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Flut
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eBook434 Seiten5 Stunden

Flut

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Über dieses E-Book

Inga Ābele nimmt uns mit auf eine Reise durch das Leben von Ieva, einer Lettin in ihrer Lebensmitte – rückwärts. In mehr oder weniger chronologisch umgekehrter Reihenfolge erzählt der Roman die Geschichte einer Frau, deren jugendliche Entscheidungen den Rest ihres Lebens dramatisch beeinflusst haben.
Nach und nach treffen wir die wichtigen Menschen in Ievas Leben – ihre Großmutter, ihre Mutter und ihren Vater, ihren Bruder Pāvils und ihre Tochter Monta – und die Dinge fangen an, Gestalt anzunehmen. Immer wieder kehrt die Erzählung zu zwei weiteren Personen zurück: zu ihrem toten Liebhaber Aksels und ihrem Ex-Mann Andrejs, zu den zwei Männern, die für immer durch eine Frau und ein schicksalhaftes Ereignis verbunden sind.


Das Aufdecken von Ievas Persönlichkeit und der Beziehung zwischen den drei Hauptfiguren macht einen grossen Teil der Anziehungskraft des Romans aus. Der volle Umfang von Ievas persönlicher Situation wird erst am Ende klar. Ābele geht den Fragen nach, wie frühere Entscheidungen unsere Lebenseinstellung für immer beeinflussen können und wieso wir an einer Vergangenheit festhalten, die uns so sehr verändert hat.


Inga Ābele spielt metaphorisch mit Bildern von Ebbe und Flut und ihr Roman folgt einer Struktur, in der sich reale Handlung mit imaginären Passagen, die inneren Monologen gleichen, gezeitenähnlich abwechseln.
SpracheDeutsch
HerausgeberKommode Verlag
Erscheinungsdatum26. Nov. 2021
ISBN9783905574081
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    Buchvorschau

    Flut - Inga Abele

    DAS HINZUGESELLEN

    D i eM u t t e r

    Die Mutter versucht sich zu erinnern, wo sie das schon gesehen hat.

    Gesichter, die sie aus schonungsloser Helligkeit ansehen.

    Große Augen. Lippen, die etwas sagen, lächeln, lallen, schelten. Gesichter, die sie aus rettender Dunkelheit herausreißen ins Licht.

    Eine Allee.

    Für einen Moment erblickt sie den Vater, der ihr Baumkronen zeigt. Sie liegt im Kinderwagen, ein Kind, das sich allem restlos zuwendet, ohne Rückhalt. Sie erblickt die Baumkronen und wird Baumkronen. Taucht ein in die Baumkronen, in ihre seidige Rastlosigkeit.

    Diese Gesichter hier in der Enge des Zimmers gleichen ebenfalls Baumkronen. Gesichterbaumkronen dort oben über dem Kopf, voll von raschelnder Bewegung und den Spielen des Windes. Die betrachten sie, die sie daliegt, heruntergekullert vom großen Kissen, gegen die Wand gekauert wie ein vertrockneter Wurm. Hände reißen dort in der Ferne Vorhänge auf. Lichtgetränktes Fensterviereck.

    »Guten Morgen! Zeit zum Aufstehen«, verkündet die Stimme des Lichts.

    Ein Gesicht beugt sich ganz nah heran, es ist das Gesicht einer Frau.

    Die Mutter öffnet ein Auge. Das andere Auge ist von Eiter verklebt. Sie schaut zu den Gesichtern, flüstert mit zahnlosem Mund ein paar Begrüßungssilben. Die Mutter hat Angst vor dem Tag, Angst vor der allmorgendlichen Prozedur – sie wird herumgewälzt, aufgerichtet, geschoben, gewaschen, ihr wird Schmerz zugefügt und Unruhe. Die Mutter will sagen, dass sie nicht mehr versteht, weshalb sie aufstehen soll. Sie ist müde, aber man gewährt ihr keine Ruhe.

    »Und das schlimmste ist, dass sie mit ihrer linken Hand irgendwie an die Kacke rankommt. Fummelt herum, zerrt an den Pampers und schmiert diese Finger überall hin, sie ist völlig ohne Verstand. Ich muss zweimal täglich die Laken wechseln. Allesamt.«

    Die Mutter schließt ihr einziges Auge und tut so, als ginge es nicht um sie. Schon seit einigen Jahren ist vor diesem einzigen Auge Nebel, rasch dahinhuschender Nebel mit Fetzen schwarzer Flecken.

    »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich bin sicher, dass man sich etwas einfallen lassen kann. Ein Hemd, das über der Brust zugebunden wird oder so«, sagt eine zweite Stimme, eine tiefere, der Dunkelheit beigemischt ist.

    Die Mutter mag diese Stimme lieber.

    »Sie kommt ja nicht von oben ran, sondern von unten, vom Oberschenkel her. Morgens ist das ganze Bett überflutet. Sie pinkelt so wahnsinnig viel. Und wenn noch Kacke dazukommt, kann ich hier nicht ohne Brechreiz reinkommen. Du kannst dir diesen Gestank nicht vorstellen«, klagt die erste Stimme, weiß und wahrhaftig wie Licht.

    Vor dieser Stimme kann man sich nicht verstecken, deshalb kneift die Mutter noch fester die Augen zu.

    »Irgendwas wie für einen Säugling. Eine Art Strampelanzug, den man an der Seite zuknöpft.«

    »Das geht nicht. Die letzten Narkosen haben ihr völlig den Verstand genommen. Sieh doch, wie klein sie ist – aber schwer wie ein Baumstamm, der jahrelang im Wasser gelegen hat. Sie ist zehnmal so schwer wie ich und schlaff. Ich stelle sie auf die Füße, damit die Beine nicht völlig trophieren. Ein paar Minuten am Tag. Ich setze sie auf, wenn ich von der Arbeit komme, damit sie sitzt. Aber wie schwer das alles ist, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich hebe mir die Gedärme aus dem Leib, die Seite tut mir weh. Nein, nein. Von irgendwelchen Strampelanzügen oder Hosen kann keine Rede sein. Sie kann die Beine nicht anheben. Das würde bedeuten, dass noch mehr Wäsche anfällt. Nein, nein. Gestern habe ich mir etwas überlegt: ich mache ihr die Pampers mit Klebeband am Schenkel fest. Mit breitem Scotch. Was meinst du?«

    »Auf keinen Fall, Mama. Ihre Haut wird sich entzünden.«

    »Meinst du? Nu, ich weiß nicht.«

    Die Mutter stellt sich tot. Als ob es bei dieser Idiotie hier nicht um sie ginge. So spricht man nur über schlechte Kinder. Sie ist kein schlechtes Kind, ist es nie gewesen. Nein, nein.

    Die Stimme des Lichts verschwindet, hinter dem Kopfkissen klappt eine Tür.

    Etwas Warmes legt sich um ihren Hals, sie spürt Wärme. Die Mutter erhascht sanften, mädchenhaften Atem auf ihrer Wange und öffnet ihr einziges Auge.

    »Trink etwas Kaffee, Großmama«, sagt die Dunkelstimme, »nutze den Augenblick. Ich bin zu Besuch gekommen. Also kannst du Kaffee bekommen, bevor du dir das Gesicht gewaschen hast.«

    Eine weiße Tasse taucht im Gesichtskreis auf. Sie kommt näher. Eine Hand packt fest ihren Nacken und hebt den Kopf ein wenig an. Der zahnlose Mund der Mutter saugt sich mit zwei bleichen, schneckenartigen Lippen am Rand der Tasse fest. Etwas Helles, Warmes und Süßes strömt in sie hinein. Spült über die in nächtlichen Albträumen ausgedörrte Zunge, die in dem Universum unter dem Gaumensegel herumschlackert. Etwas Wunderbares. Die Mutter will es und verfolgt mit gierigen Augen, wie die Tasse sich entfernt.

    »Na, siehst du, wie lecker. Willst du noch mehr?«

    Die Mutter nickt stramm mit dem spitzen Kinn – dass sich die Tasse nur nicht allzu weit entfernt! Glücklicherweise kommt sie näher. Die Schnecken lassen die weiße Muschelschale nicht mehr los, die Mutter trinkt zwei volle Züge und sinkt auf das Kissen zurück. Sie versucht zu lächeln und das Gesicht zu erkennen. Aber vergeblich, vor Anstrengung flirrt der Nebel noch wirbelnder durch das Blickfeld.

    Die Mutter sagt:

    »Kindchen.«

    »Ja, Lieboma? Was möchtest du?«

    Die Mutter will es sagen, doch die Worte stehlen sich von der Mutter davon.

    Statt von Worten wird die Mutter für einen Augenblick von einer Szene besucht: ein von gleißender Sonne und dem schwarzen Schatten eines Dachs geteilter Hof mit Grasbüscheln und feinem Kies. Die Mutter ist auf diesem Hof eine Katze, die sich auf der Schattengrenze flach auf die Erde geduckt hat.

    Die Katze springt in einen Vogelschwarm, der sorglos ein Staubbad im heißen Sand nimmt.

    Die Vögel stieben auseinander, und die Szene zerfällt in Scherben.

    Die Mutter ruft diese Szenen gar nicht herbei, sie kommen von selbst und gehen von selbst. Der Duft der Feuchtigkeit von Moos kommt und die Kühle im Gesicht, wenn im Frühjahr die Eiskruste unter den Füßen bricht und die Stiefel in flüssigen Schlamm stapfen.

    Es kommen eine Rodungslichtung und Baumharz.

    Es kommen Bahnschwellen, von ganz nahe gesehen – geteerte Holzschwellen, stählerne Schienen mit rotbraunem Rost und winzigen gelben Blümchen – als wären sie lebendig.

    Es kommt ein nasses, von Plazentafett bedecktes Kind, das ihr auf den Bauch gelegt wird. Es kommt allerlei, mit Ausnahme der Möglichkeit, es noch einmal zu erleben.

    Die Mutter denkt viel darüber nach.

    Aber jetzt will die Mutter die Szenen nicht, die Mutter will das, was neben ihr ist. Diese warme, verlässliche Stimme der Dunkelheit.

    Die Mutter sagt:

    »Kindchen.«

    »Nu, was möchtest du, Großmama? Noch Kaffee?«

    Die Mutter streckt langsam das Kinn vor.

    »Was dann?«

    Ach, wenn sie es zu sagen vermöchte!

    Die Mutter will Feuer.

    Das, was im Augenblick für kein Geld der Welt zu bekommen ist.

    Die Mutter will, dass sich jemand neben sie legt. So mit dem ganzen Körper. Sich anschmiegt.

    Wie einst ihre eigene Mutter sich an sie schmiegte.

    Wie einst ihre Großmutter in frostklirrenden Nächten.

    Wie einst ihr Mann, als sie die kalten, abgeschiedenen Jahre der Halbwüchsigkeit bereits überwunden hatte – als sie schon so groß war, dass sie mit einem Mann schlafen durfte. Als jene Nächte des Zusammenströmens der Wärme zweier Menschen wieder von neuem begannen.

    Wie damals, als die Kinder nachts zu ihr ins Bett schlüpften.

    Und ist diese da – sie, die Besitzerin der dunklen Stimme –, ist das nicht ihre Enkeltochter?

    Die Mutter wird mit jäher Gewalt von einer Szene heimgesucht: ein Bauernhaus in der Julihitze. Im Sonnenlicht vor dem offenen Fenster regt sich kein Halm. Sie hat sich, ermattet von Erde und Sonne, in der Küche auf dem großen Sofa niedergelassen, über das eine gestreifte, abgenutzte und zart nach Staub duftende Baumwolldecke geworfen ist, und sagt zu ihrer Enkeltochter:

    »Komm, Kindchen! Halten wir Mittagsschlaf!«

    Hinter ihrem breiten Rücken kuschelt sich ein winziger Sonnenschein ein, erörtert dieses und erörtert jenes, bis ihn der Schlummer übermannt. Um das braune Holz der Vorhangstange summen träge ein paar Fliegen. Wie groß das Leben ist!

    Die Mutter will ihrer Enkeltochter sagen: komm, Kindchen, halten wir Mittagsschlaf!

    Die Mutter will sagen: zum Teufel mit dem Waschen, zum Teufel mit diesem ganzen Pinkeln und Kacken, diesem Essen, was zählt das alles schon?! Die Kälte, die Kälte kriecht heran aus allen Ecken. Leg dich neben mich, Kindchen, damit ich dein Feuer spüre! Leg den Ring deiner Wärme um meinen erstarrenden Körper. Lass uns zu diesem fernen, fernen Fenster schauen! Eine Stunde lang. Zwei.

    Durchlebe eine einzige Spanne meiner Zeit, die dir wie ein Jahr vorkommen wird.

    Lass uns gemeinsam die Finger im Gegenlicht erforschen, man kann so viel in ihnen lesen!

    Hast du nicht ein wenig Zeit für mich, Kindchen?

    Nur einen einzigen Abend – vom Feuer umsäumt.

    Kindchen!, will die Mutter sagen, aber es gereicht nur zu einem Seufzer. So viele Wörter, um einen ganzen Gedanken zu formulieren, kann die Mutter nicht mehr aneinanderreihen.

    Verwehre die Wärme nicht, will sie sagen. Das ist das Schlimmste, was du einem anderen verwehren kannst.

    Kindchen, will die Mutter sagen, dein Gesicht ist eine schöne Baumkrone – üppig, sanft und lebendig. Das ist gut, will die Mutter sagen. Für eine Frau ist es gut, schön zu sein.

    »Lieboma«, sagt die Stimme ihrer Enkeltochter plötzlich nah, ganz nah. »Lieboma, erinnerst du dich, du hast gesagt, ein Mensch, der sich selbst begriffen hat, ist schön. Lieboma, du bist jetzt sehr schön. Doch, doch, das bist du, schüttle nicht den Kopf! Das bist du.«

    Über ihnen kehrt die Lichtstimme zurück:

    »Ich war beim Roten Kreuz. Zu einem lächerlichen Preis habe ich einen Pinkelstuhl bekommen. Siehst du, den weißen da. Die vermieten sie. Aber ich habe nur für einen Monat bezahlt, weil es sich für ein halbes Jahr nicht lohnt, der Mann hat gesagt: die sterben, das lohnt sich nicht. Die sterben.«

    Zusammen mit den Wörtern beginnt ein feuchtes Tuch über das Gesicht der Mutter zu fahren. Die Mutter versucht auszuweichen, kneift beide Augen zu, sowohl das gesunde als auch das kaputte, aber dem feuchten Tuch kann sie nicht entrinnen, es ist unverfroren, nass und hart!

    »Sag so was nicht in ihrer Gegenwart, Mami.«

    »Sie hört schlecht. Und außerdem – was ist schon dabei? So ist halt das Leben. Als wir sie aus dem Krankenhaus geholt haben, lag in ihrem Zimmer eine im Sterben. Es war so eine zähe, kleine Alte, schimpfte auf jeden, grummelte, nichts war ihr recht. An diesem Tag sollen sie acht Beutel in sie reingepumpt haben. Über den Tropf. Nu, und dann ist sie eben gestorben. Hat sich nicht lange gequält, vielleicht zehn Minuten. Die Tochter war gerade gekommen, stand am Bett. Ärzte kamen angerannt, wollten sie in die Renimation bringen, brachten ein Rollbett, aber da war nichts mehr zu bringen. Man machte das Fenster auf, damit die Seele rausfindet, und brachte sie mitsamt dem Bett weg – und Punkt. Noch am Morgen hab ich zu den Frauen da in dem Krankenzimmer gesagt: schaut mal, wie sie die Hände hält – gekreuzt über der Brust, sterben wird sie! Und sie ist auch gestorben.«

    Zwei resolute Hände schieben sich hinter die Schulterblätter und setzen die Mutter mit einem Ruck auf.

    »Wai«, jammert die Mutter, »tut weh!«

    »Gar nichts tut weh, du Faulpelz. Den Pinkelstuhl hab ich auch umsonst angeschleppt. Sie begreift doch nichts mehr. Hab sie draufgesetzt und eine Stunde lang festgehalten – nichts. Weder Pisse noch Kacke. Begreift es nicht. Hockt da und döst. Umsonst. Alles in die Windeln – Faulpelz. Aber nachts fummelt sie an den Wänden herum. Wird zappelig. Eines Abends hör ich nachts so ein Rummsen. So gegen drei. Ich dachte: was denn nun? Ich gucke – aus dem Bett ist sie gefallen. Aufs Gesicht. Bis ich sie hochgekriegt habe! Danach konnte ich bis morgens nicht einschlafen. Bin zur Arbeit gegangen, weder Fisch noch Fleisch. Jetzt hab ich den Pinkelstuhl neben das Bett gestellt – damit sie nicht rausfällt. Wenigstens dafür taugt er, ist ziemlich schwer, siehst du, aus Metall. Als Gitter.«

    Die zahnlose Mutter hinter dem Gitter lächelt. Lächelt etwas Unkonkretem zu, etwas Verschwommenem, Süßem und Weißem hinter dem fernen Fenster. Doch das Konkrete gibt und gibt keine Ruhe. Ihre Handflächen stützen sich auf die Gitterlehne und zwingen sie, sich in die Aufrechte zu ziehen. Der Körper ist zerknittert, er will nicht aufrecht. Die Beine sind in den Hüften zu einem Knoten verschlungen, die Hüften wollen nicht aufrecht. Es fällt ihr schwer, sie begreift nicht, warum sie stehen muss, wenn der Körper nicht aufrecht will. Doch man lehnt sie mit den Handflächen gegen das Gitter, spannt sie wie ein vertrocknetes Stück Leder auf einen Leisten und krempelt das Untere vom Nachthemd gegen das weiße Licht hoch. Ihr wird der Hintern gewaschen. Sie erträgt es. In den Schläfen dröhnt und pulsiert es. Sie fühlt ihr Blut durch die knochigen Adern schwappen und in den Fersen zusammenfließen, sie ist ein Krug voll fauligen Weins, der gefährlich hoch aufgerichtet ist in Leere und weißem Tageslicht.

    »Gut, dass Pāvils mir diese gelben Gummihandschuhe geschenkt hat. Siehst du, was das für prima Handschuhe sind? Früher haben meine Hände derart gestunken, dass ich nicht zur Arbeit gehen konnte – Pisse und Kacke kriechen einem so oder so unter die Nägel, und der Gestank haftet an der Haut, wie sehr man die Hände danach auch schrubbt. Mit den Handschuhen jetzt ist das ganz hygenisch. Super! Und eine Mütze setze ich auf, wenn ich hier reinkomme. Die Haare nehmen auf der Stelle den Gestank an. Ich kann das doch auf der Arbeit keinem erzählen, was für ein Unglück passiert ist. Nicht im Traum hab ich mir vorgestellt, dass so was passiert. Sie war doch ihr Leben lang wie ein Pferd – hat gearbeitet wie ein Pferd und war maßlos stolz wie ein Pferd. Hat keinen an sich rangelassen. Und jetzt, schau sie dir an! Und wie lange kann sich das noch hinziehen? Über Jahre. Die Ärzte haben gesagt, sie hat ein Herz wie ein Pferd. Ein starkes. Verstand hat sie keinen, sie denkt nichts und fühlt nichts, aber gesunden Appetit.«

    Die Mutter hört, dass an ihrer Verstandeskraft gezweifelt wird, und lächelt spöttisch. Sie macht schmatzende Geräusche, der Mund ist wieder ausgetrocknet wie eine Wüste. Gleich darauf zieht sie allerdings eine Grimasse, denn ein hartes Handtuch bohrt sich, von kräftigen Händen geführt, schmerzhaft in die Falten ihrer Oberschenkel.

    »Mami, du machst alles, wie es sich gehört. Du weißt gar nicht, wie klasse du bist. Ich bewundere dich. Danach wirst du ein gutes Gefühl haben. Stimmt’s?«

    »Ein gutes Gefühl? Ich weiß wirklich nicht, was ich auf deine Parteiparole antworten soll.«

    »Parteiparole?! Also, Mami!«

    »Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich versuche, nicht zu denken.«

    Das Hinterteil der Mutter wird frisch gewindelt, sie wird im Bett aufgesetzt und bekommt Kissen in den Rücken gestopft. Unter das Kinn wird eine Serviette gesteckt. Ihrem Mund nähert sich ein Löffel mit etwas Rotem. Sie öffnet mechanisch den Mund wie ein Vogel seinen Schnabel und schluckt.

    »Iss das Obst, Mutter!«

    »Du musst es kleinschneiden. Sie hat doch keine Zähne!«

    Die Mutter nickt und schluckt die Frucht in einem Stück hinunter wie einen Fisch.

    »Macht nichts, sie zerdrückt es mit dem Gaumen.«

    »Vielleicht wäre es doch besser in einem Pflegeheim. Du schreist sie an. Und einmal hast du geweint, als ich dich anrief. Manchmal trinkst du Alkohol und weinst.«

    »Ich schreie nicht nur, Kindchen, ich schlage sie auch. Mit dem Handtuch. Sie ist unverschämt. Und ich schreie, ja. Sie scheißt das Bett voll. Sie pisst die ganze Zeit. Sie hat einen gesunden Appetit. An ihrer Seite sehe ich, wie mein Leben zerbröckelt, dieser Rest, der sich mein Leben nennt. Neben ihr verwandelt sich eine Stunde manchmal in ein Jahr. Ich trinke ihren Heilbalsam aus, und zwar regelmäßig. Das ist menschlich. Schüttle nicht den Kopf, Kindchen, so ist das Leben. Du glaubst es nicht, und das ist gut so, dass du es nicht glaubst, denn du weißt noch nichts über das Leben. Ja, denk, was du willst, aber ich gebe sie nicht ins Pflegeheim. Sie ist meine

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