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Reserveleben
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eBook632 Seiten10 Stunden

Reserveleben

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Über dieses E-Book

Reserveleben ist eine mitreisende Geschichte über das Schicksal zweier am Kopf miteinander verwachsener siamesischer Zwillinge mit vielsagenden Namen: Zlata (die Goldene) und Srebra (die Silberne). Im Fokus steht ihr Kampf um Individualität, Privatsphäre und ein voneinander getrenntes Leben. Ihr Drama spielt in der Zeit von 1984 bis 2012 zwischen Skopje und London, umfasst aber auch Geschehnisse, die nicht nur Teil ihrer persönlichen, sondern auch der kollektiven Erinnerung und Geschichte sind. Der von Zlata erzählte Roman beginnt an einem Nachmittag im Juni 1984 in einer Vorstadt von Skopje, wo er im August 2012 auch endet. Die zwei Hauptfiguren spielen mit einer Freundin Wahrsagen: wen sie wo und wann heiraten und wie viele Kinder sie bekommen werden, ob ihr Ehemann arm, reich oder gar ein Milliardär sein wird. Zu Beginn spielen Srebra und Zlata, am Ende Zlatas Tochter Marta und Marija. Der Kreis schließt sich – 28 Jahre Leben, Heranwachsen, Leiden, Lieben und Hassen. Die Trennung der siamesischen Zwillinge fällt mit der Trennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken zusammen. "Reserveleben" ist nicht nur ein Liebes-, sondern auch ein politischer und Geschichtsroman sowohl über die Zeit, in der wir leben, als auch über Menschen, in denen wir uns wiedererkennen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Dez. 2021
ISBN9789616995801
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    Buchvorschau

    Reserveleben - Lidija Dimkovska

    litterae-slovenicae-logo1

    II/2021/LIX/153

    Lidija Dimkovska: Reserveleben

    Originaltitel: РЕЗЕРВЕН ЖИВОТ четврто издание MAK

    Original: © Lidija Dimkovska, 2012

    Übersetzung: © Slowenischer Schriftstellerverband (DSP), 2021

    Übersetzung des Romans

    Alexander Sitzmann

    Übersetzung des Nachwortes

    Lisa Rieger

    Nachwort

    Kristina Jurkovič

    Redaktion von Litteræ Slovenicæ

    Tina Kozin, Tanja Petrič

    Redaktionelle Bearbeitung dieser Ausgabe

    Nataša Čebular

    Sprachliche Korrektur

    Senta Wagner

    Titelfoto

    Nataša Kupljenik

    Herausgegeben und verlegt vom

    Slowenischen Schriftstellerverband (DSP), Ljubljana

    Vertreten durch seinen Präsidenten Dušan Merc

    1. elektronische Auflage, Ljubljana 2021

    https://litteraeslovenicae.si/

    ISSN 2712-2417

    Cena 13,99 €

    URL: https://www.biblos.si/isbn/9789616995801

    Kataložni zapis o publikaciji (CIP) pripravili v Narodni in univerzitetni knjižnici v Ljubljani

    COBISS.SI-ID 79324163

    ISBN 978-961-6995-80-1 (ePUB)

    Lidija Dimkovska

    Reserveleben

    Aus dem Mazedonischen

    von Alexander Sitzmann

    Mit einem Nachwort

    von Kristina Jurkovič

    DRUŠTVO SLOVENSKIH PISATELJEV

    SLOVENE WRITERS’ ASSOCIATION

    LJUBLJANA 2021

    Protect me from what I want.

    Jenny Holzer

    Alle Anspielungen auf Personen, Ereignisse und Handlungen erfolgen auf eigene Verantwortung.

    1984

    An diesem Juninachmittag vor unserem Wohnblock in der Peripherie von Skopje spielten Srebra, Rose und ich ein ganz neues Spiel: das Schicksal vorhersagen. Mit weißer Kreide zeichneten wir Quadrate auf den aufgeheizten Beton der Rampe vor der Garage, und in die Quadrate schrieben wir das Alter, in dem wir heiraten wollten. Sicher fielen wir jedem Passanten ins Auge und auch immer noch den Mietern, die auf ihren Balkons saßen oder an den offenen Fenstern des Gebäudes standen und die uns nur zu gut kannten, denn meine Schwester und ich waren Zwillinge, siamesische Zwillinge, mit zusammengewachsenen, an den Schläfen miteinander verbundenen Köpfen, direkt oberhalb meines linken und ihres rechten Ohrs. So waren wir auf die Welt gekommen, zu unserem Unglück und zur Schande unserer Eltern. Beide hatten wir langes, dichtes, kastanienbraunes Haar, das die Stelle, an der wir zusammengewachsen waren, verdeckte, oder zumindest glaubten wir das. Auf den ersten Blick sahen wir so aus, als hockten wir nebeneinander und hätten nur die Köpfe zusammengesteckt, unsere Körper darunter waren frei, sie steckten in Sommerkleidchen ohne Träger, mit einem Gummiband oberhalb der Brust, ich in einem grünen mit kleinen gelben Blümchen und meine Schwester in einem roten mit blauen und weißen Pünktchen. Meine Schwester, Srebra, also wörtlich die Silberne, und ich, Zlata, die Goldene, konnten uns im Alter von zwölf Jahren wegen unseren Vornamen nur schämen. Wie konnte man seine Töchter bloß Srebra und Zlata nennen? Und dann auch noch Kinder, die sowieso schon durch zusammengewachsene Köpfe gezeichnet waren und auf ihre Umgebung abnormal wirkten. Das waren Namen für alte Frauen, für irgendwelche Tanten, die das Treppenhaus putzen, oder solche, die Kartoffeln vor dem Backhaus verkauften. Mama brachte uns immer mit irgendwelchen Argumenten zum Schweigen, wenn wir wieder wegen unserer Namen rebellierten: „So wollte es euer Pate, Zlata nach der Heiligen Zlata von Meglen und Srebra nach irgendeiner Srebra Apostolova, die zwei osmanische Begs in Lerin umgebracht haben soll. „So ein Blödmann, war stets unser Kommentar, einer der seltenen Fälle, dass wir einer Meinung waren. Seit der Taufe hatte der Pate keinen Fuß mehr in unsere Wohnung gesetzt, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Genauer gesagt war er zum Geldverdienen nach Australien ausgewandert und hatte uns endgültig aus seinem Bewusstsein gelöscht. „Der Goldfisch und sein Silberfischchen, hänselten uns die Kinder in der Straße, und außer Rose und manchmal Bogdan spielte niemand mit uns. Die einen durften von ihren Eltern aus nicht, damit sie nachts keine Albträume bekämen, wenn sie tagsüber mit uns, den „Abartigen, spielten, andere wiederum nahmen von selbst Reißaus und bewarfen uns aus der Ferne mit Steinen, wobei sie uns als „Zurückgebliebene" beschimpften. Rose war die Einzige, die keine Schwierigkeiten mit unserer körperlichen Unzulänglichkeit hatte, sie wohnte im zweiten Stock unseres Wohnhauses, war ein Jahr älter als wir, hatte dichte, schwarze Locken, schwarze Augen und eine dunkle Hautfarbe, war etwas kleiner, aber kräftiger, denn es gibt Kinder wie uns, die so zart sind, dass man meint, der Wind würde sie davonwehen, mit dünnen Beinchen, bleichem Gesicht und kleinen, grünbraunen Äuglein, und es gibt Kinder wie Rose, die muskulös aussehen, gesund, schwer hochzuheben und mit kräftigen Armen. Sie war sehr entschlossen, und ihre Ansagen waren so energisch, dass wir ihren Vorschlägen jedes Mal zustimmten. So war es auch an diesem Tag, als sie vorschlug, Quadrate zu zeichnen und das gewünschte Alter für unsere Hochzeit hineinzuschreiben, über das Quadrat sollten wir die drei Anfangsbuchstaben unserer Angebeteten schreiben – als potenzielle Ehemänner, unter das Quadrat die Zahlen von eins bis drei – wie viele Kinder wir haben wollten, links davon die drei Anfangsbuchstaben der finanziellen Situation unserer Männer (arm, reich, Millionär) und rechts davon die Anfangsbuchstaben von drei Städten, in denen wir mit unseren Männern gern leben würden. Mein Quadrat und Srebras Quadrat lagen dicht beieinander, Rose zeichnete ihres ein wenig abseits von unseren. Dann zählten wir die Zeichen rundherum genauso viele Male ab wie die Zahl, die in der Mitte des Quadrats stand, und kreisten die Buchstaben und Zahlen ein, die uns auf diese Weise zufielen. So sahen die Muster unseres ersehnten Ehelebens irgendwann in der Zukunft aus:

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    Rose wollte in acht Jahren heiraten, was ihr ohnehin schon lange vorkam, im Alter von 21 Jahren, genau wie ihre Mutter, und ihr fiel zu, dass sie einen Jungen mit P heiraten würde, ja, wie schön, dass ihr ausgerechnet ihr Schwarm Panait aus Katherini zugefallen war, wohin sie jedes Jahr im Juli mit ihrer Familie in den Urlaub fuhr, in ein altes Haus mit Ferienwohnungen nahe der Kathedrale des Städtchens. Und im Nachbarhof wohnte Panait, ein sympathischer Junge, der Rose zuliebe einige Brocken Mazedonisch gelernt hatte, gerade genug für ihre schüchterne Verständigung mit Blicken, fürs Versteckenspielen und Baden im Meer. „Oh, wir werden arm sein, rief sie aus, denn so hatte sie es getroffen, dass Panait arm sein würde und dass sie nur ein Kind haben und in Thessaloniki leben würden, der Stadt, die Panait von allen Städten der Welt am liebsten mochte, weil er dort geboren worden war, als Frühgeburt, dort hatte man ihm das Leben gerettet, und deshalb pilgerte er jedes Jahr mit seinen Eltern in die Kirche des Heiligen Demetrios, um sich bei ihm zu bedanken. „Nur ein Kind, sagte Rose traurig, denn in ihrer Vorstellung hatte sie, wenn sie groß und mit Panait glücklich verheiratet wäre, ein Haus voller Kinder oder zumindest zwei, so wie sie und ihre Schwester, die drei Jahre älter war als sie.

    Srebra, die mit 23 heiraten wollte, fiel ein Junge mit dem Anfangsbuchstaben D zu, und auch wenn sie niemand Bestimmten im Sinn hatte, hatte sie ihn hingeschrieben, damit es drei Männernamen waren, D wäre reich, sie hätten zwei Kinder („Du Glückliche!, rief Rose) und würden in einer Stadt mit dem Anfangsbuchstaben L leben. „In London!, rief sie, und vor lauter Überraschung ließ ich ihren Kopf ein wenig mit meinem zurückzucken. „Warum London? Du weißt ja nicht einmal, wie es dort aussieht! Und dann auch noch so weit weg! Ich will nicht in London leben! Wie willst du dort leben, wenn ich nicht auch dort lebe? Du denkst nur an dich selbst! Ja, schon von frühester Kindheit an hatte ich das Gefühl, dass Srebra nur an sich selbst dachte und dass es sie überhaupt nicht kümmerte, dass wir zusammengewachsene Köpfe hatten, dass wir keine voneinander getrennten Leben haben konnten, sondern nur ein gemeinsames, als wären wir eine Person in zwei zur Hälfte miteinander verbundenen Körpern. Alles mussten wir gemeinsam tun: essen, schlafen, aufs Klo gehen, in die Schule, rein, raus, alles. Als wir noch klein waren und sie nachts pinkeln musste, schlug sie plötzlich die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett, was bedeutete, dass sie auch mich äußerst unsanft mit sich zog, mich unerwartet aus einem Traum weckte und auf die Füße stellte, auch wenn ich mich immer noch in einem Zustand der Verwirrung befand, zwischen Traum und Wachen. Der Schmerz an der Stelle, wo wir miteinander verbunden waren, war so stark, dass ich vor Entsetzen laut aufschrie, doch Srebra rannte schon mit zusammengebissenen Zähnen und mir im Schlepptau Richtung Toilette. Und wenn dort die eine auf der Kloschüssel saß, musste auch die andere sich hinhocken und meist auf dem harten, blauen Plastikmülleimer Platz nehmen, den wir links oder rechts von der Kloschüssel hinstellten, abhängig davon, welche von uns auf der Schüssel hockte, in ihn wurde nicht nur das Papier zum Abwischen geworfen – das übrigens kein Klopapier war und nicht stank, sondern Papier für die Schreibmaschine, das unsere Mutter heimlich von der Arbeit mitbrachte und dann Blatt für Blatt in vier gleich große Streifen zerriss, damit wir uns damit nach dem Geschäft säubern konnten – sondern auch Küchenabfälle, Essensreste und überhaupt alles, was Müll war. Auch ich war oft grob, zog sie plötzlich in irgendeine Richtung, aber mir war bewusst, dass unsere Köpfe real zusammengewachsen waren, dass wir in jedem Augenblick auf unser Verhalten achten mussten, um einander nicht zu verletzen, vor allem körperlich, denn der Schmerz in den Schläfen, wo unsere Köpfe zusammengewachsen waren, war nicht auszuhalten, wenn wir unerwartet eine nicht angekündigte Bewegung machten. Auch Srebra war bewusst, dass wir zwei Personen in einer waren, aber nur körperlich, wenn sie Kopfschmerzen bekam, psychisch jedoch nicht, sie machte große Pläne fürs Leben und verknüpfte sie einfach nicht mit meinen Wünschen und unseren gemeinsamen Möglichkeiten. Sie war sich sicher, dass wir eines Tages, wenn wir groß wären und viel Geld hätten, eine Operation zur Trennung von siamesischen Zwillingen bezahlen könnten. Sie glaubte so fest daran, dass sie auch mit verbundenen Köpfen Pläne machte, als wären wir bereits getrennt. So war es auch damals bei unserem Vorhersagespiel, als sie in aller Seelenruhe zu mir sagte: „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich in London leben will, doch du hast es nicht hingeschrieben, bitte schön, du hast den Buchstaben S gezogen, sicher Skopje, aber ich werde um nichts in der Welt hierbleiben! In London wird man uns sicher trennen können, dort gibt es solche Ärzte! Mir stiegen schon die Tränen in die Augen. Ich kniff sie so stark ich konnte mit der linken Hand in ihren rechten Ellenbogen. Srebra hob den linken Arm und schlug mir über ihren eigenen Kopf hinweg so stark sie konnte auf den Kopf. Ihre Schläge auf den Kopf bereiteten mir ganze Tage lang Schmerzen. Mama sagte einmal zu ihr: „Du wirst noch ihr Gehirn durchlöchern, dann stehen wir schön blöd da, und Papa fügte wie immer hinzu: „Ihr Blutsaugerinnen, ihr habt die ganze Welt verschlungen. Und auch wenn unsere Köpfe zusammengewachsen waren, und zwar über eine gemeinsame Vene, in der sich unser Blut vermischte, sodass wir in Augenblicken der Erregung, Sorge und in anderen Extremsituationen in unserem Leben beide das Gefühl hatten, als würden unsere Herzen in unserer gemeinsamen Schläfe schlagen, dachten wir trotzdem verschieden, das heißt, unsere Gehirne waren im Inneren nicht miteinander verwachsen, und ich kann nicht sagen, ob das in unserem Leben ein glücklicher oder unglücklicher Umstand war. Deshalb zischte mir Srebra auch jedes Mal, wenn sie mir auf den Kopf schlug, zu: „Wehe, du sagst was zu Hause! Aber jetzt konnte sie nichts sagen, weil ich so heftig zu weinen anfing, dass sich Rose sofort über uns beugte und meine Augen mit der Hand trocken wischte. „Zlata, hör auf, schau, was für ein Glück du hast, dein Mann wird Millionär sein und ihr werdet ein Kind haben, und mit den Millionen werdet ihr sicher auch einen Arzt finden, der eure Köpfe trennt. Ich schluchzte und hockte regungslos da, während ich fühlte, wie Srebra in Gedanken bereits nach London reiste, allein, ohne mich, und ich war nirgendwo, ich hatte das Gefühl, verschwunden zu sein, körperlich nicht zu existieren. „He, was spielt ihr denn da?, rief in diesem Augenblick Bogdan, der sich uns leise genähert hatte, die ganze Zeit über war er ein wenig abseits von uns gesessen, auf der Erhöhung aus Beton oberhalb der Rampe vor der Garage, angelehnt an die Eingangstür des Gebäudes, und hatte aus dem Augenwinkel unsere Bewegungen mitverfolgt, während er sichtlich interessiert, aber ohne Stift, nur für sich, ein Kreuzworträtsel löste, das er aus einer Zeitung herausgerissen hatte. „Misch du dich nicht ein, fuhr ihn Srebra an, ich schwieg und schluckte den Rotz hinunter, der sich nach den vielen Tränen in meinem Hals sammelte, und Rose zuckte nur die Achseln. „Ihr denkt nur ans Heiraten, was Klügeres fällt euch nicht ein, warf Bogdan ein und lachte überrascht. „Na schau, der Buchstabe B, bin das etwa ich? Bevor es mir überhaupt gelang, rot zu werden, fiel im selben Augenblick von einem der Balkons ein Blumentopf mit einem Kaktus auf unsere Quadrate für das Vorhersagespiel und zersprang in tausend Stücke. Man hörte wütende Rufe und Flüche. Krümel von Blumenerde verstreuten sich überall über unsere Quadrate, nur mein Quadrat konnte man gerade noch so erkennen, und ich wollte ein Jahr früher heiraten als Srebra, einen Jungen mit Anfangsbuchstaben B, er sollte Millionär sein, wir würden in Skopje leben und ein Kind haben. Und das war nicht Bogdan, denn Bogdan war der ärmste Junge, den wir kannten, und ich konnte ihn mir nicht als Millionär vorstellen, denn ich dachte, nur arme Mädchen könnten Millionärinnen werden, wenn sie groß sind, doch Jungen blieben arm oder reich, ein ganzes Leben lang. Wir hoben unsere Köpfe und sahen zum zweiten Stock hinauf, auf dem Balkon hatte sich die alleinstehende Verka aufgebaut und schrie mit ihrer von Zigaretten und Alkohol rau gewordenen Stimme: „Ihr habt meine Mutter unter die Erde gebracht! Ihr! Niemand anderes! Aber auch ihr werdet sterben! Tante Mira auf dem Balkon darüber versuchte, sie zu besänftigen: „Aber Verka, du kannst doch nicht mit Blumentöpfen werfen, du wirst noch die Kinder treffen, geh wieder ins Haus, und in diesem Augenblick trat unser Vater in einem weißen Unterhemd auf den Balkon und rief: „Ich komme gleich zu dir runter, dann wirst du schon sehen! Verfluchte Säuferin!, woraufhin er sich zu uns umdrehte und uns ebenso scharf zurief: „Geht hinters Haus, eurer Mutter ist ein Handtuch runtergefallen, holt es. Die Alleinstehende zog sich in die Wohnung zurück, Rose rannte nach Hause, und Srebra und ich gingen schwankend, so wie sonst auch immer, hinters Haus, und unter der zweiten Reihe von Balkons entdeckten wir das Handtuch, wie es an einem unteren Ast des Pflaumenbaums hing, den wir mit Rose vor genau zwei Jahren gepflanzt hatten, als Symbol unserer Freundschaft. Das Bäumchen war schon gewachsen, es wand sich unter dem Fenster von Onkel Sotir empor. Wir bekamen das Handtuch zu fassen, und statt um das ganze Gebäude herumzugehen, um es durch die Tür zu betreten, schlüpften wir durch die Öffnung im Fenster im Erdgeschoss, dessen Scheibe man vor Jahren schon entfernt hatte, höchstwahrscheinlich mit Absicht, damit die Mieter nicht ums Gebäude herumgehen mussten, um hinter das Haus zu kommen, wo sie immer das Gemüse für den Winter einweckten, und auch zu den Garagen, die sie illegalerweise aus dem gebaut hatten, was sie gerade fanden, und so blickten wir von unseren Fenstern und Balkons aus nicht ins Grüne und auf eine Wiese, sondern auf Garagen – die eine aus einer Persenning gemacht, eine andere aus Wellblech, eine dritte aus Beton, eine vierte aus Brettern. Bogdan folgte uns zum Fenster, dann sagte er nur „ciao und kletterte auf den Lindenbaum, der in der Nähe stand. „Gehst du nicht nach Hause?, konnte ich ihm noch zurufen, während Srebra mich hinter sich herzog, um durchs Fenster zu steigen, doch er sagte nichts, und es gab auch nichts zu sagen, weil ihn zu Hause schon seit einem ganzen Jahr niemand mehr erwartete. Wir alle wussten das, aber wir taten auch alle so, als wüssten wir von nichts, seit dem Tag, an dem seine Mutter beerdigt wurde und die ganze Klasse zusammen mit der Klassenlehrerin zu ihm gegangen war, um ihm ihr Beileid auszusprechen. Bogdan lebte früher mit seiner Mutter in einem kleinen Schuppen beim Selbstbedienungsladen „Slavija, in einem einzigen Zimmerchen, mit einer Toilette, die an der rückwärtigen Wand montiert war. Seine Mutter war Putzfrau in einigen Wohnblocks in der Umgebung, auch in unserem. Vater hatte er keinen. Und auch wenn er extrem arm war, war er immer ordentlich angezogen, sauber und gekämmt. Seine Mutter war eine vorzeitig gealterte und verhärmte Frau, die immer nur über Bogdan sprach, sie sagte, dass sie nichts anderes wollte, nur dass Bogdan die Schule abschließt, dass etwas aus ihm wird. Bogdan beherzigte das, sowohl in der Schule als auch außerhalb: Er las, was er in die Finger bekam, er liebte es, Kreuzworträtsel zu lösen, er bettelte wortwörtlich und zog die Onkel am Ärmel, die auf den Parkbänken oder auf ihren Balkons Zeitung lasen, dass sie ihm die Seiten mit den Kreuzworträtseln herausrissen, aber meist hatte er keinen Bleistift, also löste er sie im Stillen für sich, ganz darauf konzentriert, die bereits gefundenen Lösungen im Kopf zu behalten. Die Kinder, die nicht wussten, wo Bogdan wohnte, konnten sich auch nicht vorstellen, in welcher Armut er lebte und dass er eigentlich, seit sie bei seiner Mutter Rachenkrebs gefunden hatten, sogar hungerte. Wir erfuhren das aus seinem Aufsatz zum Thema „Wenn es nicht mehr schlimmer kommen kann, nicht einmal einen Monat nach dem Tod seiner Mutter. Die Lehrerin betrat die Klasse an diesem Morgen zusammen mit der Direktorin der Schule, und während wir immer noch wegen des Erscheinens der Direktorin schauderten, fragte sie: „Wer möchte seine Hausaufgabe nicht vorlesen? Wir waren von der Frage verwirrt, und auch wenn die meisten von uns unsere Hausaufgaben nicht gern laut vorlasen, wagten wir es nicht, die Hand zu heben. Nur Bogdan meldete sich. „Aha, da haben wir ja jemanden, der nicht will. Und genau deshalb wird er müssen, sagte sie und lachte laut und im Duett mit der Direktorin. Bogdan hatte keine Wahl, er stand auf und begann mit bebender Stimme: „Bevor sie krank wurde, kaufte meine Mutter ein Ferkel und ein Kaninchen. Bald darauf kam sie ins Krankenhaus. Ich blieb allein zu Hause zurück. Es war Winter, wir hatten keine Heizung, tagsüber nach der Schule streifte ich durch die Siedlung und nachts deckte ich mich bis über den Kopf mit drei Bettdecken zu. Für das Ferkel ging ich jeden Abend auf den Schulhof zurück, stahl einige der vertrockneten Blumen vor dem Denkmal des Namensgebers unserer Schule und brachte sie ihm. Vor Weihnachten kam meine Mutter aus dem Krankenhaus zurück. Sie konnte nicht sprechen. Sie lag nur da und sah mich an, mal mich, mal das Ferkel und das Kaninchen. Zu Weihnachten wog unser Ferkel 25 kg und der Bruder des Ferkels bei den Nachbarn 200 kg. Der Nachbar schlachtete auch unser Ferkel und machte für uns daraus drei Würste und ein wenig Schinken. Bald darauf kam meine Mutter erneut ins Krankenhaus. Den ganzen Winter über bis in den März aß ich ein bisschen von den Würsten und dem Schinken. Ich war sparsam, ich wollte mir etwas für die Zukunft aufheben. Im Frühling begann die letzte Wurst zu schimmeln, aber ich schnitt auch weiterhin nur kleine Scheiben ab, entfernte den Schimmel, und so ernährte ich mich bis in den Juni hinein. Das Kaninchen wurde immer dünner. Eines Tages entschloss ich mich, sein Fell zu rupfen, um es gegen Brot einzutauschen. Während ich rupfte, rupfte ich ihm auch ein Stückchen rosa Fleisch aus. Es floss Blut. Die Wolle wog nicht mehr als 100 g. Das Kaninchen war Haut und Knochen, ein lebendiges Gerippe. Ich schlachtete es, bevor es vor Hunger starb. Ich kochte es und aß es auf. Meine Mutter kam nach Hause und starb. Ich überlebte. Schlimmer konnte es nicht kommen." Alle in der Klasse verstummten. Hinter meiner Brille füllten sich meine Augen mit Tränen. Durch der Spannung der Haut zwischen unseren Köpfen wusste ich, dass Srebra ihr Gesicht so stark, wie sie konnte, zu einer Grimasse verzogen hatte, das tat sie immer, wenn ihr nach Weinen zumute war. Die Lehrerin und die Direktorin flüsterten miteinander, dann läutete die Schulglocke, und wir rannten aus dem Klassenzimmer. Meine und Srebras Schritte waren nie vollständig synchron, entweder schleifte ich sie hinter mir her oder sie mich. So war es schon, als wir laufen lernten, sie wollte schneller auf eigenen Beinen stehen, ich wollte noch krabbeln. Wäre nicht die Geduld von Großmutter Stefka gewesen, hätten wir vielleicht nie erste Schritte gemacht, sie hockte auf dem Boden und hielt mich auf der gleichen Höhe wie Srebras Körper, die gehen wollte, und rutschte auf dem Boden neben ihr her, ohne mich loszulassen und ohne ein Wort zu sagen, damit Srebra nicht aufhörte, es zu versuchen. Wenn ich krabbeln und Srebra gehen wollte, spielte Großmutter Stefka eine Katze und brachte auch Srebra dazu, ganz bis zu dem kleinen schwarzen Tüchlein zu krabbeln, das neben der Tür lag und eine Maus darstellen sollte. Wir krabbelten alle zusammen, Srebra und ich mit den zusammengewachsenen Köpfen, und auch Großmutter Stefka robbte mit ihrem Hüftspeck wortwörtlich über den Boden.

    Der Tag nach dem Vorfall mit Bogdans Aufsatz war ein Samstag, wir sammelten Altpapier, gingen von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus und schleppten Säcke voll Altpapier aus den Kellern. Am Ende des Tages wogen der Hausmeister und die Direktorin der Schule das gesammelte Papier, berechneten den Verkaufspreis und noch bevor sie es weitergaben, reichten sie Bogdan einen grauen Umschlag mit Geld, unser Balsam für seine Wunden. Nach diesem Vorfall fragte ihn niemand auch nur ein einziges Mal danach, wie er lebte, was er sich für das Geld gekauft hatte, ob er zu essen hatte. Wir erfuhren, dass er der Verkäuferin im Selbstbedienungsladen neben seinem Schuppen Geld gegeben hatte, damit sie ihn für die Rätselzeitschrift „Kotelec abonnierte, die er jetzt überallhin mitnahm. Wenn wir ihm dabei zusahen, wie er mit strahlendem Gesicht und funkelnden Augen Kreuzworträtsel löste, kam er Srebra und mir ein wenig verrückt vor. Wir sprachen kaum ein Wort mit ihm, wenn Rose nicht bei uns war, Srebra hatte praktisch immer nur Spott für ihn übrig, und ich spürte in der Brust, wie meine Worte erstarrten, wie ich keinen Satz mit Anfang und Ende bilden konnte, ich war blockiert wie vor einem Fremden, der meine Sprache nicht spricht – du siehst ihn nur an und weißt nicht, was du zu ihm sagen sollst, damit er dich versteht. Rose hatte keinerlei Probleme in der Kommunikation, mit niemandem, sie unterhielt sich mit jedem, den sie traf, sie war das offenste Mädchen in unserer Straße, ohne Hemmungen, weder gegenüber Kindern noch gegenüber Erwachsenen. Wegen Rose fühlte sich Bogdan willkommen in unserer Runde, aber er drängte sich nie auf, er suchte nie besondere Aufmerksamkeit, zählte auf niemanden von uns. Eines Tages verlor Rose einen Ohrring hinter dem Haus. Wir suchten im hohen Gras zwischen den Garagen danach, unter dem Aprikosenbaum, der gleich neben dem Transformator stand und im Sommer schmackhafte orange Früchte trug. Mal zog ich Srebra, mal zog Srebra mich hinter sich her. Srebra griff in den Dornbusch am Zaun, der den Hinterhof unseres Gebäudes vom Haus „der Brüder trennte, wie unsere Eltern die Leute nannten, die gegenüber von uns wohnten, und sie fand den Ohrring. Am Transformator wuchsen die meisten Glückshalme. Wir pflückten sie, dachten uns Wünsche aus, entfernten alle Blätter, und am Ende durfte nur der Stängel übrig bleiben. Wenn es uns gelang, den Stängel nicht abzureißen, vergruben wir den Glückshalm irgendwo, damit unsere Wünsche in Erfüllung gingen. Es gelang mir nicht ein einziges Mal, meinen zu verstecken, ohne dabei von Srebra beobachtet zu werden, und auch Srebra gelang es nicht, ohne von mir gesehen zu werden, obwohl es ein ungeschriebenes Gesetz war, dass in solchen Situationen eine von uns die Augen zumachte. Ich war davon überzeugt, dass unsere Wünsche unmöglich in Erfüllung gehen konnten und dass nur Rose in Zukunft auf schöne Überraschungen hoffen durfte. Deshalb überließen wir uns ihrem Willen, ihren Ideen und Vorschlägen für ständig neue Großtaten. Alle klugen wie auch verrückten Dinge, die wir bis 14 Uhr taten, wenn unsere Eltern von der Arbeit und ihre Schwester aus der Mittelschule kamen, taten wir bei Rose zu Hause. Im kleinen Regal im Esszimmer, neben den Kaffeetassen und Weingläsern, standen zwei Kaleidoskope – ein rotes für Rose und ein blaues für ihre Schwester. Srebra und ich nahmen sie heraus, ohne Rose vorher zu fragen, ich das rote, Srebra das blaue, und während Rose in der Küche hantierte, schauten wir uns die wundersamen Figuren in den Kaleidoskopen an. Wenn ich darüber nachdenke, habe ich nie wieder in meinem Leben so lange ein Kaleidoskop in Händen gehalten wie damals bei Rose. Nur einmal, in einem kleinen Spielzeugladen in Covent Garden in London fand ich ein ähnliches rotes Kaleidoskop, aber als ich hineinschaute, war nichts würfelförmig, eckig und kubistisch wie in Roses Kaleidoskop, sondern alles gerundet, mit weichen Farbübergängen, viel zu sanft, geradezu ein Verrat an der Struktur eines echten Kaleidoskops. Während wir beide, Srebra und ich, die scharfen Farben und Figuren in den Kaleidoskopen anstarrten, die sich beinahe berührten, kam Rose ins Esszimmer und hielt einen ungewöhnlichen Wasserkrug aus Plastik in der Hand, der wie eine Traube aussah, und um die Tülle hatte sie ein zwei, drei Meter langes Seil gewickelt. „Auf, lasst uns das Gras gießen, sagte sie, und das bedeutete, dass Srebra und ich hinuntergehen mussten, hinters Haus, unter ihren Balkon, und sie würde die Traube mit dem Seil herunterlassen, wir würden danach greifen und damit die Kornelkirsche wässern, die jedes Jahr den Frühling inmitten des Graus der Garagen hinter dem Haus ankündigte, wir würden auch die anderen Blumen gießen, die im Gras unter den Balkons von Tante Elica, von Rose und Tante Dobrila wuchsen. Das war das einzige Fleckchen, auf dem keine Garagen wuchsen, einige Meter Natur mitten in dem urbanen Chaos hinter unserem Haus. Wenn das Wasser aufgebraucht war, zog Rose die Traube vom Balkon aus wieder hinauf, füllte neues Wasser ein, ließ es zu uns hinunter, und auf diese Weise gossen wir jeden Zentimeter Boden und am Ende auch die Blätter der Hecke rund um die Grünfläche. Dann kam auch Rose zu uns herunter und schmiedete bereits Pläne für das nächste Spiel. Sie beschloss, uns das Fahrradfahren beizubringen. Das war uns allen schon immer unmöglich vorgekommen, besonders unserem Vater, der in der Garage neben seinem schwarzen, alten Fahrrad auch noch ein altes, rotes Klapprad aufbewahrte, Herkunft unbekannt, mit einem schwarzen Sattel, einem orangefarbenen Kettenrad und ohne Behelfssitz über dem Hinterrad. Wenn wir in seine Garage hinuntergingen, um von ihm Malkreiden zu bekommen, betrachteten wir immer das rote Klapprad mit einem unklaren Gefühl des Zweifels, wie sollten wir überhaupt zusammen auf diesem Fahrrad fahren können, wo würde Srebra sitzen, wo ich. Und dann sagte er immer: „Ein Fahrrad ist nichts für euch, wenn ihr runterfallt, haben wir den Salat. Doch Rose dachte anders. Sie bat uns, nach Hause zu gehen, den Garagenschlüssel zu holen, das Fahrrad aus der Garage zu schieben, während sie ihres holte, und dann sollten wir ihren Anweisungen fürs Fahren folgen. Natürlich taten wir es. Rose stellte zuerst die Sättel beider Fahrräder auf die gleiche Höhe ein, dann sagte sie zu Srebra, sie solle sich auf unser Klapprad setzen, und ich sollte mich auf ihres setzen, ganz nah nebeneinander. Wir mussten die Arme überkreuzen, sodass meine linke Hand ihren Lenker rechts und ihre rechte Hand meinen Lenker links greifen konnte. „Schaut nach vorn und nicht auf den Boden, sagte Rose und schob uns an, wobei sie uns jeweils am Sattel festhielt. Wir kamen zwei Meter weit und krachten in einen alten Lada, der auf dem Gehsteig geparkt war. Wir fingen uns mit den Händen an den Seitenscheiben ab, und zum Glück prallten unsere Köpfe nirgends dagegen. Aber in der Fahrertür war eine kleine Delle, und die Lenker der Fahrräder waren verbogen, als unsere Väter von der Arbeit nach Hause kamen, mussten wir gestehen, was wir an diesem Nachmittag nach der Schule angestellt hatten. Außer dass man uns anschrie, fluchte und mit dem Kinderheim drohte, wurden Srebra und ich nicht weiter bestraft, und Rose fragten wir nie danach, ob sie zu Hause eine Straf bekam, wenn sie etwas Falsches getan hatte. Meistens ging sie an solchen Tagen dann nachmittags nicht mehr hinaus, und Srebra und ich gingen, weil wir nicht wussten, was wir nach all dem Geschrei mit uns anfangen sollten, für gewöhnlich zu Tante Verka. Wenn wir nicht gerade mit Rose zusammen waren, wollten wir nur selten etwas miteinander spielen oder alle beide an den gleichen Ort gehen. Das war ein ständiges Problem für uns und auch für unsere Eltern, wir hatten nie die gleichen Wünsche, egal worum es ging, wenn Srebra wollte, dass wir unsere Cousine Verče besuchen, wollte ich zu Hause bleiben und einen Kinderfilm anschauen, wenn ich in die Bibliothek wollte, um ein bestimmtes Buch zu holen, wollte sich Srebra nicht von der Stelle rühren. So viele Zankereien, Überredungsversuche, Bisse, Kniffe und Tritte gegen die Beine für jeden Vorschlag, für jeden Plan im Leben. Wenn wir uns wenigstens für ein, zwei Stunden voneinander hätten trennen und jede das tun können, was sie wollte! Doch das war nicht möglich. Aber zu Tante Verka gingen wir beide gern, diese Frau zog uns beide an – eine alleinstehende Trinkerin, die im zweiten Stock unseres Wohnblocks lebte, genau gegenüber von Roses Wohnung, eine ungewöhnliche Frau, die uns gleichzeitig liebte und hasste, aber das störte uns nicht. Wie alt mag Tante Verka zu der Zeit gewesen sein, als wir Kinder waren? Als Srebra und ich Geschenke von ihr erbettelten? Als sie uns die Kassette „Lieder über Tito von ihrer Gewerkschaftsreise nach Belgrad mitbrachte? Zusammen mit der Puppe aus Filz, die jahrelang Staub ansammelte? Als sie mir die Bücher von Mir-Jam und Srebra die von Marie Louise Fischer gab? Als wir bei ihr waren und sie auf der Couch saß und Onkel Blaško ihr den Rücken massierte? Mir war es peinlich, und Srebra wurde von dem Anblick übel, aber trotzdem brachen wir nicht gleich auf, sondern blieben am Tisch sitzen und reichten uns das Sahnekännchen, indem wir es über den Tisch gleiten ließen. Damals erfuhren wir, dass der Verkäufer in der einzigen Buchhandlung in unserer Siedlung, wo wir am ersten Schultag all unsere Schulbücher und Hefte kauften, an Krebs erkrankt war, und Tante Verka war zu Tode erschrocken, sie könnte auch krank werden. Sie zeigte uns ein Foto von ihrem Sohn, der sich von ihr losgesagt hatte, davor hatte er ihr aber noch geholfen, die Wohnung für Alleinstehende in unserem Wohnblock zu bekommen. Tante Verka schickte uns nach einer kleinen Flasche Schnaps, nach Mayonnaise und Zigaretten. Das Wechselgeld teilte sie auf den Dinar genau zwischen uns auf, die Hälfte für mich, die Hälfte für Srebra. Stundenlang hockte sie auf dem Balkon, nippte am Schnaps, rauchte Zigaretten und beschimpfte von Zeit zu Zeit jemanden auf der Straße, rief einem der Mieter, die auf ihren Balkons saßen, einen Fluch zu, gab irgendeinen merkwürdigen Schrei von sich. In dieser Zeit saßen Srebra und ich für gewöhnlich in ihrem Wohnzimmer, am Fenster, das auf dieselbe Seite hinausging wie der Balkon, wir beobachteten sie und kicherten leise oder zählten das Geld, das sie uns gegeben hatte. Danach warf sie uns entweder unvermittelt selbst hinaus, wobei sie uns beschimpfte und unsere Köpfe verfluchte, oder wir schlichen uns heimlich aus der Wohnung, verließen das Gebäude auf der Rückseite durch das Fenster ohne Scheibe und dann ab in den Laden, wo wir uns gegenseitig auf die Füße stiegen, um Lutscher und Schokodragees zu kaufen. Dann liebten Srebra und ich uns normal, wie Schwestern, ohne irgendwelche Zärtlichkeiten, Händchenhalten oder Ähnliches, aber zumindest waren wir nicht wütend aufeinander, stritten und neckten uns nicht. Tante Verka war eine der raren Persönlichkeiten in unserem gemeinsamen Leben, die uns miteinander verband. Vielleicht luden wir auch deshalb nur Rose, Verče und Tante Verka zu unserem zwölften Geburtstag ein. So viele Streitereien wegen eines blöden Geburtstags! Unser Vater jedoch machte keine große Sache daraus, er ging in die Garage, in seinen Atombunker, wie ich sie nach dem gleichlautenden Namen einer kroatischen Rockband nannte, während unsere Mutter alle Phasen der Missbilligung, des Keifens und Drohens durchlief, bis sie am Ende die Hände hob, weil es mit uns keinen Frieden im Haus geben konnte, das sei ihr schon klar gewesen, als sie uns zur Welt brachte, wertlos wie Fledermäuse mit zusammengewachsenen Köpfen. Ihr war immer noch nicht klar, warum sie uns nicht in ein Heim gegeben hatte, sondern sich von unserem Vater hatte überreden lassen, uns mit nach Hause zu nehmen, sich davon hatte überzeugen lassen, dass sich Ärzte finden lassen würden, die uns trennen könnten, wenn wir erst einmal ein wenig größer und für eine solche Operation bereit wären, aber er hatte sie belogen, wo gab es schon solche Ärzte, denn wenn es wirklich welche gäbe, dann würden auf der Welt ja überhaupt keine solchen Fälle wie der unsere existieren. Ich weiß nicht, ob Srebra und ich bereits gegen ihre Mutterliebe abgehärtet waren oder ob man es als Kind paradoxerweise nicht auf diese Weise empfindet, solange man nicht größer ist und in späteren Jahren beginnt, es zu analysieren. Wie auch immer, wir ließen den Streit einschließlich Beleidigungen, bösen Worten und Trotzreaktionen über uns ergehen, und am Ende bekamen wir trotzdem unseren Willen. Wir würden unseren Geburtstag um jeden Preis feiern, zum ersten Mal in unserem Leben. Geburtstage seien etwas für reiche Leute, so dachte unsere Mutter, und weil wir im Sommer geboren waren, wenn man ohnehin nicht in die Schule ging, bräuchten wir unseren Geburtstag auch nicht zu feiern. „Wer wird denn kommen? Ach Gott!, sagte sie. Und so machte Mama am Tag unseres Geburtstags trotzdem Grießkuchen mit Sirup und eine mit gemahlenen Walnüssen bestreute Erdbeerpuddingtorte, wir gingen in den Laden und kauften Knabberzeug und Pfefferminzlikör und zu Hause verdünnten wir auch Kornelkirschsaft mit Wasser. Wir ordneten alles schön auf der weißen Gefriertruhe im „großen Zimmer an, das heißt im Zimmer, in dem unsere Eltern schliefen. Bald darauf kamen Rose, Tante Verka und unsere Cousine Verče; Rose mit einem Geschenk – Schreibhefte mit dickem rotem Umschlag, Tante Verka mit Geld in beiden Taschen ihres Rocks, Verče mit Geld in einem gefalteten weißen Papier, so wie es ihr unsere Tante mitgegeben hatte. Wir ließen Musik laufen, unsere einzigen Kassetten, „meinen čorÄ‘e Balašević und Srebras Zdravko Čolić, knabberten Salzstangen, Tante Verka stürzte sich auf den grünen Pfefferminzlikör, dann schnitten wir die Torte ohne Kerzen und Zeremonie an und aßen, während wir die Lieder von den Kassetten mitsummten. Unsere Eltern saßen nicht mit uns im Zimmer, unser Vater blieb die ganze Zeit über in der Garage, und unsere Mutter hockte in der Küche und stickte einen Gobelin, die Ohren immer gespitzt, um unseren mit der Musik vermischten Stimmen zu lauschen. Tante Verka, die sogar nachts in ihren Träumen betrunken war, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, sie süffelte den Pfefferminzlikör direkt aus der Flasche, lachte mit ihren gelblichen Zähnen, zwischen denen auch zwei goldene hervorschimmerten, Rose versuchte, die Atmosphäre fröhlicher zu gestalten, indem sie mit Srebra und mir „one, two, three, schlag mich jetzt oder schlag mich nie spielte, Verče ließ die Schlange aus winzigen schwarz-weißen Perlen durch ihre Hände gleiten, die als Dekoration auf dem Schrank lag, aber im Zimmer herrschte trotz der Musik eine solche Leere, dass sie mir auch heute noch Gänsehaut verursacht. Unser Geburtstag war so traurig, dass wir in den folgenden Jahren nie wieder von einer Feier sprachen, sondern den Tag unserer gemeinsamen Geburt, jede auf ihre Art, in uns unterdrückten, auch wenn die Anspannung den ganzen Tag über anhielt und besonders groß wurde, wenn die Eltern von der Arbeit nach Hause kamen und kein Wort darüber verloren, dass unser Geburtstag war. Aber Tante Verka hatte sich gemerkt, dass wir im Sommer Geburtstag hatten, und einige Jahre lang vergaß sie nie, uns etwas wie ein Geschenk zu geben, irgendeinen alten Gegenstand, den sie zu Hause herumliegen hatte, irgendein Porzellanpferdchen oder ein Huhn aus Spitze oder gestrickte Strümpfe, die an den Griffen der Schränke hingen, oder ein Buch von Tito, von Marx oder Engels, das sie bei der Arbeit kaufte, bis man sie als chronische Alkoholikerin vorzeitig in Rente schickte, oder Geld, damit wir uns Lutscher oder Schokodragees kaufen konnten. Unsere Mutter verfluchte sie immer auf dieselbe Weise: „Ihr Herz soll sie verschlingen, sagte sie, auch wenn uns nicht klar war, warum sie sie so wenig mochte, aber eigentlich mochte sie auch niemand sonst im Wohnblock, alle schlugen ihr die Tür vor der Nase zu, nahmen Reißaus, um sie nicht auf der Treppe oder draußen zu treffen, stellten sich taub, wenn sie sie etwas fragte, und manche beleidigten sie auch offen, indem sie ihr „Säuferin! Du stinkst und deine Wohnung auch, du wirst uns noch Krankheiten ins Haus einschleppen! Für dich gibt es nur das Gefängnis in Idrizovo! Meine Güte, dein Sohn hätte keine Wohnung für dich finden, sondern dich auf der Straße verrotten lassen sollen! Wieso haben sie ausgerechnet dich in unser Haus einquartiert? und was nicht sonst noch alles nachriefen. Bei den Beleidigungen legten sich besonders die Männer ins Zeug, weil sich Tante Verka auch am häufigsten an sie wandte, wenn sie nach einer Zigarette oder einem Schluck Schnaps oder Bier fragte. Nur Onkel Blaško aus dem ersten Stock stritt sich nicht mit ihr, weil er weder rauchte noch trank, sondern nur auf dem Balkon herumsaß und jedem, der vorbeikam, etwas wie einen Gruß zumurmelte. Wenn wir zu Hause um etwas Süßes baten, sagte Mama immer im Spaß: „Was Süßes gibt’s bei Onkel Blaško, dem alten Süßholzraspler. Tatsächlich kommt es mir so vor, als hätten Srebra und ich nur um etwas Süßes gebeten, um zumindest ein paar freundliche Worte von ihr zu hören, um zu spüren, dass sie uns liebt. Onkel Blaškos Frau war jung verstorben, an Magenkrebs, am Tag der Beerdigung waren Srebra und ich auf unserem Balkon und beobachteten, wie der Leichenwagen sich näherte. An der Straßenecke stand sich Onkel Blaškos Sohn die Beine in den Bauch, sechs Jahre alt, in einem kleinen, blauen Anzug, mit einem hellblauen Hemd, die Haare zum Seitenscheitel gekämmt. Ein kleines, verlorenes Kind ohne Mutter. Niemand hielt ihn an der Hand, er stand alleine da und wartete darauf, dass der Leichenwagen in unsere Einfahrt abbog. Sein Vater schlug sich auf die Brust und weinte laut. Niemand sonst weinte, die erwachsenen Hausbewohner stiegen in ihre Autos und fuhren dem Leichenwagen hinterher, in den sie den Sarg mit Tante Milka geladen hatten. In all den Jahren vor ihrem Tod hatten Srebra und ich sie eigentlich nur einmal gesehen, an dem Tag, an dem wir einen Verkehrsunfall hatten. An diesem Tag kam unsere Tante zu uns, auch sie mit großen Sorgen, weil unsere Cousine im Krankenhaus lag, wo man ihr einen Eierstock entfernen würde, und das im Alter von zehn Jahren. Tante Ivanka legte sich auf die Küchenbank und weinte, vom Schmerz überwältigt, sie beklagte Verčes Schicksal, dass sie mit nur einem Eierstock in diesem Leben keine Kinder würde bekommen können. Unsere Mutter sagte damals zu ihr: „Du glaubst doch nicht, dass meine je Kinder haben werden? Wer wird sie denn nehmen mit solchen Köpfen. Srebra und ich standen stumm neben der Küchenbank, uns war nicht klar, warum Verče keine Kinder würde bekommen können, wir konnten uns nicht daran erinnern, was die Biologielehrerin über die Empfängnis erzählt hatte, und wir schwiegen, Srebra hatte den Blick zu Boden gesenkt, ich hielt das kleine, rote Telefon in der Hand, das wir unserer Cousine gekauft hatten und mit dem wir sie im Krankenhaus besuchen wollten. Im Eingangsbereich trafen wir Rose, sie nahm wie immer zwei Stufen auf einmal und kam gerade aus dem Laden zurück. „Ui, das ist mal ein schönes Telefon, rief sie uns zu. Ich weiß nicht, wie wir überhaupt in dem Škoda Platz fanden, aber wir stiegen alle ein: unser Vater, unsere Mutter, unsere Tante, Srebra und ich und auch noch Tante Milka, bereits krank, sie würde zu einem Arzt im selben Krankenhaus gehen, in dem auch Verče lag. Wir waren nicht einmal fünf Minuten gefahren, als Papa mit dem Auto an der Abzweigung auf die Hauptstraße in ein anderes Auto hineinfuhr, das in diesem Augenblick aus der Gegenrichtung kam. Der Aufprall war nicht sehr stark, aber ausreichend, wir erschraken wie noch nie zuvor. Unsere Tante und Tante Milka stiegen aus und rannten erschüttert zur Bushaltestelle, um auf einen Bus zum Krankenhaus zu warten, wir mussten auf die Polizei warten, und auch wenn wir zu Fuß nach Hause hätten gehen können, blieben wir doch dort und warteten und erst nach einer Stunde waren wir wieder daheim. Papa war verwirrt, er konnte nicht glauben, dass ihm so etwas passiert war, dauernd sah er sich die verbogene Stoßstange des Autos an. Mama war verstummt, sprach kein Wort, wurde ganz bleich, und ich fragte mich bereits, ob sie wieder in der Phase war, in der sie gleich in Ohnmacht fallen würde, denn diese Phase in ihrem und auch unserem Leben dauerte schon seit Jahren an und sie bestand darin, dass ihr plötzlich schwindlig und sie bleich werden würde, um dann das Bewusstsein zu verlieren, all das gefolgt von den Worten: „Ich werde sterben. Für gewöhnlich weinte Srebra dann, sie konnte ihren mürrischen Gesichtsausdruck nicht aufrechterhalten, mit dem sie sich gegen die Tränen wehrte, und ich zitterte, mir war kalt, als herrschten um mich herum minus dreißig Grad, ich zitterte so sehr, dass ich auch Srebra durchschüttelte, doch meine Hände schwitzten. Aber diesmal fiel sie nicht in Ohnmacht, als wir zu dritt in die Wohnung hinaufkamen, schüttete sie wie automatisch Bohnen in den roten Topf, begann sie zu verlesen, setzte sich in der Küche auf die Bank und mit starrem Blick hörte sie nicht damit auf, im Topf die Bohnen zu verlesen. Srebra und ich setzten uns auf den breiten Stuhl am kleinen Tisch, der für uns bestimmt war und den unser Vater schon vor langer Zeit für uns angefertigt hatte, aus Balken, die er von irgendwoher hatte, auf die Sitzfläche legte er ein großes Kopfkissen, und so saßen wir da, schwiegen und gaben uns unsere einzige Puppe hin und her, der Mechanismus, der sie zum Weinen brachte, war aus ihrem Bauch entfernt worden, sie war nackt, kahl und der eine Arm fiel ständig ab. Wir reichten sie einander wie ein echtes Baby, vorsichtig, zärtlich, wortlos. In der Wohnung herrschte Totenstille. Plötzlich ging die Wohnungstür auf, und Papa kam herein, mit einem Mann, wahrscheinlich einem Automechaniker. Sie setzten sich ins Esszimmer, wir rührten uns nicht von der Stelle, Mama stand nicht auf und verlas weiter die Bohnen, wir hörten, wie Papa den Mann fragte, ob er einen Schnaps wolle. Der Mann nickte höchstwahrscheinlich, weil man kein Wort hörte, dann ging Papa ins große Zimmer, wo die Gläser und die Schnapsflasche standen, kam von dort mit ihnen zurück, Srebra und ich spähten von unserem Stuhl in der Küche aus durch die Öffnung zwischen der Küche und dem Esszimmer, und dann sagte Papa zu dem Mann: „Nimm nur, Landsmann. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich damals das Wort „Landsmann, und es schnitt sich mir ins Bewusstsein ein, mit gestickten Buchstaben. Dieses Wort inspirierte mich, es erfüllte mich mit Hoffnung. Die Männer tranken ihren Schnaps aus und gingen wieder hinaus. Wir schwiegen noch immer. Srebra musste mal, wir standen auf und gingen auf die Toilette, und dort, während ich auf dem Abfalleimer saß und mir die Nase zuhielt, um nicht Srebras Ausscheidungen riechen zu müssen, begann Srebra zu kichern und auch meinen Kopf mit ihrem Gekicher durchzuschütteln. „Landsmann hat er gesagt, so ein Quatsch! Papa hat doch gar keine Landsleute, wenn er niemanden dort kennt, wo er früher gelebt hat. Er belügt sich selbst. Ja, ich wusste, dass Srebra recht hatte, auch wenn ich nichts sagte. Unser Vater hatte seit Jahren seine Verwandtschaft nicht mehr gesehen. Als er unsere Mutter heiratete, lebten sie bei seinen Eltern, in dem Haus, das er, wie meine Mutter sagte, selbst gebaut hatte, schon als Kind hatte er Zement und Mörtel geschleppt, als unsere Tante und unser Onkel noch klein waren und Verstecken spielten, während er sich abmühte, aber jetzt machten nur sie sich dort breit. Die Eltern unseres Vaters verhielten sich einfach sehr unfair gegenüber dem jungen Paar, sie waren unzufrieden mit der Wahl des Sohnes, der sich eine Frau vom Land gesucht hatte. Während Papa bei der Arbeit war und Mama schwanger zu Hause saß, praktisch im Keller des Hauses, die kleinen Fenster vergittert, beleidigte Großvater sie, warf sie hinaus, rief sie dann wieder ins Haus, und einige Male schlug er sie auch mit dem Besen. Unsere Großmutter tat so, als bekäme sie von alledem nichts mit. Mama weinte jeden Tag, und vielleicht sind wir deshalb mit zusammengewachsenen Köpfen auf die Welt gekommen, mit einem körperlichen Makel, der nicht zu beheben ist. Als unsere Großeltern sahen, was für Kinder die Schwiegertochter zur Welt gebracht hatte, setzten sie uns alle zusammen ohne viel Federlesen auf die Straße. Unserem Vater gelang es noch, den einzigen Mantel, den er besaß, einzupacken sowie den rosa Kleiderständer mit Spiegel und Hutablage, der bis zum heutigen Tag bei uns im Vorzimmer steht. Sie nahmen mit, was mitzunehmen war, und zusammen mit uns, den einige Tage alten Babys, dem Kleiderständer und den Taschen quetschten sie sich in den ersten Bus, der vorbeikam, baten den Fahrer, sie mitsamt dem ganzen Gepäck einsteigen zu lassen, der Kleiderständer stieß dabei leicht gegen den Haltegriff im Bus, weshalb der Spiegel in der Mitte einen Sprung bekam, aber schließlich erreichten sie die letzte Haltestelle am anderen Ende der Stadt. Sie stiegen aus, sogar der Fahrer stieg aus und half ihnen mit dem Gepäck, und dort fragten sie die erstbeste Frau, die ihnen entgegenkam, ob sie vielleicht in der Nähe ein Zimmer wusste, das man mieten konnte. Die Frau namens Stefka hatte selbst ein freies Zimmer, weil sie in einem kleinen Häuschen am Ende der Siedlung wohnte, als Witwe und Mutter eines Sohnes, der nach Deutschland ausgewandert war. Großmutter Stefka nahm Srebra und mich auf den Arm, sie glaubte, wir wären Zwillinge wie andere auch, und es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte unsere Köpfe auseinandergerissen, hätte unsere Mutter ihr nicht gesagt, dass wir so auf die Welt gekommen waren, mit zusammengewachsenen Köpfen, Gott schütze und behüte uns. Egal, Großmutter Stefka gab uns das kleine Zimmer in ihrem Haus, trieb irgendwo eine aus Rattan geflochtene Wiege für uns auf, und so blieben wir dort ganze drei Jahre wohnen, bis es unseren Eltern gelang, mit Krediten die Wohnung zu kaufen, die zwei Haltestellen von unserer Unterkunft bei Großmutter Stefka entfernt lag. Unser Vater konnte seinen Eltern dieses Verhalten nie verzeihen. Diese wiederum verboten im Gegenzug ihrem anderen Sohn und ihrer Tochter wie auch allen anderen Familienmitgliedern wortwörtlich jegliche Beziehung zu unserem Vater. Papa blieb ohne Familie zurück, ohne die liebende Hand seiner Eltern. Unser Onkel und unsere Tante verbannten den ältesten Bruder ohne Mitleid aus ihrem Leben. Aber eines Tages, als Srebra und ich sechs Jahre alt waren, kam eine junge Frau zu uns, die dunkelhäutigste, die wir bis dahin gesehen hatten, setzte sich im großen Zimmer auf die Couch, auf der unsere Eltern nachts schliefen, nahm die Wärmflasche in die Hand – ein Schlauch, der auf dem Bett lag und den Srebra und ich einmal in der Schullotterie gewonnen hatten, wir tauften ihn Hermion und konnten nur abends mit ihm spielen, ihn wiegen oder mit ihm kuscheln, vor dem Schlafengehen, wenn wir ihn mit warmem Wasser füllten, erhitzt in einem kleinen grünen Topf auf dem Ölofen, aber es waren unsere Eltern, die mit ihm schliefen. Das Mädchen drehte die Wärmflasche in alle Richtungen, dann legte sie sie weg, holte aus ihrer Tasche zwei große Tafeln Schokolade mit Puffreis hervor, die größten, die es überhaupt gibt, und reichte sie Srebra und mir. „Das ist eure Tante, sagte unser Vater mit bebender Stimme, und seine Hände zitterten wie Espenlaub. Wir saßen da und betrachteten unsere Tante. Sie saß ein wenig da, weinte ein wenig, sagte kein Wort, stand auf und ging. An der Schokolade mit Puffreis aßen wir stückchenweise fast einen Monat lang. Niemand erwähnte diesen Besuch je wieder. Seit damals hörten die Hände unseres Vaters nicht mehr auf zu zittern, und er selbst wurde so nervös, dass er wegen jeder Kleinigkeit herumbrüllte. Eigentlich änderte sich seine Laune alle fünf Minuten: Mal war er freundlich und lieb zu uns, nannte uns seine Spätzchen, kaufte uns Schokolade mit Bildern aus dem Tierreich auf der Verpackung, mal schrie er uns an: „Ihr Blutsaugerinnen, ihr habt die ganze Welt verschlungen, „Rindviecher, „ich zieh gleich meinen Gürtel raus oder „geht zum Teufel! Eines Tages bastelten wir im Wohnzimmer gemeinsam Modelle von Ampeln und Verkehrszeichen für die Schule, und er ärgerte sich und begann, sein Repertoire an Beleidigungen herunterzuleiern. Ich zog Srebra mit aller Kraft weg, weil ich die Flut von obszönen Wörtern, die seinen Mund besudelten, nicht mehr ertragen konnte, Srebra schrie vor Schmerz auf, wir gingen hinaus auf den Balkon, und draußen kam gerade eine Folkloregruppe mit einem Bär vorbei, die den Lazarustag beging. Die Luft war winterlich und melancholisch, das große Zimmer kalt, im Esszimmer klebte unser Vater die Modelle zusammen und schrie gleichzeitig: „Die Welt habt ihr verschlungen!" Der Heilige Lazarus war nirgends zu sehen, nur der Bär ging auf zwei Beinen. Auch an diesem Tag aßen Srebra und ich Scholle, in Mehl ausgebacken. Diesen ganzen Winter über aßen wir Scholle. Ich mochte die Form des Fischs, er sah aus wie ein aufgeblasenes Herz. Srebra durchlöcherte ihn kreuzförmig mit der Gabel und aß ihn dann mit der Hand. Unsere Eltern aßen Kochschinken aus einer großen Konserve von fünf Kilogramm, mit Eiern gebraten, aber auch so zubereitet verbanden sich die Stücke Schinken nicht mit Hilfe der Eier, sondern lagen nur nebeneinander in der Pfanne. Sowohl den Fisch als auch den Schinken hatte Papa über seine Arbeitsstelle gekauft, zusammen mit einer großen Plastikdose Pflaumenmarmelade. Unser Vater trank Rotwein, den er im Keller aufbewahrte, und sein Zorn verflog. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Strom abgeschaltet wurde, und das geschah für gewöhnlich am Nachmittag, wegen der Stromrationierung. Dann quetschten wir uns zu viert auf die Küchenbank, und Srebra und ich fragten unsere Eltern nach gewöhnlichen französischen Phrasen, und sie erinnerten sich an Dinge aus ihrer Schulzeit oder erfanden etwas, und wir alle lachten, um uns herum herrschte Dunkelheit, doch es war uns nicht unangenehm, nebeneinander zu sitzen und zu liegen, aneinandergeschmiegt, nicht nur Srebra und ich, sondern auch sie, unsere Eltern, es war uns nicht unangenehm, uns zu lieben und glücklich zu sein. Schön waren diese Nachmittage ohne Elektrizität mit ihrer Illusion von Familienglück. Und wenn das Licht wieder aufflammte (ich stellte mir immer einen älteren Herrn vor, der in einem großen Raum voller Hebel zum Ein- und Ausschalten des Lichts saß und von dessen Willen allein es abhing, wann das Licht wieder angehen würde), wenn wir uns gegenseitig wieder sehen konnten, standen wir sofort auf, Srebra und ich sprangen wie auf Befehl gleichzeitig auf, beschäftigten uns mit etwas, was man am selben Ort tun konnte, oder stritten oder saßen einfach da, schauten in völliger Stille fern, jede von uns in sich selbst verschlossen, bereits entfremdet, und dann begannen wir, uns erneut zu hassen.

    Dieses Jahr schmückte wie gewöhnlich unser Vater den Baum zu Silvester, während Srebra und ich dahockten und zusahen, wie er die Glaskugeln aufhängte, wie er ihn mit dem ausgefransten roten Zierband umwickelte und den einen oder anderen Wattebausch auf die grünen Zweige setzte. Der Baum war klein, einen halben Meter hoch, und bescheiden geschmückt. Er schmückte ihn selbst, damit wir die Kugeln nicht zerbrachen, von denen ohnehin nur sechs vorhanden waren, alle unterschiedlich. Und dann nahm er ihn und trug ihn hinüber ins große, in ihr Zimmer. Er stellte ihn auf den kleinen Tisch, der in der Mitte des Zimmer stand, und unsere Mutter platzierte sofort danach links vom Baum die Schüssel mit dem Russischen Salat mit Mayonnaise, auf der rechten

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