandrake. Die wurden in der Stadt gedruckt, nur wenige Schritte von ihrem Haus entfernt, und er hat gedacht, dass es ein Druckfehler wäre und es sich deshalb um einen seltenen Comic handeln würde, der nur in ihrer Gegend zu haben wäre. So wie bei seltenen Briefmarken. Sein Vater hat ihm jedoch erklärt, dass die Regierung das so bestimmt hat, um fremde Buchstaben aus dem Alphabet zu entfernen.

    Auf dem letzten Treppenabsatz greift Ranieri in seine Hosentasche, doch sie ist leer. Er bleibt stehen.

    »Was ist?«, fragt sein Vater.

    »Ich habe meine Karten vergessen. Auf dem Tisch.«

    »Ich gebe dir meine, versprochen. Wir tauschen einfach.«

    Ranieri rührt sich nicht. Er hat ihm noch nie diese Karten überlassen – sein Kartenspiel. Sein Vater dreht sich zu ihm, nimmt seinen Kopf und hebt ihn an. Er hat die Augen weit aufgerissen.

    »Erinnerst du dich, als wir hier angekommen sind, und ich dir gesagt habe, dass du keinem Menschen etwas von uns erzählen darfst?«

    Ranieri hat diese Bitte nie verstanden, aber was sollte er schon erzählen?

    »Ja, ich weiß.«

    »Gut. Das gilt immer noch, ganz egal, was passiert. Und wenn man dich fragt, wie du heißt, sagst du: Ranieri Carrara.«

    »So wie Mama?«

    »Von jetzt ab benutzt du ihren Nachnamen. Vergiss das nicht.«

    Sie treten aus dem Haus. Ein Automobil parkt davor, und der Fahrer raucht bei geöffnetem Fenster. Sein Vater öffnet die Wagentür auf der rechten Seite.

    »Steig ein, los.« Er sieht sich um.

    Ranieri klettert auf die Rückbank, sein Vater schließt die Tür und setzt sich neben den Fahrer.

    Der Mann am Steuer hat ein kantiges Kinn und einen dreckigen Hals. Er schmeißt die Kippe auf die Straße und umklammert das Lenkrad – seine Daumennägel sind lang und schmutzig.

    »Hau´n wir ab«, sagt er mit tiefer Stimme und packt den Schaltknüppel.

    Er blickt in den Rückspiegel. Seine Augen sind so dunkel und düster, dass man die Pupillen nicht erkennt. Der Wagen fährt los.

    »Leg dich lieber hin«, sagt sein Vater.

    Sein Blick ist nicht so fest wie sonst. Er sieht rasch nach rechts und links, während er Ranieri an den Schultern herunterdrückt. Ranieri streckt sich lang auf der Rückbank aus, sein Vater ergreift eine dunkle Decke und legt sie über ihn; sie stinkt nach Motoröl und ist staubig. Ranieri ergreift den Stoff und spannt ihn, damit er ihm nicht auf der Nase oder dem Mund liegt. Aber so ist er ganz nah an den Augen, und Ranieri kann durch kleine Löcher im Stoff sehen. Das sandfarbene Dach des Automobils verändert sich mit der Dunkelheit: Es wird braun, dann grau. Sein Vater und der Fahrer schweigen, der Motor dröhnt, unterbrochen nur vom Quietschen der Fenster und dem Säuseln der Luft im Innenraum. Ranieri atmet durch den Mund, um die stinkenden Abgase nicht zu riechen.

    Dunkelheit breitet sich aus. Der Wagen wird von einem Ruck durchgerüttelt, dann noch einer – das müssen Schlaglöcher sein, oder die Straße ist holpriger geworden. Bestimmt sind sie weit weg von der Stadt, vielleicht auf dem Land.

    »Scheiße«, sagt der Fahrer.

    Das Automobil hört auf zu vibrieren, das Brummen des Motors wird leiser. Eine Straßensperre? Ranieri atmet schneller, aus Angst, dass sein Bauch sich zu sehr wölbt und jemand ihn von draußen sehen könnte. Er spürt sein Herz im Hals und in den Schläfen schlagen.

    »Überlass das Reden mir, bleib ganz ruhig«, sagt sein Vater.

    Der Fahrer brummt tief, ein schwaches Licht erhellt das Dach. Das Fenster quietscht. Draußen spricht jemand Deutsch. Ranieri nimmt die Hände herunter, sodass die Decke auf seinem Gesicht liegt. Können sie ihn so erkennen?

    Auch sein Vater spricht Deutsch.

    Ranieri hält den Atem an. Wo hat er das gelernt? Und warum hat er ihm nie davon erzählt?

    Der Mann draußen sagt wieder etwas – er hat eine junge, fast hohe Stimme. Sein Vater antwortet, und die beiden fangen an zu lachen. Das Lachen des Deutschen ist scharf, schrill, es kommt aus der Kehle und klingt gereizt. Das Lachen seines Vaters hingegen kommt tief aus dem Bauch und ist das Lachen, das Ranieri schon immer kennt, aber es scheint ihm ferner, fremder zu sein. Kann man unterschiedlich lachen, je nachdem, welche Sprache man spricht?

    Der Sitz seines Vaters knarrt, er muss sich aus dem Fenster gelehnt haben; er sagt noch etwas auf Deutsch. Dann ein metallisches Schnappen von einem Feuerzeug und das Zischen der Flamme. Jemand saugt Luft ein, dann macht das Feuerzeug Klack.

    »Danke«, sagt der Deutsche.

    Sein Vater hat einem Deutschen eine Zigarette angeboten!

    Der Wagen fährt weiter.

    »Das war knapp«, sagt der Mann am Steuer.

    »Darüber müssen wir uns jetzt keine Gedanken machen«, sagt sein Vater, aber Ranieri fragt sich, ob diese Worte ihm gelten.

    Der Motor heult auf, der Wagen fährt nach links und rechts, es ruckelt und der Fahrer schimpft leise auf die Madonna. Ein weiterer Schlag, und er schimpft auf Jesus. Sie müssen auf einem Eselspfad sein.

    Das Automobil wird langsamer, es fährt bergauf, die Zeit dehnt sich. Eines der Räder gerät in ein Schlagloch und Ranieri stößt sich den Kopf an der Tür: Der Wagen hat sich schräg gestellt. Noch ein Fluch, diesmal auf Gott.

    »Hier ist es gut«, sagt sein Vater, »wir gehen zu Fuß weiter.« Er steigt aus, öffnet die hintere Tür und Ranieri klettert heraus. Er fröstelt, die Luft ist frisch. Sein Vater knöpft ihm die Jacke bis zum Hals zu.

    »Folge mir«, sagt er und marschiert auf einer Straße voller Steine los, die von den Scheinwerfern des Automobils beleuchtet wird.

    »Ist es noch weit bis zur Schweiz?«

    »Nur noch ein paar Stunden Fußmarsch.«

    Das muss der Ort sein, zu dem sie wollen. Sein Vater macht einen kleinen Schlenker und verschwindet im Unterholz, den Berg hinauf. Ranieri folgt ihm und erwartet das Dröhnen des Wagens, das Quietschen der Reifen auf dem Kies. Doch der Fahrer hat das Licht ausgeschaltet und sich eine Zigarette

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