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eBook341 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Mit Klugheit und Zärtlichkeit spinnt Poiarkov ihre Erzählfäden und verbindet Alltag und Geheimnis, Erinnerung und Gegenwart zu einem wunderbar zeitgenössischen Roman.

Auf einem Flohmarkt findet Luise einen Wachszylinder, mit dem vor über 100 Jahren Ton aufgezeichnet wurde. Die Beschriftung nennt ein Datum: 1903, und den 2. Bezirk in Wien, wo auch Luise wohnt. Was sagt die ferne Stimme? Wie hören wir zu und was sind wir bereit zu verstehen? Diese Fragen begleiten alle Figuren: Luises Lebensgefährten, den Tonarchivar Emil, der es liebt, das Knacken des Eises und das Rauschen der Straßen aufzunehmen; ihren Freund Milan, der sich in Sehnsucht zur schönen Zorica aus Novi Sad verzehrt; ihre Freundin Julia, die sich mit ihrer alkoholkranken Mutter konfrontieren muss; und den alten Josef Grasl, Luises Vater, der die Stadt auf der Suche nach den Gespenstern der Vergangenheit durchstreift.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum14. Feb. 2017
ISBN9783701745456
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    Buchvorschau

    Aussichten sind überschätzt - Rosemarie Poiarkov

    7

    Teil 1

    Die Welt ist blau wie eine Orange

    1

    Kaum richtete ich mich ein wenig auf, um das Licht der Stehlampe auszuschalten, war Emil wach, den Blick auf das aufgeschlagene Buch in seinen Händen gerichtet, als hätte er die ganze Zeit über nichts anderes getan, während ich danebenlag, mit dem Rücken zu ihm, und sich Gedankennetze in meinem Kopf spannen, bei denen manchmal ganz plötzlich der Faden verloren ging und ein Bild auftauchte und wieder verschwand, sich wieder ein Gedanke in den Vordergrund zu schieben versuchte …, aber das Licht verhinderte die Momente direkt vor dem Schlaf, wenn sich alles mit allem zu verbinden begann. Ich legte meinen Kopf zurück auf das Polster und hörte zu, wie Emil gleichmäßig ein- und ausatmete, ein und aus, Emil war wieder eingeschlafen.

    Ich hatte schon geahnt, dass es ein Fehler sein würde, die Nacht vor dem Abflug nach Mexiko mit Emil in einem Bett zu schlafen. Natürlich konnte ich mich auch hinüber ins Arbeitszimmer legen, um am Morgen ausgeruht in den Flieger steigen zu können. Aber die nächsten zwei Wochen würde Emil einen Atlantik weit entfernt sein.

    Weil ich den richtigen Moment für gekommen hielt, beugte ich mich schnell über Emil hinweg, knipste die Lampe aus, küsste ihn auf die Wange und sog auf dem kurzen Weg zurück auf meine Seite den Schweißgeruch aus seiner Achselhöhle ein.

    »Jetzt schon? Ist es schon so weit?«, fragte Emil mit einer so wachen Stimme, als habe er nicht eben noch geschlafen, legte das Buch neben das Bett, drehte sich zu mir und umarmte mich.

    Emils Körper war heiß und schwer.

    Ich versuchte, mir Platz zu verschaffen und rückte das Stück von ihm weg, das möglich war, weiter ging nicht, weiter hieß an der Wand zu liegen. Emil seufzte und drehte sich, das untere Stück der Decke zwischen seine Beine klemmend, auf die andere Seite. Ich zerrte an der Decke, Emils Schenkel hielten dagegen, ich stemmte meine Füße gegen Emils Oberschenkel und zog so fest an ihr, dass es mich fast gegen das Fensterbrett geworfen hätte, als ich sie endlich freibekam. Emil seufzte wieder und legte sich auf den Rücken, wobei die Decke ganz von ihm abglitt.

    Durch Emils Körper ging ein Zittern. Emil brummte, kratzte sich und drückte seinen Fuß an meinen, die raue Haut seiner Fußsohle stach. Er murmelte etwas, wieder lief ein Zittern durch den Fuß, immer wieder würde es kommen, bis Emil wirklich eingeschlafen war, es schreckte mich auf. Ich legte mein Bein weg von seinem. Emil zog knatternd Luft ein und drehte sich murmelnd wieder zu mir, legte seinen Oberschenkel über meine Beine, seinen Arm um meine Hüfte, atmete in mein Ohr.

    Dann begann Emil zu schnarchen. Ich wartete kurz, ob er von selbst wieder aufhören würde, bevor ich ihn einmal, und dann noch einmal mit dem Ellbogen leicht in die Rippen stieß. Emil schnappte nach Luft, drehte sich auf den Rücken und warf dabei den Arm mit einer solchen Wucht nach hinten, dass es wehtat, als er meine Schulter traf.

    Emil war nur still, wenn er mit seinem Audiogerät aufnahm.

    2

    Als wir langsam auf die Startbahn rollten, wurde ich still. Ich freute mich darauf, dass das Flugzeug endlich Anlauf nahm, beschleunigte, abhob. Das Starten der Motoren. Das Rumpeln der Räder über den Asphalt. Wie es mich in den Sitz zurückdrückte. Schneller und schneller rollte das Flugzeug. Ein kurzer Moment der Stille, die Räder hatten sich vom Boden gelöst, und wir flogen.

    In Frankfurt saßen Marta, eine ehemalige Kollegin und mittlerweile Assistentin an der Universität Wien, und ich in einem Bistro im Transitbereich und tranken Kaffee. Wir waren unterwegs zu einer Konferenz zum Thema »New Perspectives on Using Creative Writing in Developing Language Proficiency«.

    Ich dachte an die Tabletten in meinem Rucksack, die mich vielleicht befreit hätten vom immer wieder auftretenden Zittern in meinem Kopf, das besonders stark wurde, wenn ich in einen der Glaskästen rauchen ging, aber sofort erinnerte ich mich wieder an die dümmliche Gleichgültigkeit, in die ich verfallen war, als ich vor Jahren, schon im Flugzeug, Beruhigungstropfen in mich hineingeschüttet hatte.

    Dass die Zeit am Flughafen anderen Gesetzen folgte, hatte ich vergessen. Mit fünf Stunden anstrengendem Warten hatte ich gerechnet, aber kaum hatten wir unseren Kaffee ausgetrunken, suchten wir unser Gate, fuhren mit der futuristischen Bahn zu den Sicherheitschecks, standen eng aneinandergedrängt im Shuttlebus, und dann war ich auch schon im Flugzeug, das ich mir möglichst leer gewünscht hatte, das aber voll belegt zu sein schien.

    Marta hatte ihren Sitz weit vorne. Mein Platz war im letzten Kabinenabschnitt in der Mitte zwischen zwei anderen Passagieren, in einer Reihe von sieben Plätzen mit zwei Gängen dazwischen. Auf der Blumeninsel vor dem Praterstern, an der ich meistens rechts vorbeifuhr, wenn ich nicht zur Post wollte, waren dunkelrote Tulpen in Reih und Glied gestanden. Vor mir war eine Wand. Das fleischweiche Zittern in meinem Kopf nahm wieder zu. Mein Kopf weigerte sich zu akzeptieren, dass er einen halben Tag, eingesperrt mit 300 anderen Leuten, in diesem engen Raum verbringen sollte, der mir nur auf den ersten Blick groß zu sein schien, weil ich noch die Bilder der schmalen Kabine von Wien nach Frankfurt in mir hatte. Was erzählt uns denn der Gesang der Wale? Nichts. Er erzählt uns nur etwas über die Menschen, hatte Emil gesagt. Und wieso eigentlich Tulpen? Es war Herbst. Ich rieb mit zwei Fingern den Scheitelpunkt am Kopf, massierte den Nacken genau zwischen den beiden Knochen, klopfte mit der Faust zwischen die Schulterblätter, riss für einen Moment die Augen auf und begann leise zu summen, riss für einen Moment die Augen auf, klopfte mit der Faust oben auf den Rücken, massierte den Nacken und rieb den Punkt am Kopf, an dem sich angeblich alle Linien des Körpers verbinden. Weil sich das panische Gefühl von unten, irgendwo von der Körpermitte her, nach oben zu arbeiten versuchte, begann ich noch einmal von vorne, rieb, massierte, klopfte, riss die Augen auf, summte, riss die Augen auf, klopfte, massierte und rieb. Und noch einmal. Ich war froh, dass Marta mich nicht sehen konnte. Die Blicke der Frau neben mir, die besonders das Summen zu irritieren schien, kümmerten mich nicht. Wir hatten schon abgehoben, das Brummen schien mir unerträglich, besonders wenn ich an seine Dauer dachte, den gesamten Flug lang, zwölf Stunden Dröhnen, wie sollte ich das ertragen? Wie oft war ich schon geflogen und doch vergaß ich nach jedem Flug wieder, wie laut es im Flieger gewesen war. Warum schien diese vehementen Geräusche außer mir niemand wahrzunehmen?

    Hinter mir begann jemand zu hecheln. Erst leise, ich massierte den Punkt am Kopf, dann lauter, ich legte meine Finger in den Nacken, schlug mir auf den Rücken, Hyperventilation, Panikattacke, was sollte es sonst sein?, ich summte Among Clouds, drehte mich mit Gewalt um, sah einen Mann im Anzug, der seine Krawatte gelockert hatte und starrte, drehte mich wieder nach vorne, wie viel Kraft so eine Drehung kostet, wenn jede Faser des Körpers zum Loslaufen bereit ist, sollte ich nicht aufstehen und zu dem Mann gehen, um gemeinsam zu reiben, zu klopfen, zu summen? Der Teil seiner weißen Brust, der über dem aufgeknöpften Hemd sichtbar war, flirrte vor Nässe. Alles andere an ihm schien staubtrocken, die schwarzen, kurzgeschnittenen Haare, die glatte Haut, der blaugraue Anzug. Jemand sollte ihm eine Flasche Wasser über den Kopf schütten. Warum hatte er keine Medikamente mit? Warum zoger für den langen Flug einen Anzug an?

    Die Menschen rund um mich herum taten so, als sei der schwitzende, hechelnde Businessman die erste Einstellung eines zu früh gestarteten Films, aber ich hörte das ängstlich missbilligende Murmeln, ich sah die verstohlenen Blicke in seine Richtung. Kinder waren keine in der Nähe. Kinder hätten laut gefragt, was denn mit dem Mann los sei. Die angezogenen Beine umarmt, den Kopf auf die Knie gebettet, verkroch ich mich in meinen Sitz, gegen das immer lauter werdende Keuchen, gegen das Flüstern rund um mich herum. Schlafen, schlafen, um dem Flug seine lauten, konturlosen Stunden zu nehmen, schlafen, um nicht mitzubekommen, wie nah ich mir war, wie weit weg dieses Ich, dieses Mich, wie weit weg, aber schlafen ist unmöglich, denn das Einschlafen ist ein Fallen, als würde mir alles entgleiten, als würde ich verrückt werden, als würde ich aus dem Flugzeug, von meinem Sitz verschwinden, nicht nach unten durch den dünnen Boden, sondern nach oben in einen Raum weit über den Wolken, als gäbe es nichts mehr außer mir, nur mehr ich ich ich ich ich, aber auf mich war kein Verlass mehr. Winzige scharfe Kristalle schießen durch meine weichen Adern, hör mir zu!, es wird dir nichts passieren, du fliegst nach Mexiko! Du fliegst auf einen anderen Kontinent! Freiheit! Österreich so weit weg wie nie zuvor! Du bist eingeladen! Hättest du dir das gedacht, dass du es als einfache Deutsch-als-Fremdsprache-Trainerin jemals so weit bringen würdest? Leuchtendes Seegras, warme Steine, im Süden riecht auch das Wasser. In Mexiko wird alles über mich herfallen. Durch das Meer zwischen hier und dort wird der Boden schwanken, und wo könnte ich mich anhalten? Im Wasser kann man nicht fallen. Das Rattern in meinem Kopf. Es rattert rattert rattert weiter rattert weiter, nimm mit, was war, vor wenigen Minuten erst, nimm es mit, keine Angst vorm Überdrehen. In Mexiko werde ich mich ebenso fremd verloren nicht mehr mit mir orientieren können. Das ist gut! Fass es in Worte! Weiter so. Und mach die Augen auf! Mexiko! In Mexiko ist es warm. In Wien ist es trüb und kalt, Herbst, viel zu viel davon, aber in Mexiko ist es warm und hell, die Sonne scheint den ganzen Tag! Sonne ist gut für viel Serotonin! Und was für einen wunderbaren Beruf du hast! Wenn du erst einmal drüben bist. Jetzt bist du hier. Im Flugzeug. Du musst die Augen aufmachen. Du musst hinsehen. Es ist nur ein Flugzeug. Fliegen ist viel sicherer als Autofahren. Es ist nur ein Flugzeug. Schau dir die Menschen an. Marta hat es doch auch gesagt. Marta hat doch gesagt, sie denke sich, sie brauche keine Angst zu haben, wenn die Menschen um sie herum ruhig sind. Die Menschen, wenn nur Marta mich jetzt nicht sieht. Wenn Marta mich sieht, ist es mir scheißegal. So viele haben Flugangst. Dröhnen sich halt zu. Eins zwei drei. Eins zwei drei. Und marsch. Das Handgepäck nach oben oder vor den Sitz. Die nasse weiße Brust. Die zerknitterte Krawatte. Das Meer! Das Meer! Mexiko ist so weit weg! Im Vergleich zu Neuseeland ein Katzensprung. Die Welt ist groß und du bist mittendrin. Der Mensch ist nicht fürs Fliegen geschaffen. Der Mensch ist auch nicht fürs Autofahren geschaffen. Und nicht für die U-Bahn. Wie sich alle gefürchtet haben, als die ersten Züge durch das Land rollten. Da konnte man die Fenster noch öffnen, wenn überhaupt Glas im Rahmen war. Da hat der Fahrtwind den Angstschweiß getrocknet. Wenn ich nur genügend Luft bekomme. Hier oben gibt es doch genug Luft? Aber sicher! Stell dir vor, du bist in einem Zug! Auch im Zug ruckelt es. Und das Schöne ist, du genießt die Ruckler und sogar die Absacker, kurz geht es hinunter, dein Bauch macht einen Sprung, du springst mit, unser Flugzeug wird wieder aufgefangen, fängt sich wieder von selbst. Das Dröhnen der Motoren ist besser als das Rattern im Kopf. Keinen Menschen in Mexiko interessiert, was Tschetschenen denken. »Mein Name ist Ahmed. Ich schreiben Geschichte.« Kein Mensch will Texte in einem solchen Deutsch lesen. Ich auch nicht. Den Fehlern Raum geben! Hervorragende Idee! Miss Diversity! Mit den Nerven, die das Buch gekostet hat, hättest du reich werden können. Leider war bei diesem Projekt von der Deckung der Unkosten nie die Rede. Serbinnen, Bosnierinnen, Kroatinnen. Und woher kommen die? Wird sich niemand zu fragen trauen. Wird auch niemanden interessieren. Vielleicht geht noch die Geschichte des Russen. Wer will schon nach Mexiko? Setz dich auf und schau dir die Menschen an. »Wenn ich nach Mexiko geflogen habe«, hatte irgendwer gesagt und irgendetwas in mir hatte so gezuckt, dass es wehgetan hatte. Dabei hatte ich damals noch keine Ahnung gehabt, dass auch ich einmal nach Mexiko fliegen würde, ausnahmsweise alle Unkosten gedeckt. Ich bin in einem Flugzeug. Ich fliege nach Mexiko. Keinen Menschen in Mexiko wird … Setz dich auf, steh auf und frag den Mann, ob du ihm helfen kannst. Und warum eigentlich ich? Hätte doch genauso gut wer anderer fliegen können. Unkosten alle gedeckt. Wer schlägt schon eine Einladung nach Mexiko aus? Steh auf und frag den Mann. Gib ihm dein Beruhigungsmittel. Und wie soll ich die Tabletten aus der Tasche nehmen? Ein Flugzeug ist ein Flugzeug ist ein Flugzeug. Die Angst wird vorbeigehen. Sie wird vorbeigehen. Du musst nur die Augen aufmachen. Oder lass sie zu. Ganz wie du willst. Irgendwann wird die Angst am Ende sein.

    3

    Es gab den 17-Jährigen, der jahrelang in Wien zur Schule gegangen war, und die 50-jährige Putzfrau, die ihre Hände nur mehr unter starken Schmerzen bewegen konnte; es gab die afghanische Schönheit und den russischen Alkoholiker; die junge, strenggläubige Ägypterin, die im Kurs versuchte, anderen Moslems das Lesen des Korans beizubringen, und den älteren Türken, der noch nie in einem Supermarkt einkaufen war; den 23-jährigen kroatischen Nationalisten und die 35-jährige serbische Hausfrau, die sich dafür schämte, nach so langer Zeit in Österreich so schlecht Deutsch zu sprechen; es gab immer das Klischee, und die Überraschungen gab es auch, und alles zusammenzuführen, die einen nicht zu unter-, die anderen nicht zu überfordern, die einen sich nicht dumm fühlen zu lassen und die anderen nicht zu langweilen, das hing an mir, hing oft an mir, auch wenn sich die Lernenden nach etwa einer Woche täglichen Unterrichts aufeinander eingespielt hatten, und die iranische Ärztin der thailändischen Friseuse, die gerade erst im Alphabetisierungskurs mit den lateinischen Buchstaben vertraut geworden war, bei der Lösung schriftlicher Aufgaben half.

    Im Deutschkurs, wenn bis zu 15 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in einem Raum saßen, passierte oft, worüber draußen auf der Straße, in Gaststuben, Büros, auf Symposien, im Parlament nur diskutiert wurde. Die einen unterstützten die anderen, Freundschaften zwischen Angehörigen verfeindeter Staaten wurden geschlossen; Reich oder Arm, Gebildet oder Ungebildet hob sich in diesen Stunden auf. Manchmal standen mir Tränen in den Augen, weil ich mich fragte, warum im Klassenraum möglich war, was draußen in der Welt undenkbar zu sein schien.

    Nicht wenige Lernende hatten sich geweigert, an dem Projekt teilzunehmen. Als sollten sie auf einer Stufe, die es zu überwinden galt, festgenagelt werden. Wenn ihr Deutsch doch nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Perfektion war. Würden ihre Texte gedruckt werden, würden sie diese für immer daran erinnern, wie hilflos, wie ungeschickt sie selbst einmal gewesen waren. Oder – aber das sprach niemand aus, weil es unmöglich zu sein schien – es würde ihnen zeigen, dass das Provisorium zum Dauerzustand geworden war.

    4

    Es ist ein so stiller Morgen. Obwohl der Frühling schon begonnen gehabt hat, ist heute alles voller Nebel.

    Der alles verstopft. Auch seinen Kopf.

    Wenn er doch sonst so im anbrechenden Tag landet, dass es immer und überall redet, in ihm und aus ihm heraus. Voller Stimmen sein Schlaf, traumlos oder nicht, fängt ihn der frühe Morgen mit leisem Rauschen auf, ein kurzer Augenblick, bevor Minka und Mauzi schnurren. Minka und Mauzi spüren, wenn er wach ist.

    Heute ist es still in Josef Grasls Kopf.

    So still, dass er Angst bekommt.

    Man weiß doch, wann alles still ist. Wenn man tot ist, ist alles still. Keine Ohren und kein Hirn mehr übrig, nichts mehr, eine Stille, die keinen Sinn mehr ergibt.

    Im Winter hat Josef das Fenster in der Nacht geschlossen, aber kaum wird das Morgenlicht wärmer, lässt er es offen. Die Frühlingsmorgen scheinen flüsternd zu singen. Die Vögel zwitschern, die Blätter tuscheln, die Autos auf der Straße sind unterwegs in einen warmen Tag. Josef liebt die Wärme. Je heißer, umso wohler fühlt er sich. Italien ist den meisten mittlerweile nicht mehr warm genug, also wird nach Thailand geflogen, aber kaum hat es in Wien mehr als 25 Grad, fangen alle zu schimpfen an.

    Josef kann es nie zu heiß sein. Für Josef gibt es bei Hitze nichts auszuhalten. Damals in Portugal hater viele heiße Tage erlebt. Damals in Portugal.

    Die heißen Tage in Wien werden jedes Jahr weniger. Aber wegfahren will er nicht mehr. Alleine kommt nicht in Frage, das war einmal, und wer fährt denn mit ihm? Er hat Luise und Leo gefragt. Und was haben sie geantwortet? Superidee! SUPERidee! Wie seine Kinder reden! Ihm hätte kein Lehrer solche Wörter durchgehen lassen! Fahr doch wieder einmal nach Portugal, da warst du doch schon lange nicht mehr! Du brauchst auch nicht alleine zu fahren. Es gibt Seniorenreisen, da könntest du dich anschließen. Mit einer Gruppe von Alten auf Urlaub fahren! Das schlagen ihm seine Kinder vor. Seine Kinder! Warum rauchen Sie denn so viel, wenn Sie es auf der Lunge haben? Warum trinken Sie so viel? Warum gehen Sie denn in die Sonne, wenn Ihnen doch so leicht schwindlig wird? O meu Portugal, o meu Portugal. Was wissen die, warum es ihm die Welt verdreht.

    Josef kann sich genau erinnern, wann er zum ersten Mal etwas gedacht hat. Zwei Jahre war er alt. Er weiß es noch genau.

    Chorar, weinen, chorar bem, weinen tut gut. Josef Grasl ist ein alter Mann. Er weint, wenn er will, er weint, wann er will, schaut her, ich weine, chorar de Portugal. In seinem Portugal sind die Menschen, die er gekannt hat, schon alle gestorben. Em casa, lieber zu Hause bleiben. Ihm verschlägt es so leicht den Atem. Die Scheißzigaretten. Dabei raucht er nur mehr leichte. Früher ist er auf die Hohe Wand und die Rax gewandert, ist mit dem Rad ins Waldviertel hinaufgefahren, bis zur Grenze, bis zum Eisernen Vorhang, da hat er wieder umdrehen müssen. Und immer hat er gearbeitet, keinen Tag in seinem Leben ist er arbeitslos gewesen. Zeitungen hat er ausgefahren, zehn Jahre ist er alt gewesen, hat er schon mit dem Fahrrad die Zeitungen ausgefahren. Und die zwölf Stunden in der Fabrik, das Geld hat natürlich seine Mutter genommen. Ist auch gegangen. Andere Zeiten sind es, sagt Luise. Ruhe soll er geben, wenn der Leo keine Arbeit hat. Die Stelle hat er noch, wenn er auch nicht mehr ins Büro fährt, ist er noch angestellt, aber er tut nichts mehr in der Firma. Keinen Tag ist Josef ohne Arbeit gewesen, 45 Jahre lang nicht, andere Zeiten, was für andere Zeiten? Um die Arbeit gehts immer, in welchen Zeiten ist egal.

    Heute Morgen steht der Nebel. Kein Schnurren. Die Katzen liegen nicht neben ihm.

    Der Schlaf ist wie ein Raum ohne Fenster gewesen, irgendwo in einem hohen Stockwerk, wo sich niemand mehr hinverirrt.

    Josef sucht die Katzen. Unter dem Bett, unter den Haufen im Schlafzimmer, unter der Couch, unter den zwei Fauteuils, auf dem Kamin, unter dem Fernsehtisch, hinter den Vorhängen, unter dem Klavier, unter dem Küchentisch, unter dem Regal im Badezimmer, im Schuhkasten, im Vorzimmer. Überall liegen Bücher, Zeitungen, Papiere und was nicht noch alles Katzen als Versteck dienen kann.

    Er schaltet das Radio ein.

    Die Musik und die Worte des Moderators verheddern sich in dem Kasten, hinaus zu ihm, hinaus ins Zimmer gelangen sie nicht.

    An diesem Morgen hat Josef auch nichts zu sagen.

    5

    Mit 16, 17 Jahren hatte ich die Existenz des amerikanischen Kontinents vehement in Frage gestellt. Das war mir etwa zwei Wochen vor dem Abflugtermin wieder eingefallen. Wie ich vor mehr als 20 Jahren argumentiert hatte, dass wir nicht wissen könnten, ob Amerika existiere. »Warst du denn schon einmal dort?« Und wenn jemand schon in Nord- oder Südamerika gewesen war, so hielt ich dem entgegen, dass so ein Flug leicht zu simulieren sei, man Bilder vor den Fenstern vorüberziehen lassen könne, so wie man das auch früher in Filmen gemacht habe. Der Unterschied sei einem erst aufgefallen, als man sich an die Aufnahmen von realen Straßen gewöhnt habe.

    Als ich in den letzten Wochen wieder und wieder erzählt hatte, warum ich die Reise nach Mexiko eventuell nicht antreten würde, hatten viele Leute den Kopf geschüttelt, und ich hatte mich bemüht, allen das Schütteln wieder auszureden. Mein erster Flug über den Atlantik, sagte ich. Zwölf Stunden Angst, sagte ich. Eine Woche ist den weiten Weg nicht wert, aber eine weitere Woche einfach so, ohne Arbeit und Kollegin dortbleiben? Nein, Emil würde nicht mitkommen, Emil interessiere sich nicht sonderlich für Mexiko und arbeiten müsse er außerdem. Vielleicht würde ich die Reise antreten, aber jedenfalls würde ich umbuchen und schon nach einer Woche zurückfliegen.

    Na ja, wenn das so ist, sagten dann die Leute, aber ich wusste, dass sie mit dem Kopfschütteln wieder anfangen würden, kaum saß ich nicht mehr neben ihnen.

    Und dann hatte plötzlich Milan gesagt, er würde für die zweite Woche nachkommen. Ausgerechnet Milan, der Österreich nur in Ausnahmefällen verließ. Der noch kein einziges Mal aus Europa herausgekommen war. Aber vielleicht eben deswegen, hatte ich mir gedacht. Wollte er mal weg, weit weg. Und Milan mochte dunkelhaarige Frauen. Mochte besonders kleine, dunkelhaarige Frauen. Ich kannte Milan schon lange, aber erst als wir uns nach Jahren zufällig wiedergetroffen hatten, war eine Freundschaft entstanden, die uns beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, immer wieder überraschte.

    Milan liebte das Fliegen. Nach seiner Zusage schickte er mir täglich Bilder von über den Wolken schwebenden oder auf der Startbahn glitzernden Flugzeugen (»Wir fliegen doch nicht direkt?«), von selig aus dem Bullauge blickenden Frauen in meinem Alter, von Tabletts mit Frühstück, Jause und Mittag- bzw. Abendessen, vom Anflug auf Großstädte in der Nacht (»Was kann es Schöneres geben?«), bis er sich ausführlichst entschuldigte, er könne wegen eines wichtigen Auftrags leider doch nicht mitfliegen. Immerhin musste ich mir so die Frage nicht mehr beantworten, ob Milan tatsächlich ein guter Reisepartner gewesen wäre.

    So direkt, wie auf Karten die Route eines Schiffes von Hamburg nach New York führt, würden wir über das Meer fliegen. Auf dem Globus ist die Ausdehnung des Atlantiks zwischen diesen beiden Punkten von erschreckend weitem Blau. Noch dazu liegt Mexiko in einer Art Riesenbucht, dem Golf von Mexiko. Wo Houston ist, unsere Umsteigestation auf dem Weg nach Guadalajara, hatte ich gar nicht erst nachgesehen.

    Um der Angst keinen Anlass zu geben, erneut zuzuschlagen, vermied ich den Blick auf den Monitor, auf dem zu sehen war, wo in der Welt wir uns gerade befanden.

    Denn die Angst hatte sich zurückgezogen.

    Die Motoren dröhnten in meinem Kopf, aber der Lärm bedrohte mich nicht mehr.

    Einer meiner kopfschüttelnden Bekannten hatte gesagt, das sei doch wunderbar. Dass ich noch Angst empfinden könne. Er habe schon lange nicht mehr so ein intensives Gefühl erlebt. In Gedanken zeigte ich ihm noch einmal den Mittelfinger.

    Ich war wieder frei. Aber ich traute dem Frieden nicht.

    Auf dem Weg zur Toilette wunderte ich mich, dass ich mühelos nach links, nach rechts, nach hinten, nach oben und unten schauen konnte, dass ich Schritt für Schritt meine Füße aufsetzte, obwohl mich nur wenige Zentimeter Boden vom Abgrund trennten. Wenige Zentimeter sind doch auch ein Blödsinn, dachte ich, als ich wieder auf meinem Platz saß. Das sind doch sicher Meter! Ist nicht der Gepäckraum unter uns?

    Als hätte sich die Angst verausgabt. Als sei sie müde geworden. Auch der hechelnde Mann im Anzug war eingeschlafen.

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