Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der elfte Tag
Der elfte Tag
Der elfte Tag
eBook232 Seiten3 Stunden

Der elfte Tag

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Enel Melberg entwarf ein Gedankenspiel der Extraklasse!Was würde passieren, wenn die berühmten Autorinnen Virginia Woolf, Victoria Benedictsson, Vita Sackville-West, die Brontë-Schwestern und Karen Blixen sich treffen und über die Rolle der Frau und wie sich diese gewandelt hat, austauschen würden? Enel Melberg verrät es uns.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum13. Dez. 2021
ISBN9788726922103
Der elfte Tag

Ähnlich wie Der elfte Tag

Ähnliche E-Books

Sozialwissenschaften für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der elfte Tag

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der elfte Tag - Enel Melberg

    Enel Melberg

    Der elfte Tag

    Übersezt von Regine Elsässer

    Saga

    Der elfte Tag

    Übersezt von Regine Elsässer

    Titel der Originalausgabe: Den elfte dagen

    Originalsprache: Schwedischen

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1996, 2021 Enel Melberg und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788726922103

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

    1

    Als die alte Dame aufwachte, befand sie sich in einem spartanisch eingerichteten Raum mit nackten Wänden. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Ihre Seele war leicht, jung und neugierig, obwohl sie wußte, daß die Erfahrung wie Methusalem in einer Ecke hockte und der Dinge harrte. Sie war bestimmt schon einmal hier gewesen. Eine Erinnerung wollte sich aufdrängen, aber sie konnte noch nicht ausmachen, was es war. Diese weißen Wände, diese klosterähnliche Zelle, dieses noch unbeschriebene Blatt ...

    Sie verharrte im Ungewissen, strich vorsichtig mit einer knochigen Hand über die Wand, nahm die ungeahnten Möglichkeiten des Grenzzustandes in sich auf. Als sie genauer hinsah, traten aus der Wand Unebenheiten hervor, Blasen, Krater, und die Decke wurde durchzogen von einem Sprung, der wie ein Ast geformt war.

    Ihr Blick schweifte darüber und fiel auf einen zierlichen weißen Schreibtisch. Es war ein einfaches, jedoch stilreines Möbel aus einer Zeit der Spiele und Maskeraden, die aber von beherrschten Formen gebändigt wurden. Neben dem Bett entdeckte sie einen Nachttisch mit einem gestärkten Spitzentuch aus Leinen und einer Messingglocke darauf. Sie nahm sie und ließ ein leichtes, aber dennoch deutliches Klingeln die Stille durchbrechen.

    Nach einer Weile öffnete sich die einzige Tür der Zelle, und ein Dienstmädchen in schwarzem Kleid und weißer, gestärkter Schürze trippelte herein.

    »Euer Gnaden wünschen?« Eine Spur übertriebener Unterwürfigkeit lag in ihren Bewegungen.

    »Ja, was können Sie mir denn anbieten?«

    »Was Euer Gnaden wünschen.«

    »Dann bringen Sie doch eine Flasche Champagner. Und Zigaretten«, fügte sie hinzu.

    »Wird erledigt, Euer Gnaden!« und schon war das Mädchen wieder verschwunden.

    Munter und etwas überrascht erhob sich die alte Dame und ging zur Tür. Aber noch ehe sie diese erreicht hatte, wurde sie geöffnet, und herein trat eine ältere Frau in einem himmelblauen, fußlangen Kleid mit einem Schleier auf dem Kopf, offenbar eine Nonne. Mit einem leichten Schaudern bemerkte die alte Dame, daß diese Frau ihr selbst glich.

    »Willkommen an unserem Ort des Rückzugs. Ich bin die Priorin, und es ist mir ein besonderes Vergnügen, gerade Sie in unserem ehrwürdigen alten Kloster begrüßen zu dürfen.«

    Priorin, dachte die alte Dame, das klingt so vertraut. Ich bin bestimmt schon einmal hier gewesen.

    »Danke, Frau Priorin«, sagte sie. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Kloster, sagen Sie. Ich habe gerade eine Flasche Champagner bestellt. Hoffentlich verstößt das nicht gegen die Regeln hier.«

    »Keineswegs. Wir sind stolz auf unseren guten Weinkeller, ebenso auf unser eigenes, hervorragendes Gemüse, ganz zu schweigen von unserem berühmten Leinen, das wir selbst herstellen und aus dem wir die königlichen Brautlaken weben. Wir leben keineswegs abgeschieden von der Welt.«

    Diese Worte schlugen im Innern der alten Dame eine Saite an; eine verschüttete Erinnerung regte sich, die Erinnerung an etwas Großartiges. Die Priorin verbeugte sich höflich und erklärte, daß ihre Pflichten sie riefen, die Dame aber jederzeit für ein Plauderstündchen nach ihr schicken lassen könne. Dann ging sie hinaus.

    »Das junge Ding kommt ja gar nicht mit dem Champagner. Ich muß sie daran erinnern«, murmelte die alte Dame und klingelte noch einmal.

    Nach einer Weile erschien das Mädchen, jedoch ohne das Bestellte.

    »Euer Gnaden wünschen?« fragte sie beinahe vorwitzig.

    »Ich habe vor einer Weile um eine Flasche Champagner gebeten.«

    »Gewiß, Euer Gnaden.«

    »Könnte ich sie vielleicht jetzt bekommen?«

    »Gewiß, Euer Gnaden.«

    »Und würden Sie mir bitte auch Zigaretten bringen und ein halbes Dutzend Austern, mein Magen verträgt nichts anderes.«

    »Gewiß, Euer Gnaden.« Das Mädchen knickste und eilte aus dem Zimmer.

    Die Dame setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Zelle, den am Schreibtisch, und wartete. Es fehlen Schreibutensilien, notierte sie, muß ich bei nächster Gelegenheit bestellen. Sie wartete eine Ewigkeit, dann ergriff sie ungeduldig die Glocke und klingelte noch einmal. Das Mädchen kam wieder, auch dieses Mal mit leeren Händen.

    »So etwas habe ich ja noch nie erlebt!« rief die alte Dame ärgerlich aus. »Für wen halten Sie mich eigentlich? Wissen Sie denn nicht, wer ich bin!«

    »Gewiß, Euer Gnaden«, sagte das Mädchen. Um seine Mundwinkel spielte die Andeutung eines frechen Lächelns.

    »Gewiß, Euer Gnaden. Gewiß, Euer Gnaden. Ist das alles, was Sie sagen können? Hatte ich nicht etwas bestellt? Sehen Sie zu, daß ich es augenblicklich bekomme!«

    »Gewiß, Euer Gnaden.«

    Ich muß das Opfer eines satanischen Scherzes sein, dachte die alte Dame und beschloß, die Umgebung zu erforschen. Resolut ging sie die wenigen Schritte zur Tür und öffnete sie. Sie führte hinaus auf eine Terrasse, die hoch oben auf einem Berg in einer alpenähnlichen Landschaft zu liegen schien. Ein leichter, weißer Nebel lag wie ein Schleier darüber und ließ die Gipfelkette darüber nur erahnen, die in einer immer schwächer werdenden Bläue von der Unendlichkeit aufgesogen wurde. Die Luft war frisch wie ein Glas Quellwasser. Sie sog sie mit tiefen Atemzügen ein, und wie berauscht davon ging sie mit unsicheren Schritten zum Geländer.

    Von da konnte sie auf eine weitere Terrasse blikken, die den Eindruck machte, als würde sie zu einem altmodischen Sanatorium gehören, mit gestreiften Liegen und kleinen weißen Stühlen, die um Cafétische mit gußeisernen Füßen standen. Eine Treppe, gesäumt von bemoosten verwitterten Urnen, führte auf die untere Terrasse. Auch zwischen den Treppenstufen wuchs Moos. Sie schritt vorsichtig, aber würdevoll die Treppe hinab und ließ sich an einem der Tische nieder. Die Marmorplatte war gesprungen, und der Stuhl wackelte ein wenig.

    Kurz nachdem sie sich gesetzt hatte, hörte sie Schritte hinter sich und wandte sich neugierig um. Eine Frau von unbestimmbarem Alter kam auf sie zu. Sie trug eine graue Lammwolljacke, die Haare von diffuser Farbe waren zu einem unordentlichen, losen Knoten hochgesteckt. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, schien sie nicht energisch zu sein, aber auch nicht ängstlich. Sie ging mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin und hatte schon fast die Cafétische passiert, als sie bemerkte, daß dort jemand saß. Wie aus weiter Ferne kommend, flackerte ihr Blick, ehe er sich auf die alte Dame richtete.

    »Guten Tag«, sagte diese mit ihrer heiseren Stimme, »ich hatte noch nicht die Ehre.«

    »Mrs. Woolf«, stellte die andere sich vor.

    »Die Schriftstellerin?«

    »Ja, Virginia Woolf.«

    »Angenehm. Ich habe von Ihnen gehört. Ihr Name ist wirklich komisch. Widersprüchlich. Wissen Sie übrigens, daß es ein Stück geben soll, das heißt Wer hat Angst vor Virginia Woolf‹?«

    »Sehr komisch! Ja, ich habe davon gehört. Es hat aber nichts mit mir zu tun. Aber sind Sie nicht Frau Blixen?«

    »Baronin Blixen, wenn ich bitten darf. Karen Blixen, Tania war nur ein Kosename. Oder Isac Dinesen, wenn Sie den Schriftstellernamen vorziehen.«

    Mrs. Woolf konnte es sich nicht verkneifen, der hochmütigen alten Schnepfe ebenfalls einen Stich zu versetzen:

    »Wissen Sie, daß man einen Film nach Ihrem Leben gedreht hat?« sagte sie. »Er ist vor vollen Häusern gespielt worden und hat viele Oscars bekommen. Das ist eine Art vulgärer Orden, der nach dem Diktat des amerikanischen Pöbels vergeben wird.«

    »Reden Sie mir nicht davon«, erwiderte die Baronin. »Ich weiß, ich weiß. Man hat mein Afrika profanisiert und Glanzbilder daraus gemacht.«

    Sie versank in wehmütige Grübeleien, wurde aber von einem Windstoß wieder aufgeschreckt, der ohne Vorwarnung vorbeiwehte und graubraune, trokkene Blätter vor sich hertrieb, die raschelnd durch die Luft wirbelten und sich in einem Tanz vereinigten.

    Virginia rief aus:

    »Wer war das? Haben Sie die Frau gesehen, die eben in einem Cape vorbeischwebte?«

    »Das muß ein Gespenst gewesen sein«, antwortete Karen Blixen ruhig. »Dies ist ein Ort für Gespenster.«

    »Nein, nein«, rief Virginia. »Das war Orlando, ich habe es gesehen.«

    Karen Blixen verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und winkte abwehrend mit ihrer mageren, knochigen Hand.

    »Das glaube ich kaum. Ich weiß, wer es war.«

    »Vita? Vielleicht war es Vita. Wenn sie auch hier wäre«, sagte Virginia, und Fieberröte stieg in ihre bleichen Wangen.

    Sie rief nach dem geheimnisvollen Wesen, das sie Vita nannte.

    Plötzlich hörte man eine Stimme direkt hinter ihr. Es war eine Frauenstimme, tief wie die eines Mannes, aber ohne etwas von der Blixenschen rauchigen Heiserkeit zu haben. Sie war eher melodisch.

    »Hier bin ich, Virginia. Du hast gerufen.«

    Virginia drehte sich mit einer so heftigen Bewegung um, daß sie beinahe mit der hochgewachsenen Frau zusammengestoßen wäre, die sich lautlos hinter ihr aufgerichtet hatte. Sie trug kniehohe, geschnürte Stiefel, Reithosen und ein langes Hemd mit einem Gürtel. In der Hand hielt sie einen Hut und einen Stock, und den Hals schmückte eine lange Reihe glatter Perlen. Ihre Haare waren ergraut und lagen dünn über Ohren und Stirn, das Gesicht war farblos, aber die dunklen Augen brannten von jugendlicher Glut.

    »Hier bin ich, meine liebe Virginia.« Sie schlang ihre langen Arme schützend um den dünnen Körper. Virginia, die sich wie in einem Vogelkäfig gefangen fühlte, wand sich aus ihrem Griff und trat einen Schritt zurück.

    »Darf ich vorstellen: Vita Sackville-West oder Lady Nicolson, Baronin Blixen. Adlige Damen aus der höheren Gesellschaft.«

    Vita und Karen gaben sich die Hand und verbeugten sich leicht unter gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen.

    »Bist du schon lange hier?« fragte Virginia, und ein Hauch von einem schüchternen Backfisch kam über sie.

    »Nein, ich bin gerade angekommen. Ich saß da drüben und habe mich einer dunklen Fremden bekanntgemacht.«

    »Du und deine Frauengeschichten!« rief Virginia aus, heftiger als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte ironisch klingen wollen.

    »Sie ist natürlich sehr schön«, konnte sie dennoch nicht unterlassen, hinzuzufügen.

    »Nicht nach herkömmlichen Maßstäben. Tatsächlich hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Groß und dünn, mit dem Schatten eines Bärtchens auf der Oberlippe.«

    »Schatten!«

    Der spitze Ton schien Vita nichts auszumachen, die eine längere Betrachtung darüber anstellte, welch verführerische Wirkung ein Oberlippenbart auf Frauen habe. Sie wisse es aus eigener Erfahrung. Dann bemerkte sie, daß die dunkle Fremde eigentlich eher Virginia gleiche.

    »Dieselbe Mischung aus Scheu und Selbstgefühl, dieselbe tragische Miene. Noli me tangere an der Oberfläche und darunter ein desperater Hunger danach, gesehen und genommen zu werden.«

    Virginia zuckte bei ›genommen‹ zusammen.

    »Weißt du übrigens, wie sie hierhergekommen ist?« fuhr Vita fort. »Sie scheint auf jeden Fall mehr Sinn für Dramatik zu haben als du. Hat sich mit einem Rasiermesser den Hals aufgeschnitten und im eigenen Blut gebadet.«

    »Pfui!« Virginias Vogelaugen blinzelten. »Sei mir nicht böse!« Ihre Lider zuckten.

    Vita rief aus:

    »Böse? Weshalb sollte ich böse sein! Ich habe ja wohl nichts damit zu schaffen. Wenn du gehen wolltest, mußtest du eben gehen.«

    »Verzeih«, bat Virginia.

    »Das sah dir ähnlich, dich so zu entziehen. Und dennoch Aufmerksamkeit zu erheischen. Nein, mir hat das nichts ausgemacht, aber du hättest an die arme Vanessa und den armen Leonard denken können.«

    »Du glaubst also nicht, daß ich es deinetwegen getan habe?«

    »Nein, bewahre, das hoffe ich wirklich nicht!«

    Ihre Auseinandersetzung wurde durch den heftigen Wind unterbrochen, der plötzlich erneut aufkam und ebenso schnell wieder verschwand.

    Eine hochgewachsene, magere Frau, auf Krücken gestützt ‒ sie trug ein langes, schwarzes, raschelndes Seidenkleid mit hohem Kragen und drei Reihen schwarzer Perlen um den Hals –, folgte dem Windstoß wie in Trance und murmelte:

    »Ernst, komm zurück, Ernst, bitte, Ernst!«

    »Ist sie das?« fragte Virginia. »Ist das deine dunkle Schönheit?«

    »Ja«, antwortete Vita, »das ist sie.«

    Karen Blixen, die schweigend an ihrem Tisch gesessen und das Gespräch mit einem belustigten Lächeln verfolgt hatte, winkte die neu Hinzugekommene heran.

    »Bitte schön, hier ist Platz. Setzen Sie sich!«

    Die dunkle Frau glitt mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen auf einen Stuhl an Karens Tisch. Ihre Haare waren in der Mitte gescheitelt und zu einem straffen Knoten gebunden. Die Augenbrauen bildeten kräftige, waagerechte Striche über einer langen, schmalen Nase. Der Mund und die Kinnpartie vermittelten den Eindruck von Willensstärke.

    »Darf ich mich vorstellen? Baronin Blixen«, sagte die andere.

    Die Schwarzgekleidete wandte sich um und schaute in das schiefe Lächeln.

    »Victoria Benedictsson«, entgegnete sie kaum hörbar.

    »Ich habe es geahnt, die kleine Postmeisterin. Ich habe es geahnt. Von wem haben Sie geträumt? Ernst? Wir scheinen hier alle Träumerinnen zu sein. Wie war das denn mit dem großen Brandes, gnädige Frau?«

    Victoria richtete sich auf, und um ihren Mund erschien ein spöttischer, fast übermütiger Zug.

    »Der große Brandes!« rief sie aus. »Für Sie mag er vielleicht groß sein. Sie haben ihn wohl einmal getroffen, als Sie noch ganz klein waren, nicht wahr? Oh ja, ich weiß, wie Sie ihn mit bewundernden Briefen und Blumen verfolgt haben. Sagen Sie, was ist daraus geworden?«

    »Na, auf jeden Fall habe ich mich seinetwegen nicht umgebracht. Mich hat dieser Troll nicht verzaubert. Nein, meine Tante Bess und meine Mutter haben nicht zugelassen, daß ich ihn traf, als er endlich eine Visite machte.«

    »Was kümmert der mich«, schnitt Victoria ihr das Wort ab. »Ich suche nur Ernst. Ich bilde mir ein, ich hätte ihn gerade hier Vorbeigehen sehen.«

    »Ja, alle scheinen hier jemanden zu sehen. Ich weiß auf jeden Fall, wer die Gestalt im Cape war.« Karen setzte eine überlegene Miene auf.

    Wie um ihre letzten Worte zu unterstreichen, heulte vor der Terrasse ein Sturm auf. Es klang hohl und durchdringend und steigerte sich in einem beinahe unerträglichen Crescendo, dann hörte es so plötzlich auf, als wäre eine Saite durchgeschnitten worden, und hinterließ eine schaurige Leere, die die versammelten Frauen bedrückte.

    Virginia brach das Schweigen und sagte leichthin:

    »Also deshalb sind wir hier. Zum Rätselraten. Wer richtig rät, bekommt den Nobelpreis!«

    Vita nahm den Faden auf:

    »Wenn nun schon einmal so viele reizende Frauen hier versammelt sind, warum lassen wir uns nicht etwas einfallen, womit wir uns auf angenehme Weise die Zeit vertreiben können?«

    »An was für einen Zeitvertreib denkst du denn?« fauchte Virginia.

    »Liebe Virginia«, sagte Vita. »Werd nicht eifersüchtig. Ich habe an nichts Böses gedacht. Nein, aber schaut mal, da drüben. Schaut mal, was für entzückende Gestalten da kommen. Wie ein Büschel Schneeglöckchen drängen sie sich aneinander. Wie nett!«

    Drei Frauen, die jünger und vor allem schüchterner aussahen als die anderen, näherten sich langsam der Gruppe. Etwas ländlich Zurückgezogenes lag über ihrer Erscheinung, als ob sie lange in einer entlegenen Ecke der Welt vor deren zudringlichen Blikken verborgen gehalten worden wären.

    »Wie reizend«, fuhr Vita fort. »Wirklich wie Schneeglöckchen zwischen der Lunaria, der Schwertlilie, der Narzisse und der Nachthyazinthe.«

    »Ja, hier kannst du botanisieren«, sagte Virginia spitz. »Hierher, bitte sehr, hier ist eine alte Dame, die Sie kennenlernen will«, rief sie den Neuankömmlingen zu.

    Die drei Frauen waren inzwischen bei den Tischen angelangt. Victoria saß mit Karen an einem, Vita und Virginia an dem daneben.

    »Darf ich vorstellen? Das ist Vita Sackville-West, die berühmte Schriftstellerin«, sagte Virginia. »Ich selbst heiße Mrs. Woolf. Und hier haben wir die Baronin Blixen und Frau Victoria Benedictsson aus Schweden. Wir sind also alle Schriftstellerinnen.«

    »Charlotte Brontë«, stellte sich die erste der drei jungen Frauen mit einer leichten Neigung des Kopfes vor.

    »Anne«, sagte die zweite und stieß die dritte in die Seite, die wegschaute, als ob das Ganze sie nichts anginge.

    »Emily, du mußt guten Tag sagen!« Diese wandte sich langsam den versammelten Frauen zu und sagte mit deutlicher, aber unpersönlicher Stimme ihren Namen.

    Eine leichte Konversation über die kühle, jedoch frische Luft und das Wetter im allgemeinen setzte ein.

    »Hier oben werden wir auf jeden Fall von Regen verschont bleiben«, sagte Virginia. Dann gab man seinem Wohlgefallen über das schöne Panorama Ausdruck, auch wenn der Nebel die Sicht behinderte. Nur Emily nahm nicht an dem Gespräch teil.

    »Was für nette Mädchen, so wohlerzogen«, lobte Karen.

    Plötzlich sagte Emily:

    »Seht ihr die Heide dort unten? Und all die Gräber?«

    »Nein«, antwortete Charlotte. »Laß uns jetzt nicht darüber reden.«

    »Unser Garten war ein Friedhof, unsere Bäume waren Grabsteine, unser Vaterhaus stand auf einem Kirchhof«, fuhr Emily fort, ohne von Charlotte Notiz zu nehmen.

    »Aber wir sind doch jetzt hier oben«, sagte Anne, »in schwindelnder Höhe.«

    »Ja, nicht wahr«, mischte sich Karen in das Gespräch ein. »Hier oben

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1