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Secret Souls
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eBook433 Seiten6 Stunden

Secret Souls

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Über dieses E-Book

Jolines größter Traum ist es, einmal bei Olympia den 5000m Lauf mitrennen zu können und für diesen Traum tut sie alles. Als ihr jedoch die Qualifikation zum Entscheidungslauf für eine Aufnahme für eines der besten Sportinternate des Landes misslingt, ist Joline am Boden zerstört. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschließt der gutaussehende und wohlhabende Jason Taylor, mit ihr in Kontakt zu treten und sie als Trainer zu unterstützen. Wird Joline es mit seiner Hilfe schaffen, beim Entscheidungslauf teilzunehmen und siegen zu können? Oder benutzt Jason sie bloß, um seine Ex-Freundin, und gleichzeitig Jolines Rivalin, eifersüchtig zu machen? Die Situation spitzt sich zu, als immer mehr Menschen in Jolines Alter verschwinden und nach wenigen Tagen als Leichen wieder auftauchen.
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum10. Okt. 2019
ISBN9783958691261
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    Buchvorschau

    Secret Souls - Kira Borchers

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Impressum

    Vorwort

    Prolog

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Epilog

    Danksagung

    Secret Souls

    Kira Borchers

    © 2019 Amrûn Verlag

    Jürgen Eglseer, Traunstein

    Covergestaltung: cover & books Buchcoverdesign

    Lektorat: Simona Turini

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN TB – 978-3-95869-418-7

    Printed in the EU

    Besuchen Sie unsere Webseite:

    amrun-verlag.de

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Vorwort

    Ich wünschte, dies alles wäre nie passiert.

    Ich wünschte, ich hätte niemals eine Schwester gehabt

    und meine Eltern wären normale Leute mit normalen Berufen gewesen.

    Aber nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung.

    ~ Joline ~

    Prolog

    Oh mein Gott, renn! Du musst schneller laufen!«, schrie ich immer wieder panisch über meine Schulter und dennoch war mir bewusst, dass wir es nicht schaffen würden. Wir hatten keine Chance, vor dem zu fliehen, was uns verfolgte. Es gab kein Entkommen. Nicht dieses Mal.

    Ich überschlug mich mehrere Male, als ich im nassen Laub ausrutschte und der Weg einen steilen Hang hinunterführte. Schwer atmend rappelte ich mich am Fuße des Hügels auf und schaute hektisch um mich. Nein. Nein. Nein! Wieso musste es nur so dunkel sein? Ich hätte den Sturz vermeiden können …

    Wo war sie? Ich durfte sie nicht verloren haben. Mein Herz raste, während ich mich hastig in alle Richtungen drehte und mich bemühte, etwas in der Finsternis auszumachen, das kein Baum war. Fast war es, als wäre es Nacht gewesen, aber es waren nur die Regenwolken, die sich beständig seit der Nacht über der Stadt hielten. Der Morgen brach bloß langsam an.

    Mein Puls beschleunigte sich mit jedem Schritt und ich glaubte, dass ich mein Herz schlagen hören müsste. Meine Haut brannte an einigen Stellen. Ich musste sie mir an Ästen, die mir während des Laufens entgegengeschlagen waren, und bei dem Sturz aufgeschürft haben.

    Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen! Voneinander getrennt konnten wir es noch weniger schaffen als zusammen. Nein, ich brauchte sie!

    Ein Schuss durchbrach die Stille des Waldes. Eine Stille, die endgültig schien und mir jegliche Hoffnung entriss. Mein Kopf dröhnte und das Blut rauschte laut in meinen Adern. Bitte, es durfte nicht das sein, was ich dachte …

    Eine Gestalt tauchte vor mir auf und leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht, sodass ich eine Hand in die Höhe riss und mir diese schützend über die Augen legte. Als der Lichtstrahl sich zum Boden senkte, erkannte ich, wer es war, der mir gegenüberstand und Tränen stiegen mir in die Augen.

    »Nein«, hauchte ich kraftlos und sank auf die Knie. Und dann wiederholte ich dieses eine Wort immer wieder: »Nein, nein, nein!« Es wollte mir nichts anderes über die Lippen kommen, solange ich den Anblick ertragen musste, der sich mir bot.

    Ein höhnisches Grinsen entstand in seinem Gesicht und seine Augen blickten verachtend auf mich hinunter. Als würde er es genießen, dass ich ihm derart schutzlos ausgeliefert zu Füßen lag. Aber war das ein Wunder? Er hatte mir alles genommen, was mir geblieben war. Alles, was mir etwas bedeutet hatte.

    »Ich habe dich gewarnt.«

    1 – Joline Thompson

    Wie

    lange hatte ich auf diesen Moment gewartet? Wie oft hatte ich mir diese Situation in den letzten Wochen bereits vorgestellt? Und nun war es so weit. Der Tag – mein Tag – war gekommen und ich konnte endlich allen beweisen, was in mir steckte. Wofür mein Herz schlug.

    Das hier würde nicht irgendeine Geschichte werden. Es würde meine Geschichte werden: Wie ich, Joline Thompson, gegen Helen Clark gewann.

    Möglichst ruhig zog ich meine schwarze Trainingsjacke aus und zupfte mein weißes Sporttop zurecht. Meine Hände waren vor Aufregung eiskalt und zitterten leicht, sodass es mir schwerer als sonst fiel, eine vernünftige Schleife aus den Schnürsenkeln meines Turnschuhs zu binden. Ich atmete laut aus, um zumindest einen Teil der Anspannung loszuwerden, die bereits den ganzen Tag an mir zu haften schien. Nervös strich ich mit den Händen über meine schwarze Leggins und erhob mich schließlich von der Holzbank.

    Mit langsamen Schritten ging ich durch den Umkleideraum zu einem bodentiefen Spiegel und blickte hinein, um mir ein letztes Mal ins Gesicht zu sehen, bevor ich mich unter die Leute mischte und mich ihren neugierigen, aufgeregten Blicken aussetzte.

    Meine Haut war ganz blass und ich hatte den Eindruck, dass man mir meine wachsende Anspannung ansehen konnte. Ich atmete viel zu schnell und meine Lippen bebten.

    Außerdem kitzelten meine langen Haare an meinen nackten Armen und in meinem Nacken. Einzelne Strähnen fielen mir ungünstig ins Gesicht und schränkten mein Blickfeld ein. Das musste ich ändern. Hastig zog ich mir ein Haargummi von meinem dünnen Handgelenk und bemühte mich, meine blonde Mähne zu bändigen, indem ich sie mir zu einem krausen Dutt hochsteckte.

    Ich durfte es nicht länger hinauszögern, sondern musste meinen Traum endlich wahr machen. Verstecken half nichts mehr. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen. Erst nachdem ich sie wieder geöffnet hatte, wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und machte mich auf den Weg.

    Der Türgriff fühlte sich in meiner Handfläche kühl an und ich fragte mich unwillkürlich, wie es möglich war, dass das Metall noch kälter als meine Hände war. Dabei kam es mir vor, als wären meine Hände bereits zu Eisklötzen geworden, die mich wie schwere Gewichte Richtung Boden zogen.

    Da stand ich nun und mich trennte lediglich eine weiße Tür von der Welt da draußen. Die Stille in diesem Raum fraß sich - wie ein kleiner Wurm – erbarmungslos in mich hinein. Dabei hörte ich mein Herz in einer unnatürlichen Lautstärke in meiner Brust schlagen, sodass ich dachte, es müsste aus mir herausspringen. Mein Magen passte sich dem Gefühlschaos an. Es kam mir vor, als wäre ein Zoo darin ausgebrochen.

    Schließlich drückte ich die Klinke hinunter und stieß schwungvoll die Tür auf. Schlagartig rückten mein rasendes Herz und all die anderen seltsamen Gefühle in den Hintergrund.

    Rufe, Lachen und fröhliche Musik dröhnten mir entgegen, als ich aus dem Umkleideraum ins Freie hinaustrat. Die Sonne strahlte hell vom wolkenlosen Himmel und löste meine eisigen Finger aus ihrer Schockstarre.

    Es war genau richtig: nicht zu warm und nicht zu kalt. Perfektes Laufwetter.

    Nach einigen Schritten wanderte mein Blick zur Tribüne, die sich neben der Laufbahn befand, auf der ich nun stand. Dort oben warteten sie gespannt. Sie wollten Talente sehen und Wetten gewinnen. Die Besten für den alles entscheidenden Wettkampf in drei Monaten fördern, bei dem nicht nur ein hohes Preisgeld unter den Läuferinnen meines Jahrgangs vergeben werden würde, sondern auch ein Platz am Sportinternat, an dem lediglich die Elite aufgenommen wurde. Mit Elite meinte ich nicht die außergewöhnlichen Talente, sondern die Reichsten der besten Läuferinnen.

    Ich musste es schaffen. Ich musste diesen Lauf hier gewinnen, damit ich meinem Traum etwas näherkam. Denn nichts wollte ich lieber, als das Internat zu besuchen und später bei Olympia mitzulaufen. Niemand wollte eine Läuferin, die nicht alles für den Sieg gab.

    Ich erstarrte, als ich die wohlhabendste und wichtigste Familie der kleinen Stadt, in der ich mit meinen Eltern Lyss und Enry Thompson lebte, erkannte. Mrs und Mr Taylor hatten unter den Schaulustigen Platz genommen und beobachteten ebenfalls gespannt die Läuferinnen des diesjährigen »Islandcountry«, wie wir den Wettbewerb nannten.

    Mein Puls beschleunigte sich, als ich bemerkte, dass ich die Aufmerksamkeit der Familie erregt hatte und mich Mr Taylor mit einem schmalen Lächeln und einem leichten Kopfnicken grüßte. Für sein Alter sah er erstaunlich gut aus - und dafür, dass er sich angeblich um die schwierigen Angelegenheiten des Landes zu kümmern hatte. Dabei wusste allerdings keiner so genau, um was genau es sich handelte und was eigentlich sein Job war. Jedoch musste er mit seiner Arbeit ziemlich gut verdienen.

    Seine Ehefrau Scarlett war eine ebenso hübsche Frau. Stets trug sie teure Kleidung und aufwendige Frisuren, was sie jünger aussehen ließ.

    Und neben seinen Eltern saß Jason Taylor. Obwohl er ungefähr in meinem Alter war – vielleicht ein wenig älter als ich –, sorgte etwas an diesem Jungen dafür, dass ich ihm für gewöhnlich aus dem Weg ging und kein Wort mit ihm wechselte. Gut möglich, dass es seine abweisende Art mir gegenüber war. Die Blicke, die er mir zuwarf – vorausgesetzt, er beachtete mich denn überhaupt einmal -, waren meist abschätzig. Und behauptete man nicht, dass Augen mehr als tausend Worte sagten?

    Auch jetzt zeigte er keinerlei Regung in seinem Gesicht und starrte mich einfach mit seinen blauen Augen an, als könne er direkt durch mich hindurchsehen, wenn er sich nur genug anstrengte. Er wirkte in diesem Moment sogar abweisender als sein Vater George Taylor, was in meinen Augen eine beachtliche Leistung darstellte.

    Nachdem ich das Nicken von Mr Taylor erwidert hatte, kämpfte ich mich durch die Menschenmengen zur Startlinie. Ich würde mit einigen anderen Mädchen aus meinem Jahrgang laufen und nur eine von uns würde eine Förderung von einem Spezialtrainer und einen Platz beim wichtigsten Rennen erhalten: die Gewinnerin.

    Die Voraussetzungen waren für mich eigentlich nicht schlecht. Ich war ungefähr 1, 75 m groß, schlank und hatte eine gute Ausdauer. Eine Strecke von fünf Kilometern wäre da wohl kaum ein Problem. Gut, ein ganz kleines gab es: das Mädchen neben mir. Helen Clark. Genauso groß wie ich, wohlhabende Familie und ziemlich beliebt an unserer Schule. Dass das vermutlich an dem Geld ihrer Familie lag, musste ich niemandem sagen. Sollte ich noch auf dem neuesten Stand sein, befand sie sich derzeit in einer Beziehung mit Jason Taylor. Aber bei diesen Informationen konnte man nie sicher sein, ob sie noch aktuell waren. Der Kerl wechselte seine Freundinnen wie seine Unterwäsche.

    Doch das Hauptproblem bei ihr war, dass sie schon seit ihrer Kindheit von einem Privattrainer gefördert worden war. Allerdings hatte Helen kurz vor diesem Lauf beschlossen, dass dieser nicht mehr ihrem Niveau entsprechen würde. Helen würde also um einen besseren Trainer und die Qualifikation zum alles entscheidenden Lauf kämpfen - nicht um das Geld, welches sie sowieso schon im Überfluss besaß.

    Die übrigen Mädchen kannte ich nur vom Sehen und bei vielen reichte ein Blick auf ihre Haltung aus, um zu erkennen, dass sie keine Chance auf den Sieg haben würden. Der Lauf würde zeigen, ob sich mein Aufwand gelohnt hatte. Jeden Morgen war ich vor der Schule im Wald laufen gewesen und hatte es tatsächlich geschafft, jeden Tag etwas besser zu werden. Doch was half es mir, wenn ich heute versagte?

    »Hey, Joline«, trällerte mir eine hohe Stimme entgegen, nachdem die Startblöcke in Sichtweite geraten waren. »Was machst du denn hier? Das ist eine Laufbahn. Bist du sicher, dass du an diesem Ort richtig bist? Der Aufgang zur Tribüne ist gleich dort hinten.« Helen hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, das über beide Ohren reichte, deutete mit einem Finger in Richtung Tribüne und ihre funkelnden Augen sprachen Bände, für wen sie mich hielt. Ich war das Mädchen, das nicht in Geldscheinen badete und jeden Tag in einem neuen Outfit von Gucci erschien – oder wie auch immer ihre Markenklamotten heißen mochten. Für Helen war ich jemand, auf den sie hinabschauen konnte, um sich selbst besser zu fühlen. Sie sah mich an wie Jason.

    Diese plötzliche Erkenntnis ließ mich erschaudern und ich überlegte kurz, ob es das war, was mich an ihr störte oder ob es lediglich das dämliche Verhalten mir gegenüber war.

    »Ach, entschuldige. Ich vergaß! Du wolltest ja unbedingt zeigen, was es heißt, als Versagerin an dem Wettkampf teilzunehmen. Mach dir nichts draus. Es kann nur eine gewinnen und das wird niemand anderes sein als ich.« Die Sätze kamen viel zu selbstsicher aus ihr heraus, sodass ich mich zusammenreißen musste, keine Würgelaute von mir zu geben. Hörte das Mädchen sich selbst eigentlich einmal zu?

    »Trotzdem viel Glück, Joline. Vielleicht schaffst du es ja, nicht Letzte zu werden!«, schob sie noch mit einem übertriebenen Klimpern ihrer Wimpern hinzu, bevor sie sich theatralisch von mir abwandte.

    Kopfschüttelnd tat ich es ihr gleich und beschloss, ihre Aussagen kommentarlos im Raum stehen zu lassen. Ich war ohnehin aufgeregt genug. Da musste ich mich nicht noch durch solche sinnlosen Auseinandersetzungen vom Ziel ablenken lassen.

    Ich trug die Startnummer zwei, die gemeinsam mit den anderen Nummern vor mir auf einer großen Leinwand angezeigt wurde. Wir Engländer machten unserem Ruf, dass wir gerne Wetten abschlossen, wirklich alle Ehre. Denn diese Tafel stand dort bloß, um zu verkünden, wer der diesjährige Favorit war.

    Aufgeregt knetete ich meine Hände und hob den Kopf. Genauso neugierig wie alle anderen Personen, die sich im Stadion befanden, wartete ich das Ergebnis ab. Es musste jeden Moment verkündet werden, auf wen die meisten Leute bisher getippt hatten. Letzte Stimmen wurden allerdings noch abgegeben. Sobald das Startsignal ertönt wäre, würden keine Wettvorschläge mehr angenommen werden – zumindest nicht am offiziellen Schalter, der dafür zuständig war. Was unter der Hand alles stattfand, war kaum nachzuvollziehen.

    Viele Menschen aus dieser Stadt, unsere gesamte Schule, sogar umliegende Städte und Dörfer, waren gekommen und erwarteten voller Vorfreude die Siegerehrung dieses Laufes.

    »Meine Damen und Herren! Schön, dass ich Sie auch zu dem diesjährigen Lauf begrüßen darf! Die Spannung steigt und unsere Läuferinnen im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren haben sich nun an der Startlinie auf ihren Positionen eingefunden. In wenigen Minuten wird das Startsignal ertönen und Sie, liebe Eltern, Freunde, Sponsoren, scheuen Sie sich nicht davor, ihre Favoriten lautstark anzufeuern! Denken Sie daran: Nur eine von ihnen kann gewinnen. Nur eine von ihnen hat das Zeug dazu, das internationale Sportinternat zu besuchen! Bestimmt wollen Sie nun die bisherigen Ergebnisse unseres eifrigen Wettens sehen?«

    Ohrenbetäubende Schreie und ausgelassenes Gelächter ließen auf ein eindeutiges Ja schließen. Auch ich konnte kaum noch abwarten, auf wen die Leute dieses Jahr gesetzt hatten.

    »Okay. Dann lasst uns einen Blick auf die Anzeige werfen!«

    Nach und nach wechselten die Startnummern ihre Plätze und ordneten sich in der Tabelle neu an. »Oh, das sieht gut aus! Unsere Favoritin dieses Rennens ist … Helen! Jedoch nur knapp Joline überlegen. Es wird schon gemunkelt, dass es ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen diesen beiden Mädchen geben soll! Sehr ehrgeizige Sportlerinnen, die es offensichtlich verdient haben, einen Sponsor und einen vernünftigen Trainer zu erhalten, wenn Sie mich fragen.

    Aber genug von dem Gerede! Wir wollen die Mädels ja nicht ewig auf ihren Blöcken warten lassen! Seid ihr fertig?«

    Mein Herz raste, als ich mich auf die Laufbahn kniete und meine Finger noch fester auf den harten Boden drückte, sodass sie rot anliefen, damit man nicht sah, wie sehr ich zitterte. Kleine Steine bohrten sich schmerzhaft in meine Handflächen, wodurch meine Aufregung ein wenig abgeschwächt wurde. Nichtsdestotrotz nahm ich meine Umgebung schlagartig gar nicht mehr richtig wahr. Das Blut rauschte dermaßen laut durch meine Ohren, dass ich die Stimmen der Menschen nur noch gedämpft hörte und mein Puls raste.

    Ich konnte es gar nicht fassen, was durch den Lautsprecher soeben verkündet worden war. Es klang dermaßen unrealistisch und ich kam mir wie in einem zu guten Traum vor, aber es war die Wirklichkeit. Ich war eine der Favoritinnen. Die Menschen hatten auf mich gesetzt! Umso mehr musste ich ihnen nun beweisen, was ich konnte. Ich musste Helen schlagen!

    »Auf die Plätze!«

    Ich atmete tief ein und schloss kurz die Augen, dachte an all die harten Trainingsstunden und versuchte, ein schönes Bild in den Kopf zu bekommen, um mir Mut zu machen.

    Genug von Helen. Das hier war mein Lauf! Ich durfte mich nicht von ihr ablenken lassen, sondern musste mich jetzt auf mich selbst konzentrieren, musste einen klaren Kopf bekommen und …

    »Fertig …«

    Ganz ruhig! Ich war die Strecke bestimmt hundert Mal gelaufen. Es konnte gar nichts schiefgehen. Ich musste nur so laufen, wie ich es immer getan hatte. Hier war niemand. Keine Sponsoren, keine Freunde, keine Familie, kein Wettbewerb. Hier war nur ich und das hier, das war mein Rennen.

    Jeder Muskel meines Körpers spannte sich an, als ich mich ein Stück weit von dem Startblock aufrichtete und meine Füße fester in die Tritte presste. Pures Adrenalin durchströmte mich und das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte sich mit jeder Sekunde.

    Vor uns hatte sich ein Mann auf die Laufbahnen gestellt, die Arme über seinem Kopf erhoben. Bereit, sie jeden Augenblick über sich zusammenzuschlagen.

    Meine Lunge verengte sich unangenehm und nahm mir die Luft zum Atmen. Jede Sekunde baute sich mehr Druck in mir auf, sodass ich glaubte, diesem nicht mehr standhalten zu können. Aber ich schaffte es bestimmt. Es musste mir gelingen, als Erste durchs Ziel zu laufen.

    »Los!«

    Gekonnt drückte ich mich vom Startblock weg, richtete mich auf und lief los. All die in mir zusammengestaute Kraft entlud sich in Form von Energie und erleichterte mir das Rennen, sorgte für ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Beinahe hätte ich es als Fliegen bezeichnet, diese Welle der Freiheit, die sich über mir ergoss.

    Ein gelungener Start. Genauso hatte ich auch beim Üben begonnen, als ich meine Bestzeit gelaufen war. Der Wind blies mir ins Gesicht und erfrischte mich angenehm, meine Beine trugen mich, als würde ich über den Boden schweben und die Tribüne und das Stadion zogen an mir vorbei, sodass ich schon bald auf dem feuchten Sandweg des Waldes lief. Ein Schatten lief rechts von mir, links war niemand zu sehen, was darauf schließen ließ, dass es Helen sein musste, die da gerade seelenruhig an mir vorbeizog.

    Es kostete mich einiges an Konzentration und Nerven, um nicht wie ein kleines, störrisches Kind hinterherzurasen. Doch das konnte ich nicht. Ich musste mir, im Gegensatz zu ihr, die Kräfte einteilen, um lieber am Ende noch etwas rausreißen zu können.

    Zügig hatte ich meinen Rhythmus gefunden, war im Einklang mit der Umgebung, der Luft, hatte die perfekte Atmung gefunden und schon bald lief ich wieder direkt neben Helen.

    Meine Schuhe schmatzten laut auf dem zum Teil nassen Boden und übertönten damit die Geräusche der Natur. Das fröhliche Zwitschern der Vögel, das leichte Rauschen der Blätter und das tiefe Ein- und Ausatmen von Helen und mir.

    Obwohl mich ihr ganz anderer Takt hin und wieder durcheinanderbrachte, bog ich gut in der Zeit und zufrieden lächelnd fast zeitgleich mit Helen in die Zielgerade im Stadion ein.

    Die tobende Menge begrüßte uns sofort. Das aufgeregte Johlen, wehende Fahnen, Plakate mit unseren Namen und die Lautsprecheransage hießen uns willkommen, zeigten, dass es nun auf die letzten Meter ankam, wer gewann und wer verlor.

    Immer häufiger warf ich hektische Blicke zu Helen, die sich anscheinend gar nicht von mir beirren ließ. Egal, was um uns herum geschah, sie beachtete es nicht weiter. Ich hingegen konnte mich nicht von dem Trubel, der um mich herum herrschte, lösen.

    »Und da sind sie auch schon, unsere diesjährigen Favoritinnen! Es hat uns wirklich niemand zu viel versprochen, wenn man sich die beiden so ansieht. Man könnte doch glatt meinen, es sei nur ein Rennen zwischen diesen beiden Mädchen, nicht wahr? Und wer von ihnen wohl gewinnen wird? Es bleibt spannend bis zum Schluss, meine lieben Zuschauer!«

    Ich merkte, wie ich mich verschluckte und kurz unachtsam war. Wieder wertvolle Sekunden, die mir verloren gingen. Wehmütig beobachtete ich, wie das große, schlanke Mädchen mit Leichtigkeit an mir vorbeischwebte, immer der Ziellinie entgegen.

    »Oh, unglaublich! Helen zieht an Joline vorbei, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts Anderes gemacht, als zu laufen. Wahnsinn! Sehen Sie sich das an!«

    Ich wollte diesem dämlichen Pressesprecher nicht länger zuhören. Am liebsten hätte ich ihm einen zusammengeknüllten Zettel in den Mund gesteckt. Sollte er doch sagen, was er wollte, aber ich würde diesen Leuten zeigen, wer die wahre Siegerin dieses Laufes war! Dafür hatte ich mir schließlich meine Kräfte aufgehoben …

    »Und die letzten fünfzig Meter liegen vor ihnen. Joline muss jetzt nochmal alles geben, wenn sie nicht auf dem Trostplatz landen möchte! Und da …! Das ist unglaublich! Unglaublich, hören Sie!?«

    Mit großen Schritten holte ich wieder auf, immer näher kam ich an Helen heran. Sie schien mir zum Greifen nahe. Ihr blonder Zopf hüpfte vor mir munter auf und ab und strich über ihr weißes T-Shirt, das von hinten Schmutz des feuchten Sandes aufwies, der an ihr hochgespritzt war.

    Der Schweiß lief mir die Stirn hinunter, ich bekam Seitenstiche, atmete inzwischen stoßweise und nahm meine Umgebung nur noch verschwommen wahr.

    Der Jubel der Massen dröhnte weiterhin in meinen Ohren, wirkte auf einmal wie Gift auf mich. Ich wollte sie alle nicht mehr hören. Meine Augen wanderten über den roten Boden unter mir, der plötzlich gefährlich dicht schien und dann war der Spuk vorbei. Einfach so. Völlig unerwartet.

    ***

    »Und da haben wir sie! Die diesjährige Gewinnerin des Vorentscheids! Meine Damen und Herren, Familien, Freunde und Sponsoren! Hiermit gebe ich die Siegerin des Vorentscheids des ›Islandcountry-Rennes‹ bekannt. Und das ist niemand anderes als … lasst uns den Moment noch kurz genießen! Es ist … Helen Clark! Herzlichen Glückwunsch! Sie hat sich damit für die nächste Runde qualifiziert, bekommt einen Spezialtrainer und somit eine Chance auf einen Platz im besten Sportinternat des Landes!«

    Und damit war es vorbei. Einfach weg. Mein Traum vom großen Rennen. Mein Traum vom Sportinternat.

    »Joline konnte es leider nur auf den zweiten Platz schaffen. Aber meine Damen und Herren, schauen Sie sich die Zeiten an! Ein wirklich knappes Rennen, das …«

    Kraftlos gaben meine Knie unter dem Gewicht meines Körpers nach und ich sank hilflos auf den roten Boden nieder. Mein Atem beruhigte sich allmählich und von der vorherigen Aufregung fehlte jede Spur. Dennoch vernahm ich die Stimmen um mich herum lediglich als dumpfe Töne.

    Seufzend senkte ich den Kopf und schaute auf meine Knie, um welche ich bereits die Arme geschlungen hatte. Mein Hals brannte mittlerweile und schrie förmlich nach Wasser, aber ich hatte meine Flasche in der Umkleidekabine gelassen. Wem hätte ich sie auch in die Hand drücken sollen? Mich empfing anscheinend keiner nach dem anstrengenden Lauf mit offenen Armen und tröstete oder beglückwünschte mich wegen des zweiten Platzes. Meine Familie hatte der Wettkampf nicht sonderlich interessiert. Weshalb, waren sie sonst nicht erschienen und ließen mich alleine zwischen all den gaffenden Menschen?

    Was um mich herum geschah, war plötzlich nicht mehr wichtig und ich wollte den bemitleidenden Gesichtern mir gegenüber nicht länger ausgesetzt sein. Bloß weg von dem Gemenge – und das möglichst schnell.

    Mit letzter Mühe stemmte ich mich hoch und lief zum Gebäude zurück, aus dem ich vor nicht einmal einer Stunde gekommen war. Zu dem Zeitpunkt war noch alles möglich gewesen. Ich hatte Hoffnung auf den Sieg gehabt. Aber jetzt? Alles war verloren und das konnte ich einzig und allein mir selbst in die Schuhe schieben. Niemand außer mir hatte Schuld an meinem Versagen gegen Helen.

    Als ich die Tür öffnen wollte, klemmte das blöde Teil und nachdem ich noch heftiger am Türknauf zerrte – und schon zweifelte, den »Drücken«-Aufdruck überlesen zu haben -, flog sie mir beinahe ins Gesicht. Fluchend betrat ich die Umkleide und setzte mich zu meinen Sachen auf die Bank. Dort schlug ich die Hände vors Gesicht, aber keine Träne wollte aus meinen Augen entweichen.

    Ich wollte mich bewegen, schreien und all die Wut und Enttäuschung loswerden und gleichzeitig wäre mir nichts lieber gewesen, als in der Ecke zu sitzen und mich für mein Verhalten zu schämen.

    »Wow, du warst wirklich super! Toller Lauf. Ich gratuliere!«, meinte jemand, der zu mir in den Raum getreten war.

    Vorsichtig hob ich den Kopf und erblickte ein Mädchen, das etwas kleiner als ich war und das ich ebenfalls unter meinen Konkurrenten gesehen hatte. Ihre rötlichbraunen Haare hingen ihr rechts und links in kleinen, geflochtenen Zöpfen über den Schultern und wippten bei jeder Bewegung hin und her. Ihre ebenso braunen Augen waren neugierig auf mich gerichtet und auf ihrer etwas dunkleren Haut zeichneten sich noch letzte Schweißspuren ab.

    Schwach lächelnd schaute sie mich an und wartete geduldig auf eine Reaktion von mir.

    »Danke«, hauchte ich überrascht.

    Ich wusste selbst nicht, weshalb mich das Lob unerwartet erreichte. Sollte ich nicht stolz sein, dass ich es auf das Treppchen geschafft hatte? Gewiss waren über zehn Mädchen in meinem Alter angetreten und hatten denselben Traum verfolgt wie ich. Und ich hatte es immerhin unter die besten Drei geschafft. Sie hatte recht. Womöglich sollte ich das mehr wertschätzen und nicht den Kopf hängen lassen.

    »Bist du sehr traurig? Ich kann dich gut verstehen, aber als Zweite hast du trotzdem noch eine Chance, dich zum nächsten Lauf zu qualifizieren. Auf jeden Fall drücke ich dir ganz fest die Daumen! Ich werde unter den Zuschauern sein, wenn du das nächste Mal an der Startlinie stehst, und dich anfeuern«, bemühte sie sich weiterhin, mich aufzumuntern.

    Ein Lächeln entstand auf meinen Lippen. »Wie heißt du?«

    »Sanja. Nach deinem Namen braucht niemand mehr zu fragen. Du bist eine kleine Berühmtheit geworden, Joline! Entschuldige mich. Ich muss leider schon gehen. Meine Mutter hat noch einen wichtigen Termin am Abend. Man sieht sich bestimmt noch einmal, spätestens beim entscheidenden Rennen auf der Tribüne.«

    Ich war mir unsicher, was ich von dem Gespräch halten sollte, allerdings schenkte es mir neuen Mut. Andere ständen nun gerne an meiner Stelle und es gab sogar Mädchen wie Sanja, die mich bewunderten. Ja, ich hatte nicht gewonnen und das war ärgerlich, aber ich würde von nun an noch härter kämpfen, um zu erhalten, was ich mir erträumt hatte. Ich konnte es schaffen, sobald ich mit dieser Niederlage abgeschlossen hatte.

    Mit besserer Laune sprang ich von der Bank auf, schnappte mir ein Handtuch und Duschkram, um damit in den Waschräumen im Nebenzimmer zu verschwinden. Das warme Wasser lief meinen Rücken hinunter und löste die Verspannungen etwas auf. Obwohl es draußen nicht kalt gewesen war, hatte ich durch den Schweiß angefangen, zu frieren. Umso besser tat mir die heiße Dusche.

    Die Augen geschlossen, legte ich meinen Kopf in den Nacken und ließ das Wasser einfach über mich fließen – durch die Haare, über mein Gesicht, meinen Rücken, die Beine hinab. Glucksend verschwand es im Abfluss.

    Es ist nicht alles verloren, erinnerte ich mich immer wieder. Ich durfte jetzt nicht allzu enttäuscht sein. Es war okay, zu verlieren. Ich musste nur wieder aufstehen.

    ***

    Die Tasche war schnell gepackt. Ich hatte es erfolgreich geschafft, die Letzte zu sein, die diese Umkleide verließ. Schwermütig schulterte ich den Rucksack und wollte schon gehen, als ich ein weiteres Mal an dem Wandspiegel vorbeikam. Davor verharrte ich und mein Blick schweifte über meinen Körper.

    Genervt riss ich mir das Zopfgummi aus den Haaren, die inzwischen wieder trocken waren. Als ein welliger Haufen fiel mir das Knäuel den Rücken hinunter. Das sah doch scheußlich aus. Ich sah scheußlich aus.

    Mit grimmigem Gesicht musterte ich mich im Spiegel und wünschte mir, dass nicht ich hier stände und mir Gedanken über mein Aussehen machte, sondern Helen. Aber die war währenddessen bestimmt im Gemeindehaus eingetroffen, wo sie gleich ihre Urkunde und die Medaille in die Hände gedrückt bekam. Ich konnte mir richtig gut vorstellen, wie sie ihr gekünsteltes Lächeln aufsetzte, sich nach allen Richtungen für die Fotografen in Szene setzte und fantastische Interviews gab. Und das Schlimmste daran war, dass sie dies womöglich noch professioneller tat, als ich es je können würde. Vielleicht wäre der erste Platz gar nicht gut für mich gewesen und ich hätte nicht damit umzugehen gewusst. Im Gegensatz zu Helen wäre ich ernsthaft überrascht gewesen.

    Kopfschüttelnd löste ich mich von dem Abbild im Spiegel und rannte zur anderen Tür, die zum Inneren des Gebäudes und zum Flur führte. Ich schniefte und kramte mein Handy aus der Tasche meines grauen Pullovers, den ich übergezogen hatte. Zumindest Lisa wollte ich noch eine Nachricht zukommen lassen, wie das Rennen gelaufen war. Als meine beste Freundin hatte sie es verdient, das zu erfahren. Außerdem war sie die Einzige gewesen, die wirkliches Interesse gezeigt hatte, während ich ihr von meinen Plänen berichtet hatte. Dass sie nicht hatte kommen können, war nicht ihre Schuld gewesen.

    Ich verließ die Umkleide, darauf konzentriert, die Nachricht zu versenden und nicht auf irgendwelche Tasten zu kommen, die ich nicht berühren wollte. Dabei fand ich es nicht sonderlich wichtig, auf meine Umgebung zu achten. Es waren ohnehin fast alle gegangen, denn es hielt kaum jemanden in diesen Räumlichkeiten, wo doch ein paar hundert Meter weiter bereits die Siegerehrung vorbereitet wurde.

    »He, pass auf, wo du hinläufst!«, schimpfte jemand vor mir. Die Warnung erreichte mich allerdings zu spät. Ungebremst lief ich in die Person hinein und bemühte mich dabei lediglich, mein Handy vor dem Aufprall auf den Boden zu schützen.

    Als ich aufblickte, schaute ich in zwei kalte blaue Augen, die mir allzu bekannt vorkamen. Irritiert wanderten meine Augen über sein Gesicht zum Mund hinunter, bevor ich realisierte, dass ich selten einem Jungen derart nah gekommen war. Meine Hände lagen auf seinem Bauch, das Handy fest daran gepresst, damit es nicht hinunterfallen konnte. Ich konnte jeden Muskel unter seinem Top fühlen, was mich leicht verunsicherte. Unsere Gesichter trennten wenige Zentimeter voneinander und ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.

    Sofort fingen meine Wangen an zu glühen und ich stieß ihn mit verengten Augen von mir.

    »Normalerweise werfen sich mir Mädchen nicht so unangekündigt an den Hals.« Ein amüsiertes Grinsen deutete sich auf seinen Lippen an und ich ohrfeigte mich innerlich, abermals auf seinen Mund gestarrt zu haben. Hoffentlich war ihm das nicht aufgefallen!

    »Ich habe mich dir nicht an den Hals geworfen!«, stieß ich entsetzt und mit viel zu hoher Stimme aus. Was bildete dieser Idiot sich eigentlich ein?

    »Nicht? Na dann. Ich sollte froh sein. Hatte ohnehin keine Joline auf meiner To-do-Liste stehen.«

    »Du hast was?!«

    Ich glaubte, ich hörte nicht richtig. Dieser Typ führte eine Liste, mit welchen Mädchen er noch etwas starten wollte? Kein Wunder, dass mich mein Kopf bisher um Jason herumgeleitet hatte und damit um jegliche Probleme, die sich Herz oder Verstand verlieren nannten.

    Mit leicht geöffnetem Mund starrte ich ihn an. War das sein Ernst? Die Worte wollten nicht in meinen Kopf.

    »Kleiner Scherz am Rande«, erklärte er belustigt. Er musste meinen schockierten Gesichtsausdruck bemerkt haben.

    Ich schnaubte verächtlich. »Sehr lustig. Siehst du nicht, dass ich mich vor Lachen kaum noch halten kann?«

    Ohne darauf einzugehen, schob er mich mit einer Hand zur Seite, holte einen kleinen Schlüssel hervor und schloss die Tür hinter mir ab.

    »Weißt du, dass du das Allerletzte bist? Hat dir irgendwer schon einmal gesagt, dass du dich wie ein arrogantes Arschloch verhältst? Wieso kommst du nicht einmal von deinem hohen Ross herunter und benimmst dich wie ein normaler Junge in deinem Alter? Ach, ich vergaß! Du könntest dir die Schuhe schmutzig machen«, schimpfte ich drauflos.

    Ich musste meine Wut auf Jason endlich loswerden und Platz in meinem Körper schaffen. Wie lange war ich diesem Jungen schweigend aus dem Weg gegangen? Viel zu lange.

    »Nein, es war mir noch nicht bekannt, dass es arrogante Arschlöcher gibt. Vielleicht möchte ich gar nicht normal sein? Normal ist langweilig«, sagte Jason völlig ruhig und drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu mir herum. Nichts war darin zu erkennen.

    Ich wusste nicht, ob er sich gerade aufregte oder sich darüber lustig machte, was ich hier tat. Und das brachte mich fast um den Verstand. Er setzte jedoch noch einen obendrauf. »Und was das Pferd angeht … siehst du hier eines? Ich denke, die machen sich nicht so gut in Sporthallen oder Umkleidekabinen, was?«

    »Nein, vor allem sollte man mit einem Pferd nicht in der Mädchenumkleidekabine auftauchen!«, fauchte ich.

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