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Vergeben und Vergessen
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eBook267 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Hannah hat eigentlich alles, was zu einem perfekten Leben gehört. Sie ist jung, gutaussehend und hat einen tollen Job als Journalistin in einer kleinen Redaktion, wo sie ihren Kollegen, den ehrgeizigen und charismatischen Peter kennen und lieben lernt. Doch auf der Hochzeitsreise nach L. A. geschieht etwas, das ihr bis dahin so perfektes Leben vollständig aus den Fugen geraten lässt.
Auf dem Hinflug verliert Hannah plötzlich kurz nach dem Start das Bewusstsein. Als sie später in einem Krankenhaus aufwacht, ist sie zwar unverletzt, aber nichts ist mehr so, wie es war. Ihr fehlt seit diesem Vorfall jede Erinnerung. Hannah ist verzweifelt. Was ist geschehen? Die Ärzte schweigen und auch ihr Mann Peter weigert sich ihr die Wahrheit zu sagen.
Etwa zur gleichen Zeit irrt Max, ein bis dahin sehr erfolgreicher Schauspieler, verzweifelt durch die völlig zerstörten Straßen von L.A., in denen ein furchtbarer Tsunami vor kurzem seine Spuren hinterlassen hat. Er ist auf der Suche nach einer jungen Frau, die ihm, als die Katastrophe geschah, das Leben gerettet hat. Seit dem vergeht keine Sekunde seines Lebens, die er nicht an sie denken muss. Doch es scheint hoffnungslos. Max hat keine Ahnung, wie er sie finden soll – er weiß nur, dass er sie finden muss. Sein einziger Anhaltspunkt ist ein Name: Hannah!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Nov. 2015
ISBN9783738049152
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    Buchvorschau

    Vergeben und Vergessen - Jenny Kutzner

    1.

    Das Schwierigste bei dem Versuch die eigene Geschichte zu erzählen, ist wohl der Anfang.

    Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie und vor allem wann man beginnen könnte und ich habe lange vor einer leeren Seite an meinem Rechner gesessen, bevor ich endlich den Mut aufbrachte den ersten Satz niederzuschreiben. Ich verlor jedoch schon bald die Scheu vor dem jungfräulichen Weiß und meine Finger begannen immer schneller über die Tastatur zu rasen. Nach einigen Seiten zwang ich mich aufzuhören und las. Beim ersten Mal schien mir meine Geschichte auf den Punkt gebracht, beim zweiten Mal jedoch fand ich es schrecklich. So viele Worte, die nicht einmal ansatzweise beschrieben, was mit mir geschehen war.

    Für diese Geschichte, diesen kurzen Abschnitt meines sonst so behüteten Lebens, schien alles was vorher gewesen war ohne Bedeutung zu sein. Damals war mein Leben nahezu perfekt und nichts hatte darauf hingewiesen, dass sich das jemals ändern würde. Im Gegenteil – Peter, mein Kollege und noch viel wichtiger, seit fast drei Jahren mein fester Freund, hatte mir endlich einen Heiratsantrag gemacht und ich war überglücklich.

    Ja, das war ich wirklich, denn bereits bei unserer ersten Begegnung in der kleinen Redaktion meiner Heimatstadt war ich mir sicher, dass er in mein Leben gehörte. Er war charismatisch, gutaussehend und besaß diese Ausstrahlung, die man entweder liebte oder hasste. Ich liebte sie – ich liebte ihn!

    Peter war schon immer sehr impulsiv und wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte er seine Ideen kompromisslos durch. Ich glaube, dass ihn gerade diese Eigenschaft zu einem verdammt guten Journalisten machte, denn wenn er an einer Story dran war, dann vergaß er alles um sich herum, manchmal sogar mich. Es hätte alles so perfekt werden können. Wir hätten nach Monaten der Vorbereitung ein wunderschönes Kleid kaufen, eine köstliche Torte auswählen, die passende Lokalität zum Feiern suchen und uns in einem romantischen Schloss, im Beisein von Familie und Freunden, das Jawort geben können. Aber wie ich schon sagte, wenn Peter sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht so einfach wieder davon abzubringen und nun hatte er sich in den Kopf gesetzt, mich in Las Vegas zu heiraten. So kam es, dass wir uns nur knapp eine Woche nach seinem Heiratsantrag am Flughafen wiederfanden.

    Wir hatten uns ein Taxi genommen, das uns am Terminal absetzte. Es war noch früh am Morgen, trotzdem herrschte bereits ein reges Aufkommen. Es war laut und hektisch – nahezu im Sekundentakt donnerten die Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg. Das war nicht gerade die geeignete Umgebung für mich, um mein Unwohlsein und dieses Flattern in meinem Bauch in Schach zu halten. Es war nicht etwa die bevorstehende Hochzeit, die mir den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Im Gegenteil, ich war mir in meinem Leben noch nie einer Sache so sicher gewesen. Doch selbst mit diesem vorfreudigen Gedanken, schaffte ich es nicht meine Angst vor dem Fliegen zu vertreiben.

    Peter steckte dem Taxifahrer ein paar Scheine zu und kam dann mit unseren Koffern zu mir herüber. Wir stellten uns in die Schlange am Schalter und gaben unsere Koffer auf, besser gesagt, versuchten wir es. Denn während Peters Koffer ohne Beanstandung bereits auf dem Laufband in die tiefen Gefilde des Flughafens verschwand, weigerte sich die stark geschminkte Schalterdame meinen Koffer, der laut ihrer Waage drei Kilo zu schwer war, an Board zu verfrachten. Natürlich hätte sich dieses Problem mit einem kleinen Aufpreis aus der Welt schaffen lassen, doch Peter setzte lieber auf die Wirkung seines Charmes und warf ihr sein gewinnendstes Lächeln zu. Es schien zu funktionieren, unter ihrem pinkfarbenen Rouge begann tatsächlich eine natürliche Röte durchzuschimmern und sie ließ meinen Koffer weiterziehen. Von da an war es noch eine Stunde, bis wir an Bord gehen sollten. Eine Stunde, bis wir endlich durch einen dieser schmalen Gänge zu unseren Sitzplätzen gehen konnten und die Peter damit verbrachte, lauthals letzte Anweisungen für die nächste Ausgabe in sein Telefon zu diktieren. Eine Stunde, bis jeder seinen Platz eingenommen hatte und sich die Türen schlossen. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte, schaltete Peter endlich sein Telefon aus und die Stewardessen begannen mit ihrem kleinen Kabarett. Das Flugzeug stoppte ein letztes Mal, die Turbinen begannen zu heulen – und ich spürte, wie ich es ihnen gleich tat. Dicke Tränen begannen mir über die Wangen zu laufen. Ich starrte geradeaus und begann nach Peters Hand zu tasten. Als ich sie fand, hielt ich sie so fest, bis die Knöchel meiner Hand weiß hervortraten. Das Flugzeug fing mit zunehmender Geschwindigkeit an immer stärker zu vibrieren und das tiefe, monotone Brummen der Motoren wurde von einem nervenzerreißenden Kreischen abgelöst. Die einzigen Gedanken, die in diesem Moment in meinem Kopf herumschwirrten, galten sämtlichen katastrophalen Möglichkeiten, die dieses Flugzeug zum Absturz bringen konnten. Oh ja, ich habe Flugangst. Mein Atem und mein Herzschlag beschleunigten sich, als das Flugzeug begann sich von der Startbahn zu lösen und als es sich in die Luft erhob, hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl, dass beides aussetzen würde. Ich versuchte fieberhaft an etwas anderes zu denken, an etwas Schönes, an die Hochzeit mit Peter und als mir bewusst wurde, dass Peters Hand noch immer meinem eisernen Griff stand hielt, spürte ich, dass alles gut werden würde. Ich hatte auf einmal keine Angst mehr. Ich war schließlich viel zu jung um zu sterben. Mit dieser Erkenntnis begann ich mich zu entspannen. Ich schloss meine Augen, eine wohlige Wärme durchflutete meinen Körper und eine Woge aus Licht umhüllte mich. Dann war alles ganz still.

    Als ich meine Augen wieder öffnete, war plötzlich irgendwie alles ganz anders. Peter hielt zwar noch immer meine Hand, aber ich spürte weder die Vibrationen, noch hörte ich die Motorengeräusche des Flugzeugs. Doch vielmehr als das irritierte mich das Fehlen der Wärme auf meiner Haut und dieses sanften Lichtes. All das war nicht einfach nur verschwunden, es schien, als wäre es nie da gewesen. Ich versuchte zu sprechen, doch es kam nichts als ein leises Stöhnen aus mir heraus und auch als ich mich bewegen wollte, spürte ich einen eigenartigen ziehenden Widerstand. Es gelang mir mein Gesicht zu berühren und da war eine Art Maske, es musste eine dieser Sauerstoffmasken sein. Vielleicht hatte Peter sie mir aufgezogen, als ich bewusstlos geworden war.

    Ich packte sie und zog daran, doch ich bekam sie nicht ab, etwas hinderte mich daran. Als ich mich umschaute, sah ich, wie ein halbes Dutzend Menschen um mich herumstanden und begriff, dass sie mich festhielten. Wie konnte das sein? Ich saß doch in einem Flugzeug, das gerade dabei war abzustürzen! Also wieso lag ich? Und warum ließen sie mich nicht die Maske abnehmen? Auf einmal fingen die Menschen an wild durcheinander zu schreien und ich wurde schrecklich müde.

    Als ich wieder zu mir kam, stand ein Mann vor mir. Er war vielleicht Mitte fünfzig und trug eine Brille, über deren Rand er mich mit gesenktem Kopf anblickte. »Ich bin Dr. Miller. Sie sind hier in einem Krankenhaus. Ihr Mann hat sie zu uns gebracht.« Er löste seinen Blick von mir und schaute nach rechts. Ich sollte wohl seinem Blick folgen und das tat ich auch. Neben dem Bett standen kompliziert wirkende Maschinen, die für weiß Gott was gut waren. Eine davon war allerdings ziemlich selbsterklärend, sie besaß eine kleine Anzeige auf der Vorderseite, auf der eine zackige, rhythmisch durchgehende Linie dargestellt wurde. Etliche Kabel endeten darin, deren Anfänge vermutlich auf meinem Körper zu finden waren. »Ihr Mann ist hier. Er wartet vor der Tür.«

    Ich ließ meinen Blick von der Maschine, die meinen Herzschlag aufzeichnete, weiter durch das Zimmer wandern. Es war nicht sonderlich groß und ich schien die Einzige zu sein die darin lag, denn ich konnte keine weiteren Betten darin entdecken. Die Tür zu dem Zimmer war geschlossen. Dr. Miller und ich waren die einzigen Menschen in meiner kleinen Zelle. Auch wenn ich Peter hinter einer großen Glasscheibe sehen konnte, so fühlte ich mich dennoch verwirrter und isolierter als zuvor. Ich hatte meinen Kopf zur Seite gedreht und Tränen, die nun langsam in mir hochstiegen, liefen mir direkt ins Ohr.

    »Ich werde ihnen jetzt das Beatmungsgerät entfernen. Bitte einatmen und dann lang und tief ausatmen! «

    Das war es also – ein Beatmungsgerät. Ich wandte mich wieder Dr. Miller zu und tat wie mir geheißen.

    Ich atmete ein und als ich ausatmete spürte ich wieder diesen Schmerz in meiner Brust, dem dieses Mal allerdings ein Würgereiz und fast zeitgleich ein Hustenanfall folgten.

    »Hier, trinken sie das.« Dr. Miller reichte mir ein Glas und richtete mein Bett etwas auf. Ich musste noch etwas weiter nach oben rutschen, bis ich in der Lage war das Glas an meine Lippen anzusetzen, ohne dass ich etwas verschütten würde. Diese kleine Bewegung war seltsam und anstrengend, aber es tat gut zu sitzen und das kühle Wasser durch meine brennende Kehle fließen zu spüren. Ich trank bis zum letzten Tropfen in einem Zug aus. Dr. Miller nahm mir das Glas wieder aus der Hand und stellte es zur Seite.

    »Ich habe einige Fragen, die ich ihnen stellen möchte. Wenn sie etwas nicht wissen, dann ist das Ok. Lassen sie sich ruhig Zeit.«

    Wieso hatte dieser Mann Fragen an mich? Es kreisten so viele Gedanken und Fragen in meinem Kopf und ich wollte sie alle auf einmal loswerden, doch ich war nicht in der Lage all diese Fragmente in sinnvollen Fragen zu formulieren. Ich hatte plötzlich schreckliche Kopfschmerzen, ich wollte meine Ruhe und ich wollte Peter endlich sehen.

    »Wissen sie, wie sie heißen?«

    Was für eine blöde Frage – natürlich wusste ich, wie ich heiße. Aber würde ich es auch aussprechen können? Ich hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt. Die Fragen, die ich loswerden wollte kamen mir schließlich auch nicht über die Lippen.

    Die Abstände zwischen den Ausschlägen meines Herzens wurden auf dem Bildschirm immer kleiner.

    »Wie gesagt, lassen sie sich Zeit.«

    »Hannah« schoss es aus mir heraus und das stetige Piepsen des Gerätes wurde augenblicklich langsamer.

    »Mein Name ist Hannah.« Ich war mehr als nur ein bisschen erleichtert. Offensichtlich konnte ich noch sprechen.

    »Wissen sie, wo sie sind?«

    »Anscheinend in einem Krankenhaus.«

    »Wissen sie, wie sie hierher kamen?«

    »Sie sagten doch, dass Peter mich hergebracht hat.«

    »Gut.« Ein hoffnungsvolles Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das beweist schon mal, dass ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert und damit kann ich auch ein paar Fragen überspringen.«

    Er hatte ein Klemmbrett auf seinem Schoß liegen, auf dem er sich Notizen machte und fuhr währenddessen fort. »Welcher Tag ist heute?«

    Ich musste kurz überlegen und stellte fest, dass ich es nicht so genau wusste.

    »Entweder der 12. oder 13.«

    »Monat?«

    Ich war etwas verwundert aber Ok, er wollte bestimmt nur genau sein.

    »Juli. Der 12. oder 13. Juli.«

    Dr. Miller blickte von seinen Unterlagen auf und schaute mich über den Rand seiner Brille kurz an, bevor er weiter darin notierte. Ich nutzte meine Chance.

    »Wie ist es passiert?«

    »Wie ist was passiert?« Es ärgerte mich, dass ich nur eine Gegenfrage bekam. »Ich meine wie ist es abgestürzt? Hat man schon die Ursache herausgefunden?«

    Dr. Miller runzelte die Stirn. »Was ist das Letzte woran sie sich erinnern?«

    2.

    Es war ein strahlend schöner Tag, als Hannah im Krankenhaus erwachte. Doch davon bekam sie nichts mit und auch nichts von der ganzen Trauer, die weit weg von ihren eigenen Problemen ein neues Zuhause gefunden hatte. Dort, wo in der einstigen Metropole Los Angeles bis zum Tag der Katastrophe das Leben pulsierte, liefen nun Menschen still und entmutigt durch Straßen, die kaum noch als solche zu erkennen waren. Bürgersteige, noch vor kurzem zum Flanieren, zum Sehen und Gesehen werden genutzt, dienten dazu nun auf tragische Weise. Die angrenzenden Häuserwände wurden neu tapeziert und abertausende Gesichter lächelten den vorbeigehenden Menschen zu. Sie alle stellten ein und dieselbe Frage: Hast du mich gesehen? Für die meisten von ihnen sollte diese Frage unbeantwortet bleiben, nur sehr wenige konnten ihre Liebsten wieder in die Arme schließen. Aber genau der Wunsch, einer dieser Glücklichen zu sein, hielt die Menschen auf den Straßen, ließ sie Plakate kleben und Flyer verteilen, die mitfühlend betrachtet wurden, nur um kurz darauf mit einem Kopfschütteln und einem leisen »Tut mir leid!« ein paar Meter weiter zu den Millionen anderen auf die Straße geworfen zu werden. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, trotz seiner eigenen Verluste den Anstand aufzubringen, sich zumindest kurz die Gesichter der Gesuchten anzuschauen.

    Nur Max hatte davon wohl nichts mitbekommen. Er war Ende zwanzig, sah aber bereits viel älter aus. Seine Schuhe, robuste und für dieses Wetter viel zu warme Stiefel, sowie der untere Teil seiner Jeans waren bedeckt mit bereits angetrocknetem Schlamm. Sein ehemals weißes T-Shirt war eine Batik aus unterschiedlich großen und alten Schweißringen auf Brust, Rücken und unter den Armen. Sein Gesicht war von Schweiß, Dreck und der seit Tagen brennenden Sonne gezeichnet und seine grünen Augen, auf die er immer so stolz gewesen war, gruben sich tief in die Augenhöhlen. Nur unter dem Bart, den er früher als gepflegten Drei-Tage-Bart trug, hatte die Sonne noch keinen Schaden anrichten können. In den letzten Tagen hatte er sich kaum um seinen Körper geschert. Aber wer hatte das schon getan? Kurz gesagt, rein optisch hob er sich kaum von der Masse ab. Nur die Art und Weise, wie er durch die Straßen ging, ohne sich die Plakate an den Wänden anzuschauen oder einen Flyer zu nehmen, ohne mitfühlende Blicke oder tröstende Worte, ließ er die Menschen sich teils ungläubig, teils verständnislos nach ihm umdrehen. Es fehlte Max weder an Anstand noch an Mitgefühl. Anfänglich hatte auch er bei dieser Tragödie mitgespielt, nur irgendwann ertrug er es nicht mehr, immer nur den Kopf zu schütteln und er ertrug es auch nicht mehr, immer nur Kopfschütteln auf seine Fragen zu erhalten. Also hatte er damit begonnen die offiziellen Sammelstellen aufzusuchen und die immer länger werdenden Namenslisten durchzugehen, auf der Suche nach diesem einen Namen. Ein Vorname war alles was er hatte, was die ganze Sache nicht gerade vereinfachte.

    Die Sammelstelle war in einer ehemaligen Turnhalle errichtet worden und sie war eine der letzten, die er noch nicht aufgesucht hatte. Genauso zielstrebig wie er an den kauernden, weinenden und suchenden Massen vorbei gelaufen war, trat er nun durch die Tür in eine stickige, düstere Halle. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die plötzliche Finsternis gewöhnt hatten. Die Atmosphäre hier war ebenso bedrückend wie überall in der Stadt. Überall weinende Menschen und an den Wänden hingen die gleichen Plakate. Nur dass es hier Klappstühle und Feldbetten gab, die von den vielen freiwilligen Helfern in orangefarbenen Shirts provisorisch aufgestellt wurden. Er ging an den Sitzreihen vorbei zu einem Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Einganges. Man hatte dort Infobroschüren, Bibeln und anderes nützliches Zeug ausgelegt, das den Hinterbliebenen dabei helfen sollte mit ihrem Verlust umzugehen. Hinterbliebene - so wurden sie bereits von Freiwilligen, die nach den ersten Meldungen über den Tsunami aus dem ganzen Land herbeiströmten, genannt. Dieses Wort klang endgültig und für die meisten blieb es auch genau das. Der Tisch war es jedoch nicht, der ihn interessierte, sondern vielmehr die Pinnwände, die links und rechts davon hingen. Die linke trug die Überschrift „Überlebende, unter der die Namen aufgelistet waren von denen, die sich entweder direkt hier gemeldet hatten oder die in einem der Krankenhäuser lagen. Diese Liste ging er zuerst durch – doch nichts. Die rechte Pinnwand trug die Überschrift „Unbekannt und im Gegensatz zu der anderen standen dort keine Namen, sondern man hatte Polaroids von bewusstlosen Menschen, mit zum Teil schrecklich verunstalteten Gesichtern aufgehängt. Aber auch diese Wand konnte seine Suche nicht beenden, denn er wusste, was er jetzt zu tun hatte. Sein Blick ging zu einem jungen Mann hinter dem Tisch. Widerstrebend näherte er sich ihm. Er konnte den mitleidigen Blick in seinen Augen und einen kleinen Button auf seiner Brust mit der Aufschrift „Gott ist mit uns!" erkennen.

    »Ich würde gerne einen Blick auf die Liste werfen.« Der Mann kramte kurz unter dem Tisch und legte dann ein schwarzes Ringbuch vor sich auf den Tisch. Doch bevor Max es sich nehmen konnte, wurde er von ihm am Arm gepackt, mitfühlend und verständnisvoll natürlich. »Heute Abend findet hier ein kleiner Gedenkgottesdienst statt. Vielleicht möchten sie ja kommen. Beten und Gesellschaft können Wunder bewirken.« Während er das sagte, geschahen zwei Dinge. Zum einen legte der junge Helfer Max einen dieser „Gott ist mit uns"- Buttons in die Hand und zum anderen musste sich Max schwer zusammenreißen, um dem Gottesfürchtigen, der noch an Wunder glaubte, keine Hasstirade an den Kopf zu werfen. Er ballte die Hand, in die ihm der Button gelegt worden war zur Faust und nahm mit der anderen das schwarze Ringbuch. Es war schwer und fiel fast auseinander. Man hatte darin weit mehr Seiten hinzugefügt, als es eigentlich hätte tragen sollen. »Wenn sie damit durch sind, lassen sie es einfach liegen. Wir sammeln es dann wieder ein«, rief der junge Helfer ihm hinterher. Max ging zu einer Sitzgruppe aus Klappstühlen, die noch relativ leer war. Er setzte sich, legte das Ringbuch zur Seite und begann mit dem Button in seiner Hand zu jonglieren. Ihm kam der Gedanke, dass es zu einer Art Ritual geworden war und fast augenblicklich schleuderte er ihn weg. Er nahm sich das Buch, klappte es auf und begann die Liste durchzugehen. »Sie sind also auch der Meinung, dass die das Geld für die Buttons lieber in Scotch hätten investieren sollen.« Der Mann, der sich ihm näherte, war vielleicht Anfang sechzig. Er hielt ihm den verhassten Button hin und Max nahm ihn widerwillig zurück. »Ist es ihr Erstes?« Der Mann klopfte dabei auf ein Duplikat des Ringbuchs. Max holte Luft und wollte ihn eigentlich zum Gehen auffordern, stattdessen schüttelte er nur den Kopf. »Meines auch nicht.« Dabei öffnete der Fremde seine verschmutzte Jacke und entblößte darunter sieben verschiedenfarbige Buttons. Er setzte sich neben Max, holte aus seiner Innentasche einen Flachmann hervor und nippte daran. »Ein Vater sollte nicht in einem Buch voller Toter nach seiner Tochter suchen müssen.« Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. »Und wenn doch, dann zumindest nicht nüchtern.« Nach einem weiteren Schluck reichte er den Flachmann seinem Nachbarn. »Wie heißen sie, mein Junge?« Max zögerte, sowohl mit der Antwort, als auch damit ihm den Flachmann abzunehmen. »Max.« Der Alte nickte. »Ich bin Frank.« Max nahm ihm den Flachmann ab. Doch statt einen Schluck daraus zu nehmen, platzte eine Frage aus ihm heraus, ohne zu wissen, dass er sie überhaupt stellen wollte. »Warum tun sie sich das an?« »Nun ja, ich denke weil eine Wahrheit, die man nicht wahr haben will, nicht zur Lüge wird und weil mit dem Wissen um die Wahrheit der Heilungsprozess beginnt.« Max hatte sich bereits alle möglichen Antworten zurechtgelegt. Hauptsächlich weil er sich diese Frage seit langem selbst stellte und eine Antwort darauf finden musste, um nicht durchzudrehen. Doch mit dieser hatte er nicht gerechnet.

    3.

    Es war bereits über eine Woche verstrichen, seit ich im Krankenhaus aufgewacht war. Ich hatte Dr. Miller erzählt, wie Peter und ich das Flugzeug bestiegen hatten, um uns in Las Vegas das Jawort zu geben. Nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, bestätigte er

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