Max Mohr: Arzt und rastloser Literat
Von Florian Steger
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Buchvorschau
Max Mohr - Florian Steger
Einleitung
Max Mohr (1891–1937) war ein Literat, der von Beruf Arzt war – ein Ärzteliterat (Beer 2016; Beer & Steger 2010). Diese Kombination aus Medizin und Literatur teilt er mit einer ganzen Reihe berühmter Kollegen (Steger 2018),* zum Beispiel mit Georg Büchner (1813–1837), Gottfried Benn (1886–1956) oder Alfred Döblin (1878–1957). Mohr feierte in den 1920er Jahren mit Dramen wie Improvisationen im Juni und Ramper europaweit Bühnenerfolge, die Improvisationen wurden sogar in New York gespielt, und Ramper wurde verfilmt.
Mohr stand mit zahlreichen Kulturschaffenden in engem Kontakt, es verbanden ihn langjährige Freundschaften mit Heinrich George (1893–1946), Paul Wegener (1874–1948), D. H. Lawrence (1885–1930) oder Peter Suhrkamp (1891–1959). Mit Thomas Mann (1875–1955) stand er auch im Exil noch in regelmäßigem Briefkontakt. Literaten wie Carl Zuckmayer (1896–1977) oder Oskar Maria Graf (1894–1967) gehörten zu seinen Bewunderern.
Die sogenannten »wilden Zwanziger« der Weimarer Republik erlebte Max Mohr nicht nur, er war einer ihrer Protagonisten, gestaltete sie aktiv mit. Seine Stimme hatte im damaligen deutschsprachigen Kulturleben Gewicht. Denn er war ein bedeutender Bühnenautor, und das Theater hatte in dieser Zeit eine noch weit größere gesellschaftliche Bedeutung als heute. Wir entdecken heute viele Parallelen zwischen diesen wilden Jahren der Weimarer Republik und unserer Zeit. Damals wie heute waren die Menschen einem ungeheuren Tempo der Entwicklung ausgesetzt, gewaltigen Veränderungen und Neuerungen war zu begegnen; um nur zwei Beispiele zu nennen: Medien und Verkehr. Die damals noch jungen Medien Radio, Film und Telefon veränderten grundlegend die Kommunikation und die öffentliche Wahrnehmung, neue Verkehrsmittel wie Auto oder U-Bahn revolutionierten die gesellschaftliche Mobilität. Ähnlich dramatisch war die Dynamik in Politik (Revolutionen), Wirtschaft (Hyperinflation), Wissenschaften und Kunst (zahllose Avantgarden). Die Menschen dieser Zeit erlebten eine Welt, die sich in rasendem Tempo veränderte und die in einem Rausch der Geschwindigkeit lebte, vor allem in den Großstädten.
Max Mohr stand all diesen Dingen skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber, und genau das ist häufig das Thema seiner Werke. Dennoch lebte er unmittelbar am Puls dieser Zeit, war Teil ihrer Betriebsamkeit. Er war am Tegernsee zu Hause, verbrachte aber notgedrungen viel Zeit in Berlin, von wo aus er in Briefen einen interessanten Einblick in den hektischen Literatur- und Theaterbetrieb der Weimarer Zeit liefert (alle erhaltenen Briefe von und an Mohr sind in Buchform verfügbar, Steger 2013). Ein Beispiel aus einem Brief an seine Frau vom April 1921:
»Ich bin absolut überhetzt. Gestern 2 Reiß, Drei Masken, Anders, Klimke, Pinthus, Firbig, Steinreich, Granach, v. Wangsteiner, Kayser, Greiner – heute schon wieder Feldhammer, Tribüne, Kepich, Kraus, Martin.«**
Dieser kleine Ausschnitt gewährt einerseits einen kleinen Einblick in Mohrs Arbeitsalltag und in den Kulturbetrieb, andererseits ist zu berücksichtigen, dass es sich um ein Schreiben an seine Frau Käthe handelt. Man hat es in einem Brief immer mit einer subjektiven Färbung zu tun, in diesem Beispiel wäre es denkbar, dass er seiner Frau ein wenig imponieren wollte und vielleicht etwas übertrieben hat.
Ein anderer Lebensabschnitt Mohrs ist ebenfalls überwiegend durch Briefe bekannt: das Exil in Shanghai. Mohr war wegen seiner jüdischen Herkunft 1934 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Seine Frau und Tochter blieben in Deutschland zurück, und Mohr schrieb ihnen häufig und ausführlich. Diese Briefe sind wertvolle Zeitdokumente über die Situation deutscher Exilanten in Shanghai und über die zeitweise dramatischen Ereignisse während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs (1937–1945). Von seinen Korrespondenzen sind überwiegend die Briefe erhalten, die Mohr geschrieben hat, weitaus weniger von denen, die er bekommen hat. Insbesondere von seiner Frau Käthe sind nur wenige Briefe erhalten, sodass man von ihr selbst kaum etwas erfährt.
Max Mohrs Leben trägt einige typische Züge seiner Generation: die Herkunft aus einer weltoffenen jüdischen Familie, die prägenden Erlebnisse des Ersten Weltkriegs, die erzwungene Emigration. Aber vieles an seinem Leben ist auch individuell: Er war von einer großen Rastlosigkeit und Unruhe gekennzeichnet, hin- und hergerissen zwischen Stadt und Land, zwischen Fernweh und Heimweh; in Berlin oder auf Reisen sehnte er sich stets nach seinem einsamen Löblhof, aber sobald er dort war, schmiedete er schon wieder Reisepläne, träumte von nahen und fernen Reisezielen.
Eine weitere Eigenschaft Mohrs war seine ungeheure Energie, die gewaltige Arbeit und Ausdauer, die er in den Aufbau und die Bewahrung seiner Existenz als Schriftsteller steckte. Unermüdlich kämpfte er darum, genügend Geld zu verdienen, um sich und seine Familie zu ernähren, und er ließ sich dabei nicht durch Hindernisse wie schlechte Kritiken, Hyperinflation, die alle seine Einnahmen auffraß, oder die Weltwirtschaftskrise entmutigen. Im ausländischen Exil hätte er keine Chance gehabt, als deutschsprachiger Schriftsteller zu existieren, und so begann er wieder bei Null und schaffte es, zu einem angesehenen Arzt der chinesischen Metropole zu werden. Vermutlich trug die dauerhafte Überanstrengung letztlich zu seinem Tod durch Herzinfarkt bei, mit gerade einmal 46 Jahren.
In diesem Buch soll etwas über Max Mohr erzählt werden, und zwar einerseits über ihn persönlich, über die ganz individuellen Höhen und Tiefen seines Lebens, und andererseits über ihn als Zeitzeugen, als Vertreter seiner Generation und der Welt, in der er lebte. Er selbst soll öfters zu Wort kommen, so wird immer wieder aus seinen Briefen zitiert. Diese Aussagen werden dann meistens sehr zurückhaltend kommentiert, sie sprechen für sich.
Als Einstieg in seine Biografie steht ein Ausschnitt aus einem seiner Briefe. Der Herausgeber einer Zeitschrift hatte Max Mohr darum gebeten, etwas über sein Leben und seine Arbeit mitzuteilen, und so schreibt Mohr über sich – möglicherweise literarisch etwas ausgeschmückt – am 17. September 1925:
»Jugend und Gymnasialzeit in Würzburg, Medizinstudien in München.
Bis zum Krieg: Viele alpine Touren, sozusagen im Hauptberuf Kletterer; dazwischen, allein und ohne Geld, drei lange Reisen in den Orient (Nordafrika, Syrien, Persien); in Kairo eine Zeitlang Zirkusreiter in einem kleinen französischen Bumszirkus.
Im Krieg: Infanterist und Infanteriearzt, viermal verwundet, Ende 1917 gefangen, ein Jahr Kriegsgefangener in England.
Danach: Verheiratet, sehr einsam in einem kleinen Einödshof hier, durch den Winterbiwak auf dem Großvenediger 1 Jahr davon im Bett, kurze Reisen nach Italien, Marokko, Spanien, Paris, – Dramatiker und Bettler im Hauptberuf, nebenbei Arzt, Musikant, Tierzüchter.
Ich weiß tatsächlich nichts von Belang über mich zu schreiben (außer vielleicht noch, dass ich bei der Gefangennahme aus Gründen, die hier zu weit führen, aber nicht ungerecht waren, mit noch fünf anderen Bayern an die Wand gestellt wurde, aber begnadigt wurde, nachdem drei vor mir niedergeknallt waren) …«
*Wo im Folgenden zur besseren Übersichtlichkeit die maskuline Formulierung verwendet wird, sind selbstverständlich Frauen, Männer und alle weiteren Identitäten gleichermaßen gemeint.
**Bei Zitaten aus den Briefen wurde die Orthografie behutsam angepasst.
1Eine jüdische Unternehmerfamilie zwischen Tradition und Assimilation
Der 17. Oktober 1891 war für die Familie Mohr in Würzburg ein freudiger und hoffnungsvoller Tag. Denn an diesem Tag kam Max Mohr zur Welt, oder mit vollständigem Namen: Max Ludwig Mohr. Er war das dritte Kind seiner Eltern Jeanette (1859–1941) und Leon Mohr (1855–1910).
Sein Vater Leon Mohr betrieb in der Alten Kaserngasse 16 eine Malzfabrik und war ein großer Arbeitgeber in Würzburg. Die Fabrik war in einem repräsentativen Gebäudeensemble untergebracht, gebaut Anfang des 18. Jahrhunderts. Seit 1860 gehörte es Markx Mohr (der Vorname war tatsächlich Markx!), der hier 1865 die Malzfabrik gründete. 1871 erwarb Max Mohrs Großvater Moritz Mohr (1810–1887) das Anwesen samt Wohngebäude, Fabrikanlagen, Obst- und Blumengarten. Er profitierte von dem 1868 beschlossenen Wegfall sämtlicher Siedlungshindernisse für Juden in Bayern.
Ob Markx und Moritz (!) Mohr verwandt waren, ist nicht sicher. Wie die Inschriften auf ihren Grabsteinen belegen, gehörten aber beide zu der jüdischen Priesterkaste der Kohanim. Für Moritz Mohr scheint also der jüdische Glaube noch eine wichtige Rolle gespielt zu haben, aber es sieht so aus, als wenn diese Rolle in der Familie Mohr von Generation zu Generation kleiner wurde. Im Jahr nach dem Kauf der Malzfabrik holte sich Moritz Mohr einen Kompagnon ins Boot, er verkaufte die Hälfte des Unternehmens an Lazarus Adler.
Moritz Mohr hatte drei Kinder: Emilie, die später seinen Kompagnon Adler heiratete, Aurela und Leon, den späteren Vater von Max. Leon erhielt 1881 das Heimatrecht der Stadt Würzburg und damit die Erlaubnis zu heiraten. Er war zwar in Bayern geboren und aufgewachsen, aber wegen seines jüdischen Glaubens durfte er nicht einfach heiraten, sondern brauchte dafür eine staatliche Erlaubnis. Nur drei Wochen, nachdem er diese erhalten hatte, heiratete er Jeannette, die Tochter des wohlhabenden Hopfenhändlers Louis Ullmann; Braut und Bräutigam passten also im wahrsten Sinn des Wortes zusammen wie Hopfen und Malz.
Das Paar lebte nun gemeinsam in ihrem Haus in der Rottendorfer Straße 1 in Würzburg und hatte drei Kinder: Irma, Hedwig (1883–1944) und eben Max, um den es in diesem Buch hauptsächlich geht. Irma, die zehn Jahre ältere Schwester von Max, starb tragischerweise im Alter von nur sieben Jahren, er hat sie also nie kennengelernt. Hedwig besuchte die höhere Mädchenschule und anschließend das Institut der Englischen Fräulein in Würzburg. Zudem nahm sie Unterricht an der Musikschule. Die Familie Mohr legte großen Wert auf höhere Bildung, gerade auch für die Töchter.
Leon musste in den folgenden Jahren mehrere Todesfälle in der Familie verkraften: 1887 starb sein Vater Moritz – sein Grabstein ist noch heute auf dem jüdischen Friedhof in Höchberg zu finden –, wenige Monate danach starb Emilie, seine Schwester. Der traurige Höhepunkt dieser Reihe von Todesfällen war der seiner Tochter Irma im Sommer 1889. Daher der eingangs formulierte Satz, dass der Tag der Geburt von Max Mohr ein glücklicher und hoffnungsvoller Tag für die Familie war.
Leon Mohr legte 1898 seine Aktivitäten in der Malzfabrik vollständig nieder. Er wurde also mit Mitte vierzig Pensionär; der Grund für diesen Schritt ist unbekannt. Die Malzfabrik existierte noch einige Jahrzehnte.
Max Mohr war zur Zeit des Ausscheidens seines Vaters Leon aus dem Unternehmen gerade einmal sieben Jahre alt; er war zu jung, um sich auch nur als Gedankenspiel damit zu befassen, ob er eines Tages einmal den Familienbetrieb übernehmen werde. Sofern es einen familiären Erwartungsdruck in Bezug auf seinen beruflichen Lebensweg gegeben hat, bezog sich dieser nicht darauf, einmal die Nachfolge des Vaters anzutreten. Max war also recht frei in seiner Entscheidung, was er mit seinem Leben anfangen wollte.
Die weitere Geschichte der Mohr’schen Malzfabrik
Leon Mohrs Kompagnon