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Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020
Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020
Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020
eBook517 Seiten6 Stunden

Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020

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Über dieses E-Book

Das Jahrbuch 2020 enthält die Felder-Rede, die der Architekt Roland Gnaiger unter dem Titel "Dem Nächsten und Konkreten zugewandt" gehalten hat. Es enthält eine Edition von bislang unbekannten Gedichten und Tagebüchern von Yvan Goll durch Barbara Glauert-Hesse. Barbara Wiedemann kann ausgehend von unbekannten Briefen neue Aspekte zur sogenannten "Goll-Affäre" präsentieren. Claudio Bechter schreibt über Paula Ludwigs Beiträge in den Kunst- und Literaturzeitschriften ihrer Zeit. Helga Zitzlsperger folgt den Spuren der sogenannten "Schwabenkinder" in der Literatur. Mit Johann Koderle, einem Freund Franz Michael Felders, der vor allem auch durch seinen Erfindungsreichtum und seine naturwissenschaftlichen Schriften in Erinnerung geblieben ist, beschäftigt sich Günter Felder. Ulrike Längle schreibt über Wilhelm Furtwänglers Beziehung zu Dornbirn und Heiden in der Schweiz. Mit dem Verhältnis von Werner Kofler zu Vorarlberg setzt sich Wolfgang Straub auseinander. Harald Weigel gibt einen Einblick in den bislang beinahe unbekannten Nachlass von Joseph von Bergmann. Im letzten Teil des Jahrbuchs werden Beiträge zur Literatur des Bodensees veröffentlicht: Marcus Twellmann schreibt am Beispiel von Annette von Droste-Hülshoff über den Zusammenhang von Literatur und Tourismus. Andrea Capovilla beschäftigt sich mit Büchern von Eva Schmidt und Anna Stern. Literarische Blicke auf Konstanz analysiert Hermann Gätje und Irmgard M. Wirtz schreibt über Thomas Hürlimanns Stück "Grossvater und Halbbruder". Veröffentlicht wird auch die Grabrede, die Ulrike Längle auf den Schriftsteller und Ausstellungsmacher Oscar Sandner gehalten hat. Das Protokoll der 52. Jahreshauptversammlung des Franz-Michael-Felder-Vereins sowie der Arbeitsbericht des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek runden diesen vielfältigen Jahrgang wie gewohnt ab.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783706561198
Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020

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    Buchvorschau

    Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler

    Edition

    BARBARA GLAUERT-HESSE

    Yvan Goll.

    Unveröffentlichte Gedichte

    und Tagebücher

    1918 – 1940

    Aus dem Nachlass von

    Robert Warnebold

    Gedichte 1918 – 1930

    Abstieg

    Jung schwang ich mich empor

    Im Knochengebirg

    Nach Göttern zu graben:

    Viele Väter vor mir

    Viele Söhne nach mir

    Lockt der Granit.

    Zum Übermut.

    Doch bald

    Wirft sie’s zurück

    In leuchtendes Vergessen:

    Rasch mit dem Wasserfall

    Reisst sie’s hinab – –

    Weise vom Sturz

    Reich vom Verlust

    Such ich die Menschen

    Die ich zurückliess:

    Ruhig

    Erwart ich ihre dunkle Karawane

    Ihre langsame

    Karawane

    Am Hügel lehnend

    Den Kopf im roten Klee

    Und – mit den Füssen im Bach

    Des Himmels Bild

    Zerschlagend

    *

    Und wende mich um

    Ein Mensch unter Menschen

    Von all dem Treiben

    Nur einen roten Klee

    Im Knopfloch

    Bergwald

    O Wald, du leuchtender lächelnder Freund

    Mit grünem Moosbart

    Von Sonne triefend und von Harz

    Mit tausend Armen umarmend,

    Mit tausend Händen verschwendend:

    Ich brauche deine Güte!

    Gib

    Du Reichgeborener,

    Goldäugiger, der wie ein Patriarch

    Mit kleiner Erdbeerliebe sich umgibt

    Und ein Ballett von Rehen unterhält

    In der Waldmeisterlichtung –

    Geheimniskundiger

    Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt

    Und greiser Eulen Weisheit lernte:

    Du gib mir das Geleit

    Bis ans Gebiet der Steine –

    Und der Einsamkeit

    Und zuversichtlicher

    Beschreit ich dann den Weg

    Des Einsamen.

    Fels-Grat

    Steig, steig

    Und wär's umsonst!

    Zehnmal gekreuzigt von der Sonne Nägeln

    Und immer kleiner vor den Türen des Himmels

    Du hängst am Rand der Erde – –

    Und fehlt dein Fuss – fällst du ins Nichts hinauf.

    Ein Tänzer musst du sein

    Auf Spitzen balancierend

    Nackt zwischen Tod und Tod

    Der Stein ist los

    Der Fels ist fremd

    Du Mensch: was klopfst du an den Türen des Himmels?

    Stumm

    Fluch

    Und überwind dein Herz

    Gekreuzigt von der Sonne Nagel

    Noch einmal fluch

    Und überwinde Gott!

    Gesang des Mädchens

    1.

    Streichle mich, Frühwind,

    Betöre mich mit deinen Amseln,

    Beströme mich mit deinem Lächeln.

    Da steh ich

    Schmal zitternd

    Ein Mandelbäumchen

    Mit blassen Blättchen,

    Und unter deinen heimlichen Küssen,

    Mannwind,

    Reift mein rosa Gefühl

    Und Durchduftet das Tal.

    2.

    Umschwalbe mich, Frühling,

    Umlerche mich, Süsswind,

    Ich bin deine Wiese

    Erblüht und erkleet!

    Ich minze den Bach,

    Ich bächle das Wäldchen,

    Ich nachte und monde

    Dem Liebenden zu.

    3.

    Der Wölkinnen rosigste

    Der Rosen wolkigste

    Will ich dir sein!

    Ganz hin geduftet

    Deinem Rauschen,

    O dass du mich umdornest

    Und dunkel dich entadlerst

    Und mir lächelst:

    Unhimmlischer Gott!

    Gletscher

    In der pariser Morgue

    Sah ich einmal die Toten eines Tags,

    In Eissärgen zur Schau gestellt:

    Ich suchte einen Freund

    Und fand ein Dutzend …

    So stand vor mir der Gletscher

    Mit seinen Totenkammern:

    Hier war der Götter Grabstatt

    Hier sah ich vieler Morgenröten

    Altgewordene Leichen

    Und früher Riesen dauernde Skelette

    Und dort auf einem weissen Felde

    Vom Frühlingsföhn des Schnees gelockt

    Lag eine Saat von kleinen grauen Vögeln

    Die trunken aus dem Tal

    Mit irren Schwingen

    An ihren Traum

    Geglaubt

    Und dafür starben

    Nachthütte

    Erst in der Hütte

    Ward’s wieder menschenwarm:

    Es duftete nach herbem Holz

    Nach liebem Feuer

    Nach Frauenhaar!

    Nun, seinen Sieg vergeuden!

    Wie nur ein Gletscher im März

    Hinrieseln

    Hinsinken

    Hinschmelzen

    Aus allen Munden tropfen

    Aus allen Augen weinen

    Zergehen zu Tal

    Zerrinnen zu Tiefe

    Essen

    Schlafen

    Mensch sein

    An der Schulter

    Die vergänglich ist

    Und zittert

    Schlucht

    Sind die Menschen für das Aug der Sterne

    Das mit Feuerblicken

    Sie erprobt:

    Sind die Menschen mehr als ein Gekröse

    Ein schattiges Geschlecht

    Im Tanz der Wälder und der Städte?

    Krone der Schöpfung!

    Mit eckigen Köpfen

    Mit Herzfehlern

    Hungersnöten ausgesetzt

    Und den schlimmeren Instinkten!

    Dumpfe Gruppen mit Trommeln,

    Müde Massen des Schweigens

    Füllen die Plätze

    Füllen die Häuser

    Und arbeiten

    Und arbeiten

    Und arbeiten

    Und wenn sie nicht arbeiten

    Klagen sie

    Klagen das Aug der Sterne an

    Das sie ansieht

    Und verlangen dass es ihnen helfe,

    Und wissen nicht

    Wozu es ihnen helfen soll

    Wald

    O Wald, mein bärtiger, reichgeborener Freund

    Der funkelnd von Goldsmaragd

    Mit tausend Armen und tausend Händen

    Sein Alles ausstreut

    Und immer freundlich ist.

    Du Vie[l]gewaltiger

    Der sich mit Kleinstem abgibt

    Die Erdbeeren zu liebenden Herzen erzieht

    Aus jedem Reh eine Tänzerin macht

    In der waldmeisterduftenden Lichtung

    Geheimniskundiger auch

    Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt

    Jedoch am glücklichsten

    Wenn ein dummes Rotkehlchen

    Die Tonleitern übt

    Dass du mein Freund bist

    Und mich den ersten Weg begleitest

    Bis ans Gebiet der steinernen Einsamkeit

    Wie zuversichtlich

    Schreit ich aus!

    Wald (2)

    Du wirfst deinen nächtigen Mantel um mich

    Legst Moos um meine Füsse

    Legst Moos um meinen Mund

    Und hältst den Schlag meines Herzens an!

    Und doch gibst du mir keine Ruh:

    Du Tausendäugiger!

    Unheimlich ist mir deine Freundschaft!

    Unheimlich deine väterliche Art:

    Denn spielst du nicht mit der Angst der Rehe?

    Verschweigst du nicht, du Tausendstimmiger,

    Ein schreckliches Geheimnis

    Mit deiner Eulen flügellosem Flug?

    Geschehn nicht Morde

    Am Mittaghang

    Der rot von Erdbeeren brennt?

    Was will die Wurzel,

    Die nach mir rennt?

    Ich fürchte mich vor deinem goldenen Lächeln

    Vor deiner tiefen Tiere

    Gottlosen Augen.

    Gedichte 1930 – 1937

    Ans Kreuz des Südens

    Hast du mich angeschlagen

    Nun leucht ich weiss – doch tot – diese

    deine Nächte

       *

    *    *

       *

    Plötzlich erschrak mein Körper

    Inmitten der brennenden Rosen

    Brannte er mit – ohne dich

    Auteuil, 27.8.1933

    Einen Tag und eine Nacht brauchte ich

    Um zu begreifen

    Dass Du es warst der an mein Herz klopfte

    Stark war ich und gross

    Wie im Gebirge

    Wuchsen meine Schmerzen über die Welt hinaus

    Das Linnen der Begrabenen presste meinen Leib

    Die Starre der Vergessenen dörrte meine Glieder

    Meine Augen waren leer wie die der Denkenden

    Da traf dein Atem mich

    Und ich erzitterte auf meiner Erde

    Zarter als der Krokus auf den Gräbern im Frühlingswind

    Leise rührtest du mich an

    Setztest sanft mir neue Augen ein

    Meine Brüste wurden spitz von der Berührung des Engels.

    Schwach bin ich nun

    Erschrocken und stumm

    Starr ich mit deiner Sehkraft

    Ins Antlitz der Verheissung

    Zögere nicht länger

    Du der über mich schwebt

    Spüre mein tödliches Zittern

    Stoss herab o mein Gott

    Komm!

    Hochsommerlied

    O dein Mohnblut

    Im Gewoge des Hafers

    Blaue Krone des Korns

    Die zum König mich kürt

    O du silberner Rittersporn

    Der die Lenden mir schürt

    Blühende Dornenhecke

    Dach meines Schlafes

    Dein Sommersonnengesicht

    Mir Atem mir Speise mir Licht

    Iwan

    21. Juni 1938

    Hügelwiese

    Nur einmal noch –

    Bevor der Berg beginnt –

    Den Kopf an deine traumduftende

    Hüfte schmiegen

    Das Haar mit Veilchengras vermischt

    Und im Geruch der Urgeburt versunken –

    Mutter! Mutter!

    Die ich verschrie,

    Niedere, Dienende,

    Die ich verschmähte,

    Die Wäsche wusch

    Im Acker grub

    Und nach dem Regen fragte –

    Mutter, Demutsmutter, Demeter

    Hier hier vor meinem Gang zu Gott

    Knie ich zu deinen Knien

    Und esse deinen Staub

    Weib, Leib, Erde!

    Ich lass fallen von mir

    Jahr um Jahr

    Wie der Platanenbaum seine Rinden.

    Langsam von der Stirn

    Löst sich das seidne Gelock

    Und der Geliebten

    Rötliches Lied entweht.

    Immer nackter wird meine Brust

    Immer einsamer mein Mund

    Immer grösser wird der Himmel

    Da die Augen mir

    Übergehn

    Klage auf Delos

    O käme jetzt die Amazone

    Noch den Galopp des Mustangs in den Hüften

    Und blutnass die Gelenke

    Von der gerade tobenden Schlacht:

    Sie würde mich retten,

    Nachtschattengefangene!

    Aber der Wind

    Findet den Weg zu mir nicht mehr,

    Die rosablaue Dämmerung

    Erstickt mich unter dem seidenen Zelt.

    Vom Himmel hängt die Ampel

    Die offenmündige Dattura

    Und mischt die Düfte des Todes

    In meinen Atem.

    Dort brennt die rote Schlacht,

    O klirrende Amazone

    Und dein Geschwader aufgeschäumter Pferde

    Sprengt Blitze in den Abend.

    Ich sehe deine rauchende Schulter

    Verwegene Heldin, fern!

    Mir aber steckt das Beil des Monds im Fleisch

    Und meine Mattheit ruft

    Die Tiere der Trauer schon:

    Die grossäugigen Sphinxe

    Und den bekreuzten Totenkopf,

    Indessen die Fledermäuse

    Mir schon die schwarzen Gehänge weben.

    Mein grosser Häuptling

    Ich danke dir dass du bist!

    Ein wildes Fest muss ich feiern

    Toben einen neuen Tanz

    Und opfern dem Schöpfer

    Der uns dein starkes Herz

    Erstrahlen liess:

    Palu!

    Du bist der erste Mensch

    Der ersten Tage

    Des erhabenen Jahrhunderts!

    Zur Führerin geboren

    Des geistigen Geschlechts

    Das doppelseelisch ist!

    Das 33. Jahr

    Das Jahr, in dem die Dichterpropheten

    Den einsamen Berg ersteigen

    Um die Sonne herabzuholen

    Den bangenden Menschen!

    Ich stehe an seinem Fuss

    Bereit deine Botschaft zu künden

    Wana

    Paris, 5. 1. 1933

    Wind

    Da plötzlich löst ein Einzelner

    Vom Zuge sich:

    Sprach mich wer an?

    Blickte ein Weib?

    Nein

    Ein

    Flüchtiger

    Flüssiger

    Wind

    Fuhr in mein Haar

    Umschlang meinen Hals –

    Ich hob das Haupt

    Sah eine Sonne

    Eine goldene Wolke

    Ein Dreieck von Störchen

    Rudernd gen Nord-Südwärts:

    Und ich ihnen nach

    Ihnen nach

    Zehn Welt tief unter uns

    Donnert die Untergrund

    Zehn Himmel über uns

    Schwirrt der Schneemöwenschwarm

    Planetenwärts –

    Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?

    Was vom Altern unsres Haars?

    Wir halten uns

    In Höhe unserer schmalen Augen

    Nichtachtend der Welten

    Über und unter

    Für Paula, 2. März 1931

    illustrationillustration

    Bericht

    Bei den vorliegenden Gedichten handelt es sich um elf Gedichte von Yvan Goll (1891 – 1950) aus der Zeit von 1918 bis 1930 und um zehn Gedichte, die auf die Jahre von 1930 bis 1937 datiert werden können. Ein Gedicht, Croix de Lorraine, stammt von 1940 und wurde 1944 erstveröffentlicht. Siebzehn Gedichte sind bisher unveröffentlicht. Die bereits veröffentlichten Gedichte wurden schon im Jahr 2013 in die zweibändige Briefedition Claire Goll, Yvan Goll und Paula Ludwig, „Nur einmal noch werd ich dir untreu sein". Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966, herausgegeben von Barbara Glauert-Hesse (Göttingen: Wallstein Verlag) aufgenommen. Mit dieser Veröffentlichung sind alle bekannten und erhaltenen Gedichte Yvan Golls in seinem veröffentlichten Werk versammelt. Sie stammen aus einem von Robert Warnebold (1934 – 2018) überlieferten Konvolut, das sich im Nachlass des Darmstädter Buchhändlers befand. Robert Warnebold war mit Paula Ludwig (1900 – 1974) und ihrem Sohn Friedel Ludwig (1917 – 2007) befreundet. Beide lebten ab dem Jahr 1970 ebenfalls in Darmstadt. Diese Freundschaft ermöglichte Robert Warnebold, seine umfangreichen Textsammlungen zu Paula Ludwig und Yvan Goll durch handschriftliche Zeugnisse zu erweitern. So kamen diese Autographen vermutlich durch Schenkungen, aber auch durch Ankauf in seinen Besitz. Im Zuge der Übernahme von großen Teilen der Warnebold‘schen Sammlungen zu Goll und Ludwig durch das Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek in den Jahren 2018 und 2019 kamen auch diese unveröffentlichten Texte von Yvan Goll nach Bregenz, die hier nun erstmals publiziert werden können. Ich danke dem Leiter des Archivs, Jürgen Thaler, dass er mich eingeladen hat, diese Editionsarbeit zu leisten. Meine langjährige Tätigkeit als Rundfunkredakteurin und Verlagslektorin in Mainz und Frankfurt führte mich schon nach dem Studium der Germanistik und der Amerikanistik in Mainz, Berlin und der University of Colorado in Boulder, Colorado, USA, im Jahr 1969 nach Paris zu Claire Goll. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft katalogisierte ich von 1969 an gemeinsam mit Claire Goll dort den Nachlass von Yvan Goll. Nach ihrem Tod 1977 setzte ich diese Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Yvan und Claire Goll-Archiv der Bibliothèque Municipale in Saint-Dié-des-Vosges, Frankreich, fort. Seit 1988 ediere ich die Gesamtwerke beider Dichter. Sie werden seitdem im Wallstein Verlag, Göttingen, veröffentlicht. Die Datierungen der noch unveröffentlichten Gedichte stammen – soweit sie nicht bereits bekannt waren – von der Herausgeberin. Zur Datierung herangezogen wurde eine private Gedichtedatei, die alle veröffentlichten Gedichte Golls umfasst sowie die von Andreas Kramer und Robert Vilain erstellte Bibliographie Yvan Goll – A Bibliography of the Primary Works (Peter Lang: Oxford-Bern-Berlin-Bruxelles-New York-Wien 2006).

    Anmerkungen

    Abstieg : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Entstanden um 1918.

    Bergwald : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: Die Alpenpassion. III Bergwald . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 79ff.

    Fels-Grat : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VII . Grat . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 84ff.

    Gesang des Mädchens .: 3 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Entstanden um 1918.

    Gletscher : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VI . Gletscher . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 82 – 84.

    Nachthütte : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VIII . Nachthütte . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 85ff.

    Schlucht : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VII . Schlucht . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 77ff. – Über seinen Gedichtband Dithyramben schrieb Goll am 18. Mai [1931] aus Bühlerhöhe an Paula Ludwig nach Berlin: „Inzwischen kamen auch die Dithyramben : aber ich schicke sie dir nicht, denn ich stehe gar nicht mehr zu ihnen, ich mag sie nicht mehr, und es kann also auch nicht sein, dass du sie mögest. Verzeih: aber lieber schreib ich dann was Neues. Eine Alpenpassion mit dir." In: Claire Goll, Yvan Goll, Paula Ludwig, „ Nur einmal noch werd ich dir untreu sein ." Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen: Wallstein 2013, S.91.

    Wald : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Die Handschrift wurde – vermutlich von Goll – durchgestrichen. Wir haben sie trotzdem hier aufgenommen. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Der Torso. Stanzen und Dithyramben. München: Roland Verlag, Dr. Albert Mundt 1918. Darin: Stanzen . Wald. I, II, III . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 122ff.

    Wald (2): 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Der Torso. Stanzen und Dithyramben. München: Roland Verlag, Dr. Albert Mundt, 1918. Darin: Stanzen . Wald. I, II, III . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 122ff.

    Ans Kreuz des Südens und Plötzlich erschrak mein Körper : 1 Bl., Hs. Datierung hs. von Yvan Goll: Auteuil 27.8.33. Zwischen den beiden Gedichten hs. von Goll: Vier gezeichnete Sterne. Veröffentlicht in: Iwan Goll, Paula Ludwig, Ich sterbe mein Leben . Briefe 1931 – 1940. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Goll. Frankfurt am Main-Berlin: Limes Verlag im Ullstein Verlag 1993, S. 201. Und in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 192.

    Einen Tag und eine Nacht brauchte ich : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935. Charakteristisch dafür ist, dass Goll in der ersten und letzten Strophe des Gedichts von seinem Gegenüber als „der spricht („Daß Du es warst der an mein Herz klopfte und „Du der über mich schwebt"): Goll nannte Paula Ludwig oft mit männlichen Namen. Die deutschen Originalfassungen der Chansons Malaises , Malaiische Lieder, entstanden in den Jahren 1932 – 1934. Bereits am 30.12.1932 erschienen neun Gedichte in der Vossischen Zeitung (Berlin), Nr. 362.

    Hochsommerlied: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Auf dem Original oben links die hs. Datierung „21 Juni 38". Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935. S. dazu Yvan Golls Brief an Paula Ludwig vom 17. Juni 1937 in: Iwan Goll, Paula Ludwig, Ich sterbe mein Leben . Briefe 1931 – 1940. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Goll. Frankfurt am Main-Berlin: Limes Verlag im Ullstein Verlag 1993, S. 473 – 475.

    Hügelwiese: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Der Handschrift nach zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise. Paris: Editions Poésie et Cie 1935.

    Ich lass fallen von mir: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Original unter dem Gedichttext der Abdruck eines getrockneten Blattes. Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935.

    Klage auf Delos: 1 Bl., Hs. Typoskript aus dem Nachlass von Paula Ludwig. Datierung um 1932. Veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 218. Darin: „Die offenmündige Dattura". Richtig: Datura. Datura: Engelstrompete (Pflanze), s. Ulrike und Hans-Georg Preißel, Engelstrompeten: Brugmansia und Datura. (Stuttgart: Ulmer 1997).

    Mein grosser Häuptling : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Datiert von Goll: Paris 5.I.33 (Paula Ludwigs Geburtstag). „Wana" (bedeutet Ivan mit a, d.h. weiblichem Ende des Namens) nannte sich Goll. Zugehörig zu: Chansons Malaises . Die deutschen Originalfassungen der Chansons Malaises , Malaiische Lieder , entstanden in den Jahren 1932 – 1934. Bereits am 30.12.1932 erschienen neun Gedichte in der Vossischen Zeitung (Berlin), Nr. 362.

    Wind: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Die ersten beiden Strophen von Goll hs. durchgestrichen. Entstanden vermutlich im März 1932, s. Yvan Golls Brief an Paula Ludwig [Paris, 26.3.1932] in: Claire Goll, Yvan Goll, Paula Ludwig, „ Nur einmal noch werd ich dir untreu sein . Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen: Wallstein 2013, S. 159: „Alle Menschen blickten in den Himmel, die Wagen stoppten, der Verkehr hielt ein: da ruderten meine Störche mit grossen, wilden Flügelschlägen vorbei, so gen Südosten zu Dir. [Originalzeichnung von Goll einer flügelschlagenden Vogelgruppe]. „Aber ich habe mir sagen lassen, dass sie auch manchmal weiter fliegen, übers Badenerland, in die Landschaften des Bodensees, also zu Dir, zu Dir."

    Zehn Welt tief unter uns: 1 Bl., Hs. Mit egh. Widmung von Goll: „Für Paula 2 März 1931". Veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 153. Und in: Ivan Goll, Malaiische Liebeslieder . Ebenhausen bei München Langewiesche-Brandt, 2001, S. 7. „Donnert die Untergrund: Die: Berliner Slang für die Berliner Untergrundbahn. Die zweite Hälfte des Gedichts („Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?), setzte Paula Ludwig als Motto über ihren Gedichtband Dem dunklen Gott (Dresden: Wolfgang Jess, 1932). Goll äußerte sich in seinem Brief an Claire Goll vom 24.1.1932 darüber: „Was das Motto betrifft, so ist es lediglich ein Auszug aus einem Gedicht, das sich im Manuskript bei ihr [Paula Ludwig] befand und von dem ich selbst keine Ahnung mehr hatte. Es ist ein Motto, wie viele andere – und bedeutet für die Dritten, Außenstehenden, nichts anderes." (Claire Goll, Iwan Goll, Meiner Seele Töne . Das literarische Dokument eines Lebens zwischen Kunst und Liebe – aufgezeichnet in ihren Briefen. Neu herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. (Mainz-Berlin: Kupferberg/Scherz 1966/1978, S. 79).

    Croix de Lorraine. Lothringisches Kreuz: In der bereits vorhandenen Sammlung ist nur die französische Fassung erhalten. 1 Bl. Kalligraphierte Handschrift. Erstveröffentlichung der französischen Fassung in: France Forever (New York), 24.12.1940. Weiter veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. IV . Späte Gedichte 1930 – 1950, S. 74 (französische Fassung), S. 75 (deutsche Übersetzung von Claire Goll). Erstveröffentlichung der deutschen Übersetzung in: Yvan Goll, Dichtungen . Herausgegeben von Claire Goll. Berlin-Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag 1960, S. 366. Zu ihrer deutschen Übersetzung gab Claire Goll folgende Notiz: „Die de-Gaulle-Partei ‚France for Ever‘ beauftragte Goll, ein Gedicht zu schreiben, das als Weihnachtskarte an die französische Kolonie in New York versandt wurde (1944). Goll schrieb es in Form des lothringischen Kreuzes. Auf der Originalkarte: „Poème d’Yvan Goll. Caligraphié par Thomas Naegele. Edité par Lucien Vogel. Publié par France Forever. Der Text der Karte lautet: „Bon Noël. Victoire et Libération pour La Nouvelle Année 1944. De la part de … Auf der Rückseite der Karte gedruckt: „Greetings of the Season. Meilleurs Voeux pour 1943 for [handschriftlich]: „Dr. & Mrs. Henry Sagan from [handschriftlich]: Claire &Yvan Goll". Dr. Henry Sagan: Arzt von Claire und Yvan Goll in New York.

    Tagebuch in Paris

    19. November 1919

    Ich muß mir sehr klar werden, was mit mir geschieht. Oder geschah etwas mit Paris? Einen Monat gab ich meinem ersten Tag Zeit, sich zu revisieren. Und nichts hat sich verändert. Ich bleibe traurig, trostlos, [wie damals, Paris ist eine Desillusion.*] *[gestrichen]

    Ergründe dich. Schmücke dich nicht mit dem elektrischen Glanz hirnloser Abende, da du tanzen möchtest vor Sehnsucht. Bete nicht den alten entfärbten Rosenkranz deiner zwanzig Jugendjahre zurück, dämme alle Sentimentalität ab, rücksichtslos gegen dein leer gewordenes Herz –

    Dann bleibt folgende Betrachtung: Zwecklos, Kamerad dieser Zeit, aus dir selber herauszuwollen! Wenn du in Berlin nach mir fragst, mischt sich Goldstaub in das Wasser deines Blicks, und es wird in dir eine Ferne, ganz als ob du Kindheit sähest. Beim Namen Paris erschrickst du – und wahrlich, goldene teure Bustiers und herrlich sitzende Raglanmäntel prangen auf allen Boulevards! Ist es das? In Japan gibt es wunderschöne Vögel und trapezförmige Berggipfel, Schnee oder Chrysanthemen; in Indien tut Buddha lächelnd alles, um Nichts zu werden, und rührt den schalen Reis mit dem Stäbchen – wie schön leuchtet alles nach Berlin! Aber was kann der Europäer in Asien aus sich machen? Nicht mehr, als in Swinemünde, am großen nördlichen Wasser, unterm stillen Großen Bären, neben einer traulichen Silberweide, im besten Sinne aus ihm werden würde. Und so Paris: Irrlegende, Irrlichter. Es sei denn, man wolle in Louvre und Luxembourg hohe Schatten beschwören, die Schönheit einer Vergangen[heit*] *[Papierriss] nicht durch verzerrte Autobusfenster zerfetzen lassen [wie es*] *[Papierriss] ist noch in alten Steinen, [wie in*] *[gestrichen] alten Büchern.

    ich [sic!] bewohne ein kleines Zimmer im Hotel des Grands Hommes, gegenüber dem Pantheon. Nur um den Kontakt mit der Literatur zu bewahren. Mein Zimmer ist nicht grösser als ein steinerner Sarkophag dort drüben. Aber es ist wärmer. Tulpen wachsen paarweise abwechselnd gelb und rot aus der Tapete. Wenn ich bedenke, wie kalt es so ein Genie in seinem Ruhm hat, will ich lieber als unbekannter Trödler in die lockere, wurmdurchdrungene, veilchendurchduftete Erde versenkt werden. Gestern* *[Text bricht hier ab.]

    *

    Warum erfüllt mich immer eine kosmische Trauer, wenn ich aus dem Schlaf in den von Sternstaub beschmutzten Himmel falle? Eine grosse unbekannte Schuld schlägt sich die Flügel wund in meinem Herzen, wie ein Ligusterfalter in einer Streichholzschachtel. Schnell spring ich auf, will es in die blaue Luft, in die Riesenwelt freilassen: da ist das Tierchen tot, mit zugeklebten Flügeln und so ergeben hingestreckten Füsschen. Ich kann schon nichts mehr für dich tun, meine Seele. Ich bleibe ein Verdammter. Wenn es nur morgen wäre und ich Zeitung lesen könnte!

    *

    Wozu mich in die Seine stürzen? Ich will mich in eine Frau stürzen.

    *

    Ich bin in diesen Tagen sehr unglücklich gewesen, weil ich einen grossen Frühling wieder habe vorbei ziehen lassen, ohne ihn ganz zu erleben. Meinen 33. Frühling. Das ist schlimm. Was habe ich in diesen 33 Jahren besseres getan als in den Nächten zuweilen die goldene Hand Gottes zwischen den Sternbildern erkannt, und an den Morgendämmerungen ein Kapitel aus dem Amselkoran mitgebetet. Die Erinnerung an solche Erlebnisse sind meine einzig bleibenden Werte.

    Im Herbst und den ganzen Winter hindurch, während ich durch die dumpfen Schächte, in den nebligen Untergrundbahnen von Paris mit einer 20 Kilometer Geschwindigkeit rasselte, träumte ich nur davon, im Februar, im März, spätestens im April in einer italienischen Landschaft zu sitzen, die ganz rosa wäre von Mandelbäumen, ganz mild von Myrthen, ganz schwarz von Vögeln, ganz glücklich von Glocken, ganz gesegnet vom Papst. Ach, ein gläubiges, ein katholisches, ein grausames Land, wo Bauern die weichen Zicklein auf der Schulter die verregneten Wiesenwege entlang zum Dorf, zum Metzger tragen, wo Kinder und Greise immer von neuem den bleichen, barbarisch rot verstümmelten Leib des Christus im Glaskasten durch die Nacht tragen, wo man fastet, betet, leidet, träumt.

    Da muß einer dreinfahren: Paul Colin, ein junger geschorener Löwe. Er, der von Belgien kommt, bietet sich an, nach Holland zu gehen, nach Deutschland und nach Berlin (was für ihn zweierlei ist), nach Dänemark, nach Wien. Licht blinkt östlich. Aber Schneewolken ersticken die Redaktion von „Clarté. Atmosphäre wie vor „schlagendem Wetter: die kleinen Lampen und die großen Herzen der Bergleute von Europa zittern.

    Abends

    Ruhige Jünglinge rauchen ihren Knaster. Sie sprechen sehr leise. Sie haben das grüne Kriegsbändchen im Knopfloch. Fast jeder zweite von ihnen gibt oder wird eine Zeitschrift herausgeben. Welchen Inhalts? Diese Jünglinge tragen das Erbe einer fünfzigjährigen sterilen Boheme und eines fünfjährigen sterileren Kriegs an sich. Und ein Geist schlägt aus ihnen, der ist aus Tabaksqualm und Opferrauch gemischt. Gute Menschen! Glückliche Woller. Aber Individualisten, Kämpfer für das Ideal, nicht für sich selbst. Diese Kameraden, auf die man vertraut, sind nicht Sozialisten, und doch akuteren Sinnes als Marcel Cachin. Sie sind keine „Revolutionäre", (das Wort kommt ihnen nie auf die Lippe) und unbeugsamere, unabhängigere Individuen als der Sanskulott.

    Hier, in der Redaktion eines Zwanzigjährigen, der whitmansche und menschenzärtliche Hymnen von acht Schulfreunden drucken zu müssen glaubt (wer liest sie?), hier wird die Zukunft Frankreichs vorbereitet, (wenn es eine Zukunft hat!), denn derselbe Mann mischt sich in keine öffentliche Versammlung, er nimmt nicht teil an „Clarté, wo seiner Meinung nach nur 6 „Pontifen sind, die alle 6 Päpste der Menschheit werden möchten, ohne sich um den Menschen zu kümmern, hier wird nicht um Konjunktur und Ruhm geschrieben, hier ist jeder hundearm und ohne bürgerliche Karriere, hier schweigt man, mitten im Krawall Paris – hier glimmt der alleinige Funke späterer Freiheit, wenn ihn die Asche der Gegenwart nicht ganz erstickt.

    Warum verweile ich bei diesen verwesenden Steinen? Unter zerfallenden Torbögen, die der Flügelschlag der Fledermäuse gefährdet, und die längst zerbröckelt waren ohne den stützenden Efeuarm, der fest noch die Blöcke umklammert. Warum stehe ich stundenlang vor den Mauern eines abgerissenen Hauses am Quai – in dem übrigens Napoleon als junger Leutnant sein Zimmerchen gehabt hat – es blieben blumige Tapeten übrig. Die verrauchte Stelle des Herdes, die gemalte Rampe der Treppe und, nicht zu vergessen, etwas von den Seelen, die hier gehaust: viel Geduld der Frauen, viel Zwiespalt der Männer. Ich liebe was da hinstirbt: und ich ahne warum: weil so zu sterben, nach erfülltem Dasein, befreiend und tröstend ist: zu sterben mit den Dingen, die schon nicht mehr Materie und schon Geschichte und Vergessen sind. Und auch, weil es gut ist, nicht allein zu sterben und die Gesellschaft so schweigsamer Geister wohltut. Nach uns kommt hier eine andere Geschwindigkeit, ein anderes Weltgefühl, andere Spannungen, andere Götter. Nach uns: wie gut, wie gut. Ein Schicksal hat sich erfüllt. Mögen die anderen von neuem anfangen. Ein Weltabschnitt fängt immer mit einer Sklaverei an, und hört mit der Freiheit auf: die* Sklaverei hat aber siebenmal länger gewährt als die Freiheit. Und diese ist ja für die Menschen viel schwerer zu ertragen! Wie unglücklich werden sie sein, wenn der Tag nur noch drei Arbeitsstunden hat! *[von „die Sklaverei bis „hat! gestrichen].

    Ist dies das wahre Leben, dies Hasten, Laufen, Jammern der Boulevards: der wie ein grauer Strom zur Zeit der Überschwemmungen alles Menschliche hinunterspült, Häuserbalken, Kinderwiegen, Tierleichen, hinunterspült zum Ozean des Vergessens?

    O könnt ich noch einmal mich anklammern am Ast einer kleinen Seitenstrasse, die die rauschende Zeit nicht berührt.

    Hier, hier leben die Menschen noch langsam.

    In alten Steinen leben die einfachen Menschen langsam. Sie leben ein menschliches Dasein, mit kleinen Dingen beschäftigt: Langsam lebt die Wirtin des kleinen Cafés: an der Kasse sitzt sie, giesst ein Glas Weisswein ein, schält ihre Spargeln für den Abend, ein roter Kater sieht ihr zu. Langsam gehen zwei Frauen über die Strasse, eine Mutter und ihre verheiratete Tochter, um Windeln einzukaufen. Langsam begiesst ein Mädchen am Fenster eines zerfallenen Palais drei Begonienstöcke. Langsam klopft der Schuster Boudian mit der vernickelten Brille auf den kleinen Ambos[s], der zwischen seine Kniee geklemmt ist. Langsam zieht er die weisse Naht. Langsam beklopft er die weissen Kinderschuhe, die müden Männerschuhe, die eitlen Frauenschuhe. Seit fünfzig Jahren soll er da sitzen. Seine Werkstatt ist ein kleines Dreieck zwischen zwei Häusermauern. Zwei Meter tief und drei Meter Hypothenuse. Gerade Platz für einen Stuhl, einen engen Tisch und rings die Planken, auf denen die traurigen, die verdrossenen, die heroischen, die hoffnungslosen Schuhe der Menschenfüsse stehen. Seit fünfzig Jahren kommt Vater Boudian um sieben Uhr früh, und schlägt die beiden Fensterläden auf. Jeden Morgen um sieben Uhr früh, werktags und sogar sonntags. Er setzt sich in sein kleines Gefängnis und klopft. Seit fünfzig Jahren ist es ihm nicht ein einziges Mal eingefallen, nicht zu kommen, und statt Schuhe zu klopfen, sich in eine Elektrische zu setzen, um in einen Vorort zu fahren, wo fremde Gärten blühen und ein steiler Heckenrosenweg zu einem Wäldchen führt. Seit fünfzig Jahren ist er freiwillig gekommen, hat sich in seinen vertikalen Sarg gesetzt und hat geklopft. Und hat nicht geklagt. Und hat sich für einen Pariser gehalten.

    O wüsste ich, wer recht hat! Der stille bedächtige Gefangene in der alten verfallenen Gasse, oder der ungeduldig, ruhlose Europäer, der glattrasierte, im dicken Ulstermantel dahinstürmende Passant des Boulevard:

    Der Bedächtige hat recht. Der Langsame.

    Sieh den heiligen Arbeiter, der die Städte baut, die grossen, ruhmreichen, wolkenfressenden Städte. Auch er ist bedächtig. Auch er ist langsam. Langsam kommt er, um 7 Uhr früh, zum Neubau. Langsam zieht er die Jacke aus. Langsam spuckt er in die beiden Handflächen. Langsam hebt er die Schippe und stösst sie in den Sand. So schippt er Sand auf Sand. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Schichtet Mauer auf Mauer. Stösst die Schippe in den Sand. Spuckt in die Hände. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Bis zum dritten Stockwerk. Bis zum siebenten Stockwerk. So baut er die Städte. Setzt die Flasche Rotwein an den Mund, wie ein siegreicher Trompeter, und schippt dann weiter. Der stumme Arbeiter. Der bedächtige. Der langsame.

    O wüsste ich, wer recht hat. Der Arbeiter, der sein ganzes Leben lang Ziegel auf Ziegel schichtet. Oder der fliegende, der ungeduldige, der ruhlose Mensch, der ich bin, und über den Städten das unmenschliche Geheimnis sucht.

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