Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020: 21. Jahrgang 2020
Von Jürgen Thaler
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Buchvorschau
Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler
Edition
BARBARA GLAUERT-HESSE
Yvan Goll.
Unveröffentlichte Gedichte
und Tagebücher
1918 – 1940
Aus dem Nachlass von
Robert Warnebold
Gedichte 1918 – 1930
Abstieg
Jung schwang ich mich empor
Im Knochengebirg
Nach Göttern zu graben:
Viele Väter vor mir
Viele Söhne nach mir
Lockt der Granit.
Zum Übermut.
Doch bald
Wirft sie’s zurück
In leuchtendes Vergessen:
Rasch mit dem Wasserfall
Reisst sie’s hinab – –
Weise vom Sturz
Reich vom Verlust
Such ich die Menschen
Die ich zurückliess:
Ruhig
Erwart ich ihre dunkle Karawane
Ihre langsame
Karawane
Am Hügel lehnend
Den Kopf im roten Klee
Und – mit den Füssen im Bach
Des Himmels Bild
Zerschlagend
*
Und wende mich um
Ein Mensch unter Menschen
Von all dem Treiben
Nur einen roten Klee
Im Knopfloch
Bergwald
O Wald, du leuchtender lächelnder Freund
Mit grünem Moosbart
Von Sonne triefend und von Harz
Mit tausend Armen umarmend,
Mit tausend Händen verschwendend:
Ich brauche deine Güte!
Gib
Du Reichgeborener,
Goldäugiger, der wie ein Patriarch
Mit kleiner Erdbeerliebe sich umgibt
Und ein Ballett von Rehen unterhält
In der Waldmeisterlichtung –
Geheimniskundiger
Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt
Und greiser Eulen Weisheit lernte:
Du gib mir das Geleit
Bis ans Gebiet der Steine –
Und der Einsamkeit
Und zuversichtlicher
Beschreit ich dann den Weg
Des Einsamen.
Fels-Grat
Steig, steig
Und wär's umsonst!
Zehnmal gekreuzigt von der Sonne Nägeln
Und immer kleiner vor den Türen des Himmels
Du hängst am Rand der Erde – –
Und fehlt dein Fuss – fällst du ins Nichts hinauf.
Ein Tänzer musst du sein
Auf Spitzen balancierend
Nackt zwischen Tod und Tod
Der Stein ist los
Der Fels ist fremd
Du Mensch: was klopfst du an den Türen des Himmels?
Stumm
Fluch
Und überwind dein Herz
Gekreuzigt von der Sonne Nagel
Noch einmal fluch
Und überwinde Gott!
Gesang des Mädchens
1.
Streichle mich, Frühwind,
Betöre mich mit deinen Amseln,
Beströme mich mit deinem Lächeln.
Da steh ich
Schmal zitternd
Ein Mandelbäumchen
Mit blassen Blättchen,
Und unter deinen heimlichen Küssen,
Mannwind,
Reift mein rosa Gefühl
Und Durchduftet das Tal.
2.
Umschwalbe mich, Frühling,
Umlerche mich, Süsswind,
Ich bin deine Wiese
Erblüht und erkleet!
Ich minze den Bach,
Ich bächle das Wäldchen,
Ich nachte und monde
Dem Liebenden zu.
3.
Der Wölkinnen rosigste
Der Rosen wolkigste
Will ich dir sein!
Ganz hin geduftet
Deinem Rauschen,
O dass du mich umdornest
Und dunkel dich entadlerst
Und mir lächelst:
Unhimmlischer Gott!
Gletscher
In der pariser Morgue
Sah ich einmal die Toten eines Tags,
In Eissärgen zur Schau gestellt:
Ich suchte einen Freund
Und fand ein Dutzend …
So stand vor mir der Gletscher
Mit seinen Totenkammern:
Hier war der Götter Grabstatt
Hier sah ich vieler Morgenröten
Altgewordene Leichen
Und früher Riesen dauernde Skelette
Und dort auf einem weissen Felde
Vom Frühlingsföhn des Schnees gelockt
Lag eine Saat von kleinen grauen Vögeln
Die trunken aus dem Tal
Mit irren Schwingen
An ihren Traum
Geglaubt
Und dafür starben
Nachthütte
Erst in der Hütte
Ward’s wieder menschenwarm:
Es duftete nach herbem Holz
Nach liebem Feuer
Nach Frauenhaar!
Nun, seinen Sieg vergeuden!
Wie nur ein Gletscher im März
Hinrieseln
Hinsinken
Hinschmelzen
Aus allen Munden tropfen
Aus allen Augen weinen
Zergehen zu Tal
Zerrinnen zu Tiefe
Essen
Schlafen
Mensch sein
An der Schulter
Die vergänglich ist
Und zittert
Schlucht
Sind die Menschen für das Aug der Sterne
Das mit Feuerblicken
Sie erprobt:
Sind die Menschen mehr als ein Gekröse
Ein schattiges Geschlecht
Im Tanz der Wälder und der Städte?
Krone der Schöpfung!
Mit eckigen Köpfen
Mit Herzfehlern
Hungersnöten ausgesetzt
Und den schlimmeren Instinkten!
Dumpfe Gruppen mit Trommeln,
Müde Massen des Schweigens
Füllen die Plätze
Füllen die Häuser
Und arbeiten
Und arbeiten
Und arbeiten
Und wenn sie nicht arbeiten
Klagen sie
Klagen das Aug der Sterne an
Das sie ansieht
Und verlangen dass es ihnen helfe,
Und wissen nicht
Wozu es ihnen helfen soll
Wald
O Wald, mein bärtiger, reichgeborener Freund
Der funkelnd von Goldsmaragd
Mit tausend Armen und tausend Händen
Sein Alles ausstreut
Und immer freundlich ist.
Du Vie[l]gewaltiger
Der sich mit Kleinstem abgibt
Die Erdbeeren zu liebenden Herzen erzieht
Aus jedem Reh eine Tänzerin macht
In der waldmeisterduftenden Lichtung
Geheimniskundiger auch
Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt
Jedoch am glücklichsten
Wenn ein dummes Rotkehlchen
Die Tonleitern übt
Dass du mein Freund bist
Und mich den ersten Weg begleitest
Bis ans Gebiet der steinernen Einsamkeit
Wie zuversichtlich
Schreit ich aus!
Wald (2)
Du wirfst deinen nächtigen Mantel um mich
Legst Moos um meine Füsse
Legst Moos um meinen Mund
Und hältst den Schlag meines Herzens an!
Und doch gibst du mir keine Ruh:
Du Tausendäugiger!
Unheimlich ist mir deine Freundschaft!
Unheimlich deine väterliche Art:
Denn spielst du nicht mit der Angst der Rehe?
Verschweigst du nicht, du Tausendstimmiger,
Ein schreckliches Geheimnis
Mit deiner Eulen flügellosem Flug?
Geschehn nicht Morde
Am Mittaghang
Der rot von Erdbeeren brennt?
Was will die Wurzel,
Die nach mir rennt?
Ich fürchte mich vor deinem goldenen Lächeln
Vor deiner tiefen Tiere
Gottlosen Augen.
Gedichte 1930 – 1937
Ans Kreuz des Südens
Hast du mich angeschlagen
Nun leucht ich weiss – doch tot – diese
deine Nächte
*
* *
*
Plötzlich erschrak mein Körper
Inmitten der brennenden Rosen
Brannte er mit – ohne dich
Auteuil, 27.8.1933
Einen Tag und eine Nacht brauchte ich
Um zu begreifen
Dass Du es warst der an mein Herz klopfte
Stark war ich und gross
Wie im Gebirge
Wuchsen meine Schmerzen über die Welt hinaus
Das Linnen der Begrabenen presste meinen Leib
Die Starre der Vergessenen dörrte meine Glieder
Meine Augen waren leer wie die der Denkenden
Da traf dein Atem mich
Und ich erzitterte auf meiner Erde
Zarter als der Krokus auf den Gräbern im Frühlingswind
Leise rührtest du mich an
Setztest sanft mir neue Augen ein
Meine Brüste wurden spitz von der Berührung des Engels.
Schwach bin ich nun
Erschrocken und stumm
Starr ich mit deiner Sehkraft
Ins Antlitz der Verheissung
Zögere nicht länger
Du der über mich schwebt
Spüre mein tödliches Zittern
Stoss herab o mein Gott
Komm!
Hochsommerlied
O dein Mohnblut
Im Gewoge des Hafers
Blaue Krone des Korns
Die zum König mich kürt
O du silberner Rittersporn
Der die Lenden mir schürt
Blühende Dornenhecke
Dach meines Schlafes
Dein Sommersonnengesicht
Mir Atem mir Speise mir Licht
Iwan
21. Juni 1938
Hügelwiese
Nur einmal noch –
Bevor der Berg beginnt –
Den Kopf an deine traumduftende
Hüfte schmiegen
Das Haar mit Veilchengras vermischt
Und im Geruch der Urgeburt versunken –
Mutter! Mutter!
Die ich verschrie,
Niedere, Dienende,
Die ich verschmähte,
Die Wäsche wusch
Im Acker grub
Und nach dem Regen fragte –
Mutter, Demutsmutter, Demeter
Hier hier vor meinem Gang zu Gott
Knie ich zu deinen Knien
Und esse deinen Staub
Weib, Leib, Erde!
Ich lass fallen von mir
Jahr um Jahr
Wie der Platanenbaum seine Rinden.
Langsam von der Stirn
Löst sich das seidne Gelock
Und der Geliebten
Rötliches Lied entweht.
Immer nackter wird meine Brust
Immer einsamer mein Mund
Immer grösser wird der Himmel
Da die Augen mir
Übergehn
Klage auf Delos
O käme jetzt die Amazone
Noch den Galopp des Mustangs in den Hüften
Und blutnass die Gelenke
Von der gerade tobenden Schlacht:
Sie würde mich retten,
Nachtschattengefangene!
Aber der Wind
Findet den Weg zu mir nicht mehr,
Die rosablaue Dämmerung
Erstickt mich unter dem seidenen Zelt.
Vom Himmel hängt die Ampel
Die offenmündige Dattura
Und mischt die Düfte des Todes
In meinen Atem.
Dort brennt die rote Schlacht,
O klirrende Amazone
Und dein Geschwader aufgeschäumter Pferde
Sprengt Blitze in den Abend.
Ich sehe deine rauchende Schulter
Verwegene Heldin, fern!
Mir aber steckt das Beil des Monds im Fleisch
Und meine Mattheit ruft
Die Tiere der Trauer schon:
Die grossäugigen Sphinxe
Und den bekreuzten Totenkopf,
Indessen die Fledermäuse
Mir schon die schwarzen Gehänge weben.
Mein grosser Häuptling
Ich danke dir dass du bist!
Ein wildes Fest muss ich feiern
Toben einen neuen Tanz
Und opfern dem Schöpfer
Der uns dein starkes Herz
Erstrahlen liess:
Palu!
Du bist der erste Mensch
Der ersten Tage
Des erhabenen Jahrhunderts!
Zur Führerin geboren
Des geistigen Geschlechts
Das doppelseelisch ist!
Das 33. Jahr
Das Jahr, in dem die Dichterpropheten
Den einsamen Berg ersteigen
Um die Sonne herabzuholen
Den bangenden Menschen!
Ich stehe an seinem Fuss
Bereit deine Botschaft zu künden
Wana
Paris, 5. 1. 1933
Wind
Da plötzlich löst ein Einzelner
Vom Zuge sich:
Sprach mich wer an?
Blickte ein Weib?
Nein
Ein
Flüchtiger
Flüssiger
Wind
Fuhr in mein Haar
Umschlang meinen Hals –
Ich hob das Haupt
Sah eine Sonne
Eine goldene Wolke
Ein Dreieck von Störchen
Rudernd gen Nord-Südwärts:
Und ich ihnen nach
Ihnen nach
Zehn Welt tief unter uns
Donnert die Untergrund
Zehn Himmel über uns
Schwirrt der Schneemöwenschwarm
Planetenwärts –
Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?
Was vom Altern unsres Haars?
Wir halten uns
In Höhe unserer schmalen Augen
Nichtachtend der Welten
Über und unter
Für Paula, 2. März 1931
illustrationillustrationBericht
Bei den vorliegenden Gedichten handelt es sich um elf Gedichte von Yvan Goll (1891 – 1950) aus der Zeit von 1918 bis 1930 und um zehn Gedichte, die auf die Jahre von 1930 bis 1937 datiert werden können. Ein Gedicht, Croix de Lorraine, stammt von 1940 und wurde 1944 erstveröffentlicht. Siebzehn Gedichte sind bisher unveröffentlicht. Die bereits veröffentlichten Gedichte wurden schon im Jahr 2013 in die zweibändige Briefedition Claire Goll, Yvan Goll und Paula Ludwig, „Nur einmal noch werd ich dir untreu sein". Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966, herausgegeben von Barbara Glauert-Hesse (Göttingen: Wallstein Verlag) aufgenommen. Mit dieser Veröffentlichung sind alle bekannten und erhaltenen Gedichte Yvan Golls in seinem veröffentlichten Werk versammelt. Sie stammen aus einem von Robert Warnebold (1934 – 2018) überlieferten Konvolut, das sich im Nachlass des Darmstädter Buchhändlers befand. Robert Warnebold war mit Paula Ludwig (1900 – 1974) und ihrem Sohn Friedel Ludwig (1917 – 2007) befreundet. Beide lebten ab dem Jahr 1970 ebenfalls in Darmstadt. Diese Freundschaft ermöglichte Robert Warnebold, seine umfangreichen Textsammlungen zu Paula Ludwig und Yvan Goll durch handschriftliche Zeugnisse zu erweitern. So kamen diese Autographen vermutlich durch Schenkungen, aber auch durch Ankauf in seinen Besitz. Im Zuge der Übernahme von großen Teilen der Warnebold‘schen Sammlungen zu Goll und Ludwig durch das Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek in den Jahren 2018 und 2019 kamen auch diese unveröffentlichten Texte von Yvan Goll nach Bregenz, die hier nun erstmals publiziert werden können. Ich danke dem Leiter des Archivs, Jürgen Thaler, dass er mich eingeladen hat, diese Editionsarbeit zu leisten. Meine langjährige Tätigkeit als Rundfunkredakteurin und Verlagslektorin in Mainz und Frankfurt führte mich schon nach dem Studium der Germanistik und der Amerikanistik in Mainz, Berlin und der University of Colorado in Boulder, Colorado, USA, im Jahr 1969 nach Paris zu Claire Goll. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft katalogisierte ich von 1969 an gemeinsam mit Claire Goll dort den Nachlass von Yvan Goll. Nach ihrem Tod 1977 setzte ich diese Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Yvan und Claire Goll-Archiv der Bibliothèque Municipale in Saint-Dié-des-Vosges, Frankreich, fort. Seit 1988 ediere ich die Gesamtwerke beider Dichter. Sie werden seitdem im Wallstein Verlag, Göttingen, veröffentlicht. Die Datierungen der noch unveröffentlichten Gedichte stammen – soweit sie nicht bereits bekannt waren – von der Herausgeberin. Zur Datierung herangezogen wurde eine private Gedichtedatei, die alle veröffentlichten Gedichte Golls umfasst sowie die von Andreas Kramer und Robert Vilain erstellte Bibliographie Yvan Goll – A Bibliography of the Primary Works (Peter Lang: Oxford-Bern-Berlin-Bruxelles-New York-Wien 2006).
Anmerkungen
—Abstieg : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Entstanden um 1918.
—Bergwald : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: Die Alpenpassion. III Bergwald . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 79ff.
—Fels-Grat : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VII . Grat . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 84ff.
—Gesang des Mädchens .: 3 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Entstanden um 1918.
—Gletscher : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VI . Gletscher . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 82 – 84.
—Nachthütte : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VIII . Nachthütte . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 85ff.
—Schlucht : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Dithyramben . (Leipzig: Kurt Wolff Verlag [1918]). Darin: VII . Schlucht . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 77ff. – Über seinen Gedichtband Dithyramben schrieb Goll am 18. Mai [1931] aus Bühlerhöhe an Paula Ludwig nach Berlin: „Inzwischen kamen auch die Dithyramben : aber ich schicke sie dir nicht, denn ich stehe gar nicht mehr zu ihnen, ich mag sie nicht mehr, und es kann also auch nicht sein, dass du sie mögest. Verzeih: aber lieber schreib ich dann was Neues. Eine Alpenpassion mit dir." In: Claire Goll, Yvan Goll, Paula Ludwig, „ Nur einmal noch werd ich dir untreu sein ." Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen: Wallstein 2013, S.91.
—Wald : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Die Handschrift wurde – vermutlich von Goll – durchgestrichen. Wir haben sie trotzdem hier aufgenommen. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Der Torso. Stanzen und Dithyramben. München: Roland Verlag, Dr. Albert Mundt 1918. Darin: Stanzen . Wald. I, II, III . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 122ff.
—Wald (2): 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Text abweichende Fassung in: Iwan Goll, Der Torso. Stanzen und Dithyramben. München: Roland Verlag, Dr. Albert Mundt, 1918. Darin: Stanzen . Wald. I, II, III . Nachdruck in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. I. Frühe Gedichte 1906 – 1930, S. 122ff.
—Ans Kreuz des Südens und Plötzlich erschrak mein Körper : 1 Bl., Hs. Datierung hs. von Yvan Goll: Auteuil 27.8.33. Zwischen den beiden Gedichten hs. von Goll: Vier gezeichnete Sterne. Veröffentlicht in: Iwan Goll, Paula Ludwig, Ich sterbe mein Leben . Briefe 1931 – 1940. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Goll. Frankfurt am Main-Berlin: Limes Verlag im Ullstein Verlag 1993, S. 201. Und in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 192.
—Einen Tag und eine Nacht brauchte ich : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935. Charakteristisch dafür ist, dass Goll in der ersten und letzten Strophe des Gedichts von seinem Gegenüber als „der spricht („Daß Du es warst der an mein Herz klopfte
und „Du der über mich schwebt"): Goll nannte Paula Ludwig oft mit männlichen Namen. Die deutschen Originalfassungen der Chansons Malaises , Malaiische Lieder, entstanden in den Jahren 1932 – 1934. Bereits am 30.12.1932 erschienen neun Gedichte in der Vossischen Zeitung (Berlin), Nr. 362.
—Hochsommerlied: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Auf dem Original oben links die hs. Datierung „21 Juni 38". Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935. S. dazu Yvan Golls Brief an Paula Ludwig vom 17. Juni 1937 in: Iwan Goll, Paula Ludwig, Ich sterbe mein Leben . Briefe 1931 – 1940. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Goll. Frankfurt am Main-Berlin: Limes Verlag im Ullstein Verlag 1993, S. 473 – 475.
—Hügelwiese: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Der Handschrift nach zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise. Paris: Editions Poésie et Cie 1935.
—Ich lass fallen von mir: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Im Original unter dem Gedichttext der Abdruck eines getrockneten Blattes. Zugehörig zu: Ivan Goll, Chansons Malaises . Chansons de Manyana jeune fille malaise . Paris: Editions Poésie et Cie 1935.
—Klage auf Delos: 1 Bl., Hs. Typoskript aus dem Nachlass von Paula Ludwig. Datierung um 1932. Veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 218. Darin: „Die offenmündige Dattura". Richtig: Datura. Datura: Engelstrompete (Pflanze), s. Ulrike und Hans-Georg Preißel, Engelstrompeten: Brugmansia und Datura. (Stuttgart: Ulmer 1997).
—Mein grosser Häuptling : 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Datiert von Goll: Paris 5.I.33 (Paula Ludwigs Geburtstag). „Wana" (bedeutet Ivan mit a, d.h. weiblichem Ende des Namens) nannte sich Goll. Zugehörig zu: Chansons Malaises . Die deutschen Originalfassungen der Chansons Malaises , Malaiische Lieder , entstanden in den Jahren 1932 – 1934. Bereits am 30.12.1932 erschienen neun Gedichte in der Vossischen Zeitung (Berlin), Nr. 362.
—Wind: 1 Bl., Hs. Unveröffentlicht. Die ersten beiden Strophen von Goll hs. durchgestrichen. Entstanden vermutlich im März 1932, s. Yvan Golls Brief an Paula Ludwig [Paris, 26.3.1932] in: Claire Goll, Yvan Goll, Paula Ludwig, „ Nur einmal noch werd ich dir untreu sein . Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen: Wallstein 2013, S. 159: „Alle Menschen blickten in den Himmel, die Wagen stoppten, der Verkehr hielt ein: da ruderten meine Störche mit grossen, wilden Flügelschlägen vorbei, so gen Südosten zu Dir.
[Originalzeichnung von Goll einer flügelschlagenden Vogelgruppe]. „Aber ich habe mir sagen lassen, dass sie auch manchmal weiter fliegen, übers Badenerland, in die Landschaften des Bodensees, also zu Dir, zu Dir."
—Zehn Welt tief unter uns: 1 Bl., Hs. Mit egh. Widmung von Goll: „Für Paula 2 März 1931". Veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. II . Liebesgedichte 1917 – 1950, S. 153. Und in: Ivan Goll, Malaiische Liebeslieder . Ebenhausen bei München Langewiesche-Brandt, 2001, S. 7. „Donnert die Untergrund: Die: Berliner Slang für die Berliner Untergrundbahn. Die zweite Hälfte des Gedichts („Was wissen wir vom Streben unsrer Kniee?
), setzte Paula Ludwig als Motto über ihren Gedichtband Dem dunklen Gott (Dresden: Wolfgang Jess, 1932). Goll äußerte sich in seinem Brief an Claire Goll vom 24.1.1932 darüber: „Was das Motto betrifft, so ist es lediglich ein Auszug aus einem Gedicht, das sich im Manuskript bei ihr [Paula Ludwig] befand und von dem ich selbst keine Ahnung mehr hatte. Es ist ein Motto, wie viele andere – und bedeutet für die Dritten, Außenstehenden, nichts anderes." (Claire Goll, Iwan Goll, Meiner Seele Töne . Das literarische Dokument eines Lebens zwischen Kunst und Liebe – aufgezeichnet in ihren Briefen. Neu herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. (Mainz-Berlin: Kupferberg/Scherz 1966/1978, S. 79).
—Croix de Lorraine. Lothringisches Kreuz: In der bereits vorhandenen Sammlung ist nur die französische Fassung erhalten. 1 Bl. Kalligraphierte Handschrift. Erstveröffentlichung der französischen Fassung in: France Forever (New York), 24.12.1940. Weiter veröffentlicht in: Yvan Goll, Die Lyrik . Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll. Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. IV . Späte Gedichte 1930 – 1950, S. 74 (französische Fassung), S. 75 (deutsche Übersetzung von Claire Goll). Erstveröffentlichung der deutschen Übersetzung in: Yvan Goll, Dichtungen . Herausgegeben von Claire Goll. Berlin-Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag 1960, S. 366. Zu ihrer deutschen Übersetzung gab Claire Goll folgende Notiz: „Die de-Gaulle-Partei ‚France for Ever‘ beauftragte Goll, ein Gedicht zu schreiben, das als Weihnachtskarte an die französische Kolonie in New York versandt wurde (1944). Goll schrieb es in Form des lothringischen Kreuzes. Auf der Originalkarte: „Poème d’Yvan Goll. Caligraphié par Thomas Naegele. Edité par Lucien Vogel. Publié par France Forever.
Der Text der Karte lautet: „Bon Noël. Victoire et Libération pour La Nouvelle Année 1944. De la part de … Auf der Rückseite der Karte gedruckt: „Greetings of the Season. Meilleurs Voeux pour 1943 for
[handschriftlich]: „Dr. & Mrs. Henry Sagan from [handschriftlich]: Claire &Yvan Goll". Dr. Henry Sagan: Arzt von Claire und Yvan Goll in New York.
Tagebuch in Paris
19. November 1919
Ich muß mir sehr klar werden, was mit mir geschieht. Oder geschah etwas mit Paris? Einen Monat gab ich meinem ersten Tag Zeit, sich zu revisieren. Und nichts hat sich verändert. Ich bleibe traurig, trostlos, [wie damals, Paris ist eine Desillusion.*] *[gestrichen]
Ergründe dich. Schmücke dich nicht mit dem elektrischen Glanz hirnloser Abende, da du tanzen möchtest vor Sehnsucht. Bete nicht den alten entfärbten Rosenkranz deiner zwanzig Jugendjahre zurück, dämme alle Sentimentalität ab, rücksichtslos gegen dein leer gewordenes Herz –
Dann bleibt folgende Betrachtung: Zwecklos, Kamerad dieser Zeit, aus dir selber herauszuwollen! Wenn du in Berlin nach mir fragst, mischt sich Goldstaub in das Wasser deines Blicks, und es wird in dir eine Ferne, ganz als ob du Kindheit sähest. Beim Namen Paris erschrickst du – und wahrlich, goldene teure Bustiers und herrlich sitzende Raglanmäntel prangen auf allen Boulevards! Ist es das? In Japan gibt es wunderschöne Vögel und trapezförmige Berggipfel, Schnee oder Chrysanthemen; in Indien tut Buddha lächelnd alles, um Nichts zu werden, und rührt den schalen Reis mit dem Stäbchen – wie schön leuchtet alles nach Berlin! Aber was kann der Europäer in Asien aus sich machen? Nicht mehr, als in Swinemünde, am großen nördlichen Wasser, unterm stillen Großen Bären, neben einer traulichen Silberweide, im besten Sinne aus ihm werden würde. Und so Paris: Irrlegende, Irrlichter. Es sei denn, man wolle in Louvre und Luxembourg hohe Schatten beschwören, die Schönheit einer Vergangen[heit*] *[Papierriss] nicht durch verzerrte Autobusfenster zerfetzen lassen [wie es*] *[Papierriss] ist noch in alten Steinen, [wie in*] *[gestrichen] alten Büchern.
ich [sic!] bewohne ein kleines Zimmer im Hotel des Grands Hommes, gegenüber dem Pantheon. Nur um den Kontakt mit der Literatur zu bewahren. Mein Zimmer ist nicht grösser als ein steinerner Sarkophag dort drüben. Aber es ist wärmer. Tulpen wachsen paarweise abwechselnd gelb und rot aus der Tapete. Wenn ich bedenke, wie kalt es so ein Genie in seinem Ruhm hat, will ich lieber als unbekannter Trödler in die lockere, wurmdurchdrungene, veilchendurchduftete Erde versenkt werden. Gestern* *[Text bricht hier ab.]
*
Warum erfüllt mich immer eine kosmische Trauer, wenn ich aus dem Schlaf in den von Sternstaub beschmutzten Himmel falle? Eine grosse unbekannte Schuld schlägt sich die Flügel wund in meinem Herzen, wie ein Ligusterfalter in einer Streichholzschachtel. Schnell spring ich auf, will es in die blaue Luft, in die Riesenwelt freilassen: da ist das Tierchen tot, mit zugeklebten Flügeln und so ergeben hingestreckten Füsschen. Ich kann schon nichts mehr für dich tun, meine Seele. Ich bleibe ein Verdammter. Wenn es nur morgen wäre und ich Zeitung lesen könnte!
*
Wozu mich in die Seine stürzen? Ich will mich in eine Frau stürzen.
*
Ich bin in diesen Tagen sehr unglücklich gewesen, weil ich einen grossen Frühling wieder habe vorbei ziehen lassen, ohne ihn ganz zu erleben. Meinen 33. Frühling. Das ist schlimm. Was habe ich in diesen 33 Jahren besseres getan als in den Nächten zuweilen die goldene Hand Gottes zwischen den Sternbildern erkannt, und an den Morgendämmerungen ein Kapitel aus dem Amselkoran mitgebetet. Die Erinnerung an solche Erlebnisse sind meine einzig bleibenden Werte.
Im Herbst und den ganzen Winter hindurch, während ich durch die dumpfen Schächte, in den nebligen Untergrundbahnen von Paris mit einer 20 Kilometer Geschwindigkeit rasselte, träumte ich nur davon, im Februar, im März, spätestens im April in einer italienischen Landschaft zu sitzen, die ganz rosa wäre von Mandelbäumen, ganz mild von Myrthen, ganz schwarz von Vögeln, ganz glücklich von Glocken, ganz gesegnet vom Papst. Ach, ein gläubiges, ein katholisches, ein grausames Land, wo Bauern die weichen Zicklein auf der Schulter die verregneten Wiesenwege entlang zum Dorf, zum Metzger tragen, wo Kinder und Greise immer von neuem den bleichen, barbarisch rot verstümmelten Leib des Christus im Glaskasten durch die Nacht tragen, wo man fastet, betet, leidet, träumt.
Da muß einer dreinfahren: Paul Colin, ein junger geschorener Löwe. Er, der von Belgien kommt, bietet sich an, nach Holland zu gehen, nach Deutschland und nach Berlin (was für ihn zweierlei ist), nach Dänemark, nach Wien. Licht blinkt östlich. Aber Schneewolken ersticken die Redaktion von „Clarté. Atmosphäre wie vor „schlagendem Wetter
: die kleinen Lampen und die großen Herzen der Bergleute von Europa zittern.
Abends
Ruhige Jünglinge rauchen ihren Knaster. Sie sprechen sehr leise. Sie haben das grüne Kriegsbändchen im Knopfloch. Fast jeder zweite von ihnen gibt oder wird eine Zeitschrift herausgeben. Welchen Inhalts? Diese Jünglinge tragen das Erbe einer fünfzigjährigen sterilen Boheme und eines fünfjährigen sterileren Kriegs an sich. Und ein Geist schlägt aus ihnen, der ist aus Tabaksqualm und Opferrauch gemischt. Gute Menschen! Glückliche Woller. Aber Individualisten, Kämpfer für das Ideal, nicht für sich selbst. Diese Kameraden, auf die man vertraut, sind nicht Sozialisten, und doch akuteren Sinnes als Marcel Cachin. Sie sind keine „Revolutionäre", (das Wort kommt ihnen nie auf die Lippe) und unbeugsamere, unabhängigere Individuen als der Sanskulott.
Hier, in der Redaktion eines Zwanzigjährigen, der whitmansche und menschenzärtliche Hymnen von acht Schulfreunden drucken zu müssen glaubt (wer liest sie?), hier wird die Zukunft Frankreichs vorbereitet, (wenn es eine Zukunft hat!), denn derselbe Mann mischt sich in keine öffentliche Versammlung, er nimmt nicht teil an „Clarté, wo seiner Meinung nach nur 6 „Pontifen
sind, die alle 6 Päpste der Menschheit werden möchten, ohne sich um den Menschen zu kümmern, hier wird nicht um Konjunktur und Ruhm geschrieben, hier ist jeder hundearm und ohne bürgerliche Karriere, hier schweigt man, mitten im Krawall Paris – hier glimmt der alleinige Funke späterer Freiheit, wenn ihn die Asche der Gegenwart nicht ganz erstickt.
Warum verweile ich bei diesen verwesenden Steinen? Unter zerfallenden Torbögen, die der Flügelschlag der Fledermäuse gefährdet, und die längst zerbröckelt waren ohne den stützenden Efeuarm, der fest noch die Blöcke umklammert. Warum stehe ich stundenlang vor den Mauern eines abgerissenen Hauses am Quai – in dem übrigens Napoleon als junger Leutnant sein Zimmerchen gehabt hat – es blieben blumige Tapeten übrig. Die verrauchte Stelle des Herdes, die gemalte Rampe der Treppe und, nicht zu vergessen, etwas von den Seelen, die hier gehaust: viel Geduld der Frauen, viel Zwiespalt der Männer. Ich liebe was da hinstirbt: und ich ahne warum: weil so zu sterben, nach erfülltem Dasein, befreiend und tröstend ist: zu sterben mit den Dingen, die schon nicht mehr Materie und schon Geschichte und Vergessen sind. Und auch, weil es gut ist, nicht allein zu sterben und die Gesellschaft so schweigsamer Geister wohltut. Nach uns kommt hier eine andere Geschwindigkeit, ein anderes Weltgefühl, andere Spannungen, andere Götter. Nach uns: wie gut, wie gut. Ein Schicksal hat sich erfüllt. Mögen die anderen von neuem anfangen. Ein Weltabschnitt fängt immer mit einer Sklaverei an, und hört mit der Freiheit auf: die* Sklaverei hat aber siebenmal länger gewährt als die Freiheit. Und diese ist ja für die Menschen viel schwerer zu ertragen! Wie unglücklich werden sie sein, wenn der Tag nur noch drei Arbeitsstunden hat! *[von „die Sklaverei bis „hat!
gestrichen].
Ist dies das wahre Leben, dies Hasten, Laufen, Jammern der Boulevards: der wie ein grauer Strom zur Zeit der Überschwemmungen alles Menschliche hinunterspült, Häuserbalken, Kinderwiegen, Tierleichen, hinunterspült zum Ozean des Vergessens?
O könnt ich noch einmal mich anklammern am Ast einer kleinen Seitenstrasse, die die rauschende Zeit nicht berührt.
Hier, hier leben die Menschen noch langsam.
In alten Steinen leben die einfachen Menschen langsam. Sie leben ein menschliches Dasein, mit kleinen Dingen beschäftigt: Langsam lebt die Wirtin des kleinen Cafés: an der Kasse sitzt sie, giesst ein Glas Weisswein ein, schält ihre Spargeln für den Abend, ein roter Kater sieht ihr zu. Langsam gehen zwei Frauen über die Strasse, eine Mutter und ihre verheiratete Tochter, um Windeln einzukaufen. Langsam begiesst ein Mädchen am Fenster eines zerfallenen Palais drei Begonienstöcke. Langsam klopft der Schuster Boudian mit der vernickelten Brille auf den kleinen Ambos[s], der zwischen seine Kniee geklemmt ist. Langsam zieht er die weisse Naht. Langsam beklopft er die weissen Kinderschuhe, die müden Männerschuhe, die eitlen Frauenschuhe. Seit fünfzig Jahren soll er da sitzen. Seine Werkstatt ist ein kleines Dreieck zwischen zwei Häusermauern. Zwei Meter tief und drei Meter Hypothenuse. Gerade Platz für einen Stuhl, einen engen Tisch und rings die Planken, auf denen die traurigen, die verdrossenen, die heroischen, die hoffnungslosen Schuhe der Menschenfüsse stehen. Seit fünfzig Jahren kommt Vater Boudian um sieben Uhr früh, und schlägt die beiden Fensterläden auf. Jeden Morgen um sieben Uhr früh, werktags und sogar sonntags. Er setzt sich in sein kleines Gefängnis und klopft. Seit fünfzig Jahren ist es ihm nicht ein einziges Mal eingefallen, nicht zu kommen, und statt Schuhe zu klopfen, sich in eine Elektrische zu setzen, um in einen Vorort zu fahren, wo fremde Gärten blühen und ein steiler Heckenrosenweg zu einem Wäldchen führt. Seit fünfzig Jahren ist er freiwillig gekommen, hat sich in seinen vertikalen Sarg gesetzt und hat geklopft. Und hat nicht geklagt. Und hat sich für einen Pariser gehalten.
O wüsste ich, wer recht hat! Der stille bedächtige Gefangene in der alten verfallenen Gasse, oder der ungeduldig, ruhlose Europäer, der glattrasierte, im dicken Ulstermantel dahinstürmende Passant des Boulevard:
Der Bedächtige hat recht. Der Langsame.
Sieh den heiligen Arbeiter, der die Städte baut, die grossen, ruhmreichen, wolkenfressenden Städte. Auch er ist bedächtig. Auch er ist langsam. Langsam kommt er, um 7 Uhr früh, zum Neubau. Langsam zieht er die Jacke aus. Langsam spuckt er in die beiden Handflächen. Langsam hebt er die Schippe und stösst sie in den Sand. So schippt er Sand auf Sand. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Schichtet Mauer auf Mauer. Stösst die Schippe in den Sand. Spuckt in die Hände. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Bis zum dritten Stockwerk. Bis zum siebenten Stockwerk. So baut er die Städte. Setzt die Flasche Rotwein an den Mund, wie ein siegreicher Trompeter, und schippt dann weiter. Der stumme Arbeiter. Der bedächtige. Der langsame.
O wüsste ich, wer recht hat. Der Arbeiter, der sein ganzes Leben lang Ziegel auf Ziegel schichtet. Oder der fliegende, der ungeduldige, der ruhlose Mensch, der ich bin, und über den Städten das unmenschliche Geheimnis sucht.
Wie hilft