Marginalien
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Buchvorschau
Marginalien - Gerhart Hauptmann
Marginalien
»Lieder eines Sünders« von Hermann Conradi
Gedanken über das Bemalen der Statuen
Tagebuchblätter
Einiges über Kunst
Das Mediceergrab
Über ein Volksbuch
Henry Irving
Geleitwort für die erste Gesamtausgabe
Weihnachten
Tolstoi
Richard Wagner
Strindberg
Das Problem des Dramatischen
Duldsamkeit
Hermann Stehr zum fünfzigsten Geburtstag
Der Bogen des Odysseus
Deutschland und Shakespeare
I
II
III
IV
V
Humor
Oskar Sauer
Shakespeare-Visionen
Gottfried Keller
Geleitwort
Arthur Nikisch zum Gedächtnis
Gruß an Hermann Stehr zum sechzigsten Geburtstag
Geleitwort
Das heilige Leid
Käthe Kollwitz zum sechzigsten Geburtstag
Agnes Sorma
Hamlet
Impressum
»Lieder eines Sünders« von Hermann Conradi
Über eine Originalität ist nicht zu rechten: sie mag uns sympathisch oder antipathisch sein, gleichviel, sie muß hingenommen werden, wenn anders man sich nicht etwa mit dem Versuche trägt, die Lebensadern eines Dichters zu unterbinden. Die vorliegenden Lieder werden wohl schwerlich eine große Gemeinde finden, denn sie mitzufühlen, beziehungsweise zu verstehen, wird nur dem kleinen Teil solcher Menschen möglich sein, welche mit dem Dichter den heißen Drang nach Licht und Wahrheit teilen. Diese aber werden gewiß, zumal da der Inhalt der Sünder-Lieder eine fortlaufende Entwicklung darstellt, welche durch die Titel ihrer einzelnen Abschnitte genügend charakterisiert wird – Inferno, Im Strudel, Liebe und Staubverwandtes, Revolution, Emporstieg, Zwischenstille, Gipfelgesänge, Triumphgesang der Lebendigen –, Erhebung, Stärkung und Begeisterung zu neuem Ringen daraus schöpfen. Es kann nicht meine Absicht sein, auch nur annähernd eine Kritik vorliegenden Buches im Rahmen einer kurzen Besprechung geben zu wollen; deshalb muß ich mich begnügen, die triviale Tatsache festzustellen, daß auch hier, wie überall, sich Gutes und Schlechtes vereint vorfindet. Das Gute allerdings ist außergewöhnlich gut, das Schlechte außergewöhnlich schlecht. Letzteres aber hat seinen Ursprung nicht in der Unfähigkeit des Dichters, sondern vielmehr in einer gewissen Überkraft desselben, einer wüsten Zügellosigkeit seiner Phantasie, die sich mitunter in Roheiten verliert, deren oft nicht einmal witzige Brutalität eine künstlerische Wirkung nicht aufkommen läßt. In der Vorrede seines Buches nennt Conradi dasselbe ein gutes, markiges, saftgeschwollenes Stück Seelenlebens, und so wenig sympathisch mich dieses »saftgeschwollen« auch berührt, so ist es doch ein Beiwort, welches sich mit dem Inhalt des Buches deckt. Verhält es sich aber so, und spiegelt das Buch dabei eine weit über das Gewöhnliche hinausgehende leidenschaftdurchglühte Seele, so ist sein Verfasser ein wirklicher Dichter. Demnach fasse ich Hermann Conradi als einen Dichter auf, der mit diesen seinen Sünder-Liedern dem Sturm und Drang seinen Tribut bezahlt hat und dessen Weiterentwicklung man mit Interesse entgegensehen muß.
1887.
Gedanken über das Bemalen der Statuen
Die Ausstellung bemalter Statuen, welche vor zwei Jahren in Berlin stattfand, regte in mir damals die folgenden Gedanken über die Chromoplastik an. Ich glaube, daß dieselben von allgemeinerer Bedeutung sein dürften, und stelle sie deshalb heute noch zur Besprechung.
Meiner festen Überzeugung nach ist das Bemalen der Statuen dem Wesen der Kunst, insonderheit dem der Bildhauerkunst, zuwider. Diese Behauptung will ich in dem Folgenden beweisen.
Der Zweck aller Kunst ist nicht die absolute Nachahmung der Natur, weil diese letztere eine Unmöglichkeit ist. Wäre sie möglich, so fiele sie mit der Natur zusammen, und die Kunst wäre ausgeschaltet. Denn es leuchtet ein, daß, wenn wir einen Menschen mit all seinen Eigenschaften auf technischem Wege herstellen könnten, dieser kein Kunstwerk sein könnte, sondern eben ein Mensch. Dies wäre also nicht ein Triumph der Kunst, sondern der Kunstfertigkeit, der aber auch ihr natürlich versagt ist. Die Kunstfertigkeit ist nun freilich ein integrierender Bestandteil der Kunst. Da sie jedoch die Natur nie erreicht, so muß sie ewig eine Täuschung bleiben.
Zweck der Kunst ist vielmehr der Ausdruck der innersten, zum Typus erhobenen Wesenheit des dargestellten Gegenstandes.
So ist das Produkt der Kunstfertigkeit in einem Kunstwerk seine Naturähnlichkeit, das Produkt der Kunst, das Künstlerische dagegen das durch seine Naturähnlichkeit zum Ausdruck gebrachte innere, typische Leben. Das Produkt der Kunstfertigkeit ist also die Täuschung, das Produkt der Kunst die Wahrheit. Im Kunstfertigen wird die äußere Natur bedingt nachgeahmt, das Künstlerische zeigt sich in der treffenden Auswahl derjenigen äußeren Züge, welche das innere Wesen des dargestellten Gegenstandes zum Typus verallgemeinert offenbaren.
So sehen wir also zwei verschiedene Elemente sich zur Kunstwirkung vereinen. Jedes derselben kann für sich bestehen, ohne jedoch allein je zum künstlerischen Eindrucke sich zu erheben. Die innere Wahrheit eines Gegenstandes wird ohne Kunstfertigkeit nur stammelnd und unharmonisch zum Ausdruck gebracht, was eine Kunstwirkung ausschließt. Ich erinnere hierbei an die Dilettanten in allen Künsten: wie voll Wahrheit ist oft das kindliche Lallen eines dilettantischen Dichterlings! Die Kunstfertigkeit, beziehungsweise die bloße Nachahmung der äußeren Natur, die das innere Wesen mit tausend Zufälligkeiten beladen und daher unentwirrbar zur Darstellung bringt, wird Lüge, weil sie die Wirklichkeit doch nie erreicht. Man denke dabei an die Wachsfiguren, welche wir zuerst für Menschen halten, vor denen wir dann ihrer Starrheit wegen erschrecken und über die wir, wenn wir den Betrug merken, uns ärgern oder lachen.
Hier drängt sich nun die Frage auf: in welchem Verhältnis steht die Kunstfertigkeit zum Kunstwerk? Wir antworten kurz: im Verhältnis vom Mittel zum Zweck; die Kunstfertigkeit darf nie Wirklichkeit sein wollen und so die wahre Kunstabsicht verrücken, sie muß ausschließlich im Dienste der Kunstwirkung stehen, das heißt nur gerade so weit wirken, als sie das innere Leben existenzwahr zum Ausdruck bringt. Und hierin liegt das Geheimnis des Maßes in der Kunst.
Ich glaube, daß dies der Gesichtspunkt ist, der wohl unbewußt auch zur Trennung der beiden Schwesterkünste, Malerei und Bildhauerei, beigetragen hat. Die Malern bedarf, um die das innere Wesen eines Gegenstandes charakterisierenden Züge zur überzeugenden Darstellung zu bringen, der Farben- und Lichtabstufungen, weil ihr kein anderes Mittel zu Gebote steht, auf der Fläche den Eindruck der Körperlichkeit hervorzubringen. Denn gerade dies – die körperliche Form und deren Bewegtheit mindern dies – bringt allein eine wahre Ansicht des inneren Lebens hervor. Die Bildhauerei bedarf zum Ausdruck des inneren Lebens des Stoffes, der stofflichen, körperlichen Form. Aber diese erfüllt auch die Kunstabsicht vollkommen, und wohl nie ist jemand, an dem inneren Lebenshauche eines Apollo vom Belvedere oder einer Venus von Capua irre geworden. Ist aber das innere Leben in der farblosen oder gleichfarbigen Form typisch zum Ausdruck gebracht, was soll dann noch die Farbe? Sie drängt sich vor als ein Moment der Kunstfertigkeit, verrät eine Verkennung der wahren Kunstabsicht, die nicht mehr in der Offenbarung eines inneren Gesetzes, sondern in der Naturnachahmung gesucht wird, und zerstört auf diese Weise, als auf plumpe Täuschung berechnet, die Kunstwirkung.
Deshalb widerstrebt die Bemalung der Statuen dem Wesen der Kunst.
1887.
Tagebuchblätter
Sebaldusgrab.