Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2022: Rudolf Wacker - Anton Reichel Briefe 1924 - 1936
Von Jürgen Thaler
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Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2022 - Jürgen Thaler
Rudolf Wacker – Anton Reichel
Briefe 1924 – 1936
Bregenz, den 8. September 1924
Verehrter Herr Regierungsrat!
Haben Sie nochmals herzlich Dank für Ihre Karte aus Kärnten, die ich vorläufig durch eine von hier erwidert hatte. Ich war sehr beschämt, zuerst etwas von Ihnen zu erhalten – wo ich doch schon in den ersten Tagen vor hatte, Ihnen diesen Brief zu schreiben.
— Nun ist’s so lange her, seit ich bei Ihnen in der Albertina war, daß ich nicht mehr weiß, wo das Bild, das Sie damals aus unserer Unterhaltung gewonnen haben mögen, am ehesten der Vervollständigung bedarf. Wahrscheinlich haben Sie für den im „Kunstblatt" geplanten Aufsatz schon genügend persönliche Daten, da Sie diese wohl ohnedies nur kurz halten werden um mehr über die Zeichnungen selber, über ihr Ihnen sich enthüllendes Wesen, zu schreiben. —
Das Wichtigste, unser ganzes Sein u. Werden Bestimmende ist am Ende die Mischung die wir von unsern Eltern her empfangen, was wir dazutun ist das Geringste. Das Eingeborene auszuleben bleibt die Hauptrolle, uns zu sensibeln Werkzeugen zu machen, es möglichst deutlich und unmittelbar auszudrücken, ist die Aufgabe. Wie, die Form, ist gleichgültig oder gleichwertig. Ob ich zeichne oder mit Freunden bin, Soldat bin oder eine Frau liebe, im Feld arbeite oder nur dasitze und sinne, das scheint mir gleich, – sofern alles wirklich von einem Centrum aus erlebt wird, von dem uns alles nur eine Form und ein Gleichnis ist. Eben dies, daß alle Arbeit nur ein Mittel ist, dies Gleichnishafte aller Dinge, aller Liebe, Freundschaft, aller Farben, Linien, Formen .... ist das Wertvolle daran, dies Dahinterliegende, Höhermeinende, Symbolische. —
— Ich sende Ihnen hier, Ihrem Wunsche Schülerarbeiten von mir zu sehen nachkommend, einige kleine alte Photographieen nach Zeichnungen von 1913 u. 1914. Sie sind rückseitig bezeichnet. Das „Porträt Frl. W. v. C. war die erste der damals (1913) einsetzenden „intimen Bleistiftzeichnungen
. Von der Egger-Lienz-Schule ist in diesen Zeichnungen kaum etwas zu merken, eher ist gerade gegen diese eine Reaktion darinn, – trotz aller Dankbarkeit die ich zeitlebens diesem vorzüglichen Lehrer bewahre. – Es kam mir damals auf psychologische Differenzierung und subtile Oberflächendar-stellung an. Die Mittel sollten rein zeichnerisch sein, als das Wesen der Zeichnung wurde die Linie begriffen, die zarten Valeurs dienten der Formverdeutlichung (Nicht das „Malerische" der Valeurs war ein Anreiz, nicht durch die Valeurs hindurch sah ich die Form, sondern umgekehrt empfand ich die Form primär wie ein Bildhauer, die Valeurs hatten nur den Sinn, zu modellieren). – Mein Gefühl für die Arabeske, für das Bewegte, Rhythmische, Musikalische der Linie scheint sich mir in diesen frühen Zeichgn. anzukünden, am stärksten in der letzten, dem Bildnis meiner Schwester (die letzte vor dem Krieg, im Juli 1914). In dieser Zeichnung, die ich heute noch schätze, scheint mir überhaupt mein eigener Weg bereits betreten. – Wie schülerhaft u. unfrei all diese Blätter auch sind, freue ich mich ihrer – der Einstellung wie dem Handwerk nach – soliden Gesinnung. Ich denke manchmal fast wehmütig an die glückliche Zeit von damals, in der ich mit soviel Disziplin und ruhiger Konzentration arbeiten konnte. – Zuweilen meine ich, wir müßten wieder zu der Besonnenheit zurückfinden, die die alten Meister sich in allem Wirbel ihres Erlebens bei der Gestaltung bewahrten. Aber unsere Zeit ist so aufgewühlt, so anders im Tempo, das Leben ist so schwer geworden, vor allem wohl ist die handwerkliche Tradition verschüttet. —
Ich möchte nochmals von meiner Gefangenschaft sprechen, weil ihr sicher in m. Leben eine große Bedeutung zukommt. Zwar glaube ich nicht an eine „Veränderung der Menschen durch Umstände, sehe überhaupt nirgends im „Milieu
einen wesentlichen factor, sondern denke mir das Wesentliche immer im agens selber. So meine ich, daß dort mit mir auch nichts Besonderes geschehen ist, sondern daß vielleicht nur meine innere Entwicklung beschleunigt worden ist. —
Abgeschnitten vom Leben, seiner warmen Nähe, abgesperrt von allem Lebensgenuß, – der animalisch, ohne Bewußtsein war – , mußte Reflexion einsetzen und die Fragen nach dem Woher – wohin – wozu stellen. „Die Seele erwachte, baute das Lebensbild von Neuem innerlich auf, gab ihm neue, tieferliegende Bedeutung. Im Erleben selber kam in diesen Jahren, die früher nur von fern geahnte – Dunkelheit hinzu, oh, soviel Not u. Elend aller Gattung, mit ihrem ganzen schweren Gewicht! So in mich eingeschunden, daß ich für immer Düsterem verbunden bleibe. – Ich negierte damals alles Materiell-wirkliche, allein der Subjektiv-seelischen Einstellung Wert belassend. Ich hatte die Probe gemacht: aus unbedingter Bejahung des gesamten Lebenswillens kam ich zu glücklicher Überwindung auch allen Leides. In alles Leid noch wühlte ich mich wollüstig ein, weil die Idee war, daß je tiefer der Schmerz, desto höher der aus ihm aufklingende Jubel sein müsse. – Aus solcher Verfassung mußte sich ja konsequent auch für die Kunst die Forderung ergeben, daß in ihr die Formung „der Seele
, des „Ausdrucks, des „Von – innen – nach – außen – lebenden
, das einzig Wichtige sei. Um das, – das Metaphysische – zu steigern, dem Beschauer suggestiv aufzuzwingen, eine natürliche, notwendige Vernachlässigung, ja Unterdrückung der „physischen Seite, Oberfläche der Dinge. – All das etwa, was der „Deutsche Expressionismus
(Heckel, Nolde, Kirchner, Sch. Rottluff, Kokoschka, Marc – ihre Ahnen v. Gogh, Munch) wollte. – Jedenfalls habe ich nach meiner Rückkehr (Winter Berlin 1921) in ihm die in der sibirischen Einsamkeit für mich gewonnenen Erkenntnisse u. entdeckten Ziele bestätigt u. realisiert gefunden. Und das ist eines jener Exempel, das den Ungläubigen (zumal in Wien gibt es viele Leute, die das alles noch für „Berliner Schwindel halten) zur Bedenklichkeit anregen könnte. – Im Prinzip stimmte alles überein. Es war für mich eine große Freude zu sehen, daß ich nicht in Sibirien mich verrannt hatte, und für andere zu hören, daß ich – von fern her kommend, alles neu u. zum erstenmal sehend, sogleich ihre Sprache verstehen konnte. – In der Folge empfing ich natürlich viel Anregung (im Formalen) und es scheint mir, daß wir bald in ein neues Stadium der Entwicklung kommen können, das mit dem jetzt als „Expressionismus
abschließend bezeichneten wenig mehr zu [tun] haben wird. —
Beim Herrn Generalbankdirektor K. hatte ich keinen Erfolg. Ich war gleich hingegangen um m. Mappe dort einzustellen u. andern Tags wiederzukommen bis die Empfehlung Herrn Direktor Stixs wirksam geworden wäre. Seine Mutter aber erklärte mir, daß bei den Zeiten, die so schlecht wären wie noch nie (!) es ganz ausgeschlossen wäre, daß Herr K. etwas kaufen könne u. schenkte mir ein Almosen von 10.000 K (!) – das anzunehmen sicher mehr Überwindung kostete als es abzuschlagen. – Zum Glück kam am selben Abend mein Bruder, den wir für einige Tage nach Budapest begleiteten u. der uns dann hierherbrachte. – In Budapest interessierte mich vor allem das ethnograph. Museum mit seiner reichen Sammlung ungarischer u. verwandter Volkskunst u. schönen überseeischen Proben, im kunsthistor. Mus. die Grecos, Goyas, frühe Italiener, frühe Spanier.
— Hier habe ich seither fast ausschließlich gemalt.
Von allen übeln Sorgen schließe ich mich ab, – ich bin des Unfugs müde u. will nur ans Arbeiten denken. Pläne habe ich noch keine, hoffe aber, wenn in m. Lindauer Ausstellung noch einige Blätter verkauft werden, das Geld zu haben etwa Ende Oktober wieder nach Wien zu kommen, wenn ich mich nicht doch lieber für Berlin entschließe.
Bitte grüßen Sie Herrn Regierungsrat Weixlgärtner, er hat noch Lithos, die vermutlich für „die graph. Künste" abgelehnt wurden. – Meine Frau läßt Sie schön grüßen.
Herzlichst Ihr ergebener
Rudolf Wacker
P. S.
Werden Sie die Klischees für die Reproduktionen in Wien anfertigen lassen, oder die Originale an Westheim einsenden?
Wenn letzteres, wäre es wünschenswert, daß er sie nicht zu klein reproduzieren läßt.
Unter der großen (blattgroß) Reproduktion (wie zB. meine alte Zeichnung im Oktober 1922-heft) sind die im Format zB. 10 × 14 oder 13 × 17 sehr gut (wie die meine u. Herbig’s im Juli 23 Heft) hingegen aber sehr schlecht
so kleine wie die im „Neuen-Wien" heft April 24.
~
ÜBERLIEFERUNG: Brief, 3 Blatt, 5 Seiten beschrieben, handschriftlich, mit eigenhändiger Unterschrift.
~
Karte aus Kärnten: nicht erhalten.
erwidert hatte: nicht erhalten.
Albertina: Anton Reichel war seit 1908 in der Graphischen Sammlung Albertina beschäftigt. Er begann als Praktikant, wurde 1913 Kustosadjunkt, 1918 Kustos, 1934 Direktor-Stellvertreter, 1938 kommissarischer, 1942 definitiver Direktor der Albertina.
„Kunstblatt": Das „Kunstblatt" erschien von 1917 bis 1933. Es wurde von Paul Westheim zunächst bei Gustav Kiepenheuer in Weimar, ab 1918 in Potsdam, herausgegeben und war bis zu seiner Einstellung 1933 eine der führenden Zeitschriften zur zeitgenössischen Kunst in Deutschland.
kleine alte Photographieen nach Zeichnungen: siehe Abb. 1 bis 5.
„Porträt Frl. W. v. C.": Wacker porträtierte hier Waltraut v. Conta (Lebensdaten nicht ermittelbar), seine Freundin aus Weimarer Tagen, zu der er sein Leben lang Kontakt hielt. Das Original der Zeichnung gilt heute als verschollen, siehe Abb. 1. Die Fotografie hatte Wacker auch im Krieg bei sich und in der Gefangenschaft.
Egger-Lienz-Schule: Rudolf Wacker ging im November 1911 nach Weimar an die Großherzogliche Sächsische Hochschule für bildende Kunst, dort wurde er zunächst von Fritz Mackensen und Gari Melchers betreut, um ab April 1912 von Albin Egger-Lienz unterrichtet zu werden. Egger-Lienz verließ Weimar aber schon ein Jahr später. Walther Klemm übernahm dessen Klasse.
Generalbankdirektor K.: Gemeint ist Wilhelm König (1880 – 1955), er war Generaldirektor der Neuen Wiener Bankgesellschaft und ein bekannter Wiener Kunstsammler. Rudolf Wacker berichtet später, dass König zwei Blätter von ihm gekauft habe. König musste seine Sammlung aber ab Mitte der 1920er-Jahre sukzessive verkaufen, über den Verbleib der Wacker-Blätter ist derzeit nichts bekannt. Wilhelm König und seine Frau emigrierten 1938 und kamen im September 1949 nach Wien zurück.
10.000 K: 10.000 Kronen des Jahres 1924 entsprechen heute circa 5 Euro.
Direktor Stixs: Alfred Stix (1882 – 1957) war von 1923 bis 1933 Direktor der Albertina, von 1933 bis 1938 leitete er die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums. Er war auch als Berater für Wilhelm König tätig.
Bruder: Wackers Tagebuch ist zu entnehmen, dass er zusammen mit seiner Frau Ilse und mit seinem Bruder Franz vom 3. bis zum 6. Juli in Budapest war.
Lindauer Ausstellung: Wacker zeigte im August und September 30 Zeichnungen im Lindauer Kunsthaus Eckerlein.
Regierungsrat Weixlgärtner: Arpád Weixlgärtner (1872 – 1961), Kunsthistoriker, er arbeitete in den 1920er-Jahren als Kustos der Schatzkammer im Kunsthistorischen Museum in Wien.
Lithos: Es lässt sich nicht ermitteln, welche Lithos Wacker für die Zeitschrift angeboten hatte.
„die graph. Künste": Gemeint ist die Zeitschrift „Die graphischen Künste", die von 1879 bis 1933 in Wien erschien. Zu ihren Herausgebern zählte auch Arpád Weixlgärtner. In der Zeitschrift sind keine Arbeiten von Wacker nachweisbar.
Westheim: Paul Westheim (1886 – 1963). Er gab von 1917 bis 1933 „Das Kunstblatt" heraus.
Oktober 1922-heft: Auf der Seite 450 des Oktober-Heftes des „Kunstblattes des Jahres 1922 befindet sich ein Selbstporträt Rudolf Wackers, das den Titel „Kopf
trägt. Entstanden ist es im März 1921.
Herbig’s: Im Juli Heft des Jahres 1923 veröffentlichte Paul Westheim den Artikel „Atelierstreife II (S. 202 – 212), in dem er auch über Otto Herbig und Rudolf Wacker schreibt. Illustriert wurden seine Ausführungen mit zwei Zeichnungen von Herbig und zwei von Wacker (eine Zeichnung „ohne Titel
, die eine Frau in Nachtwäsche zeigt, und die Kohlezeichnung „Mädchen am Tisch").
„Neuen-Wien" heft April 24: In dieser Ausgabe erschien Wackers Text „Über Wien (S. 124 – 125). Er wurde illustriert mit der Kohlezeichnung „Mädchen im Mondschein
(S. 125). Der Text ist wiederveröffentlicht in Wacker-Haller, S. 97 – 99.
ABB. 1: Porträt Fräulein W. v. C., 1913.
IllustrationABB. 2: Unvollendete Zeichnung nach meiner
Mutter (Bleistift), 1913.
IllustrationABB. 3: Handstudie (Rötel), 1913.
IllustrationABB. 4: Porträt (Bleistift), 1914.
IllustrationABB. 5: Zeichnung nach meiner Schwester
(lebensgroß), 1914.
Bregenz, 30. Oktober 1924
Verehrter Herr Regierungsrat!
Ich hoffe nächstens etwas Geld zu haben und war schon entschlossen mit diesem nach Wien zu kommen. – Nachdem ich alle Gründe, die zwischen Wien u. Berlin für mich in Frage kommen, erwogen hatte, stellte ich fest, daß mein Herz mich jedesfalls – und vielen Gründen zum Trotz – nach Wien zieht. – Ich liebe
Wien, wie sehr ich auch immer mal wieder drüber schimpfen mag – so wie jeder Oesterreicher! Liebe seine trostreiche Architektur, liebe seine mehr sinnliche Athmosphäre, seine Tradition, seine Gemütlichkeit,
liebe die wärmeren, sich leichter auslebenden und formigeren Menschen. Auch denke ich, daß Wien als Kunststadt, – ich meine in Bezug auf die junge – an Umfang u. Bedeutung gewinnen kann. Natürlich