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Meine Leben: Erinnerungen
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eBook560 Seiten8 Stunden

Meine Leben: Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Edmund White verblüfft seine Leserschaft immer wieder mit neuen Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. In "Meine Leben" blickt der amerikanische Schriftsteller zurück auf die tragenden Säulen eines langen Lebens: "Meine Therapeuten", "Mein Vater", "Meine Stricher", "Meine Frauen" – in zehn Kapiteln findet er originelle und beileibe nicht immer schmeichelhafte Zugänge zu seiner Vergangenheit und erzählt weit mehr als nur die eigene Lebensgeschichte. Sein Vater ist ein gewiefter Geschäftsmann im Mittleren Westen, für den schon das Tragen einer Armbanduhr als unmännlich gilt; seine Mutter eine extravagante Kinderpsychologin, die ihren Sohn zum Test-Patient macht und nach der Scheidung in die intimsten Details
ihrer glücklosen Affären einweiht. Zwischen diesen ungleichen Polen wird der kleine Edmund hin- und hergeschubst – ein bebrillter, tuntiger Klugscheißer, der sein erstes selbstverdientes Geld für Stricher ausgibt.

"Meine Leben" führt die Leser tief in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, seziert auf dem Hintergrund biografischer Erfahrungen immer auch geschichtliche, philosophische und politische Aspekte der Wirklichkeit. Dabei kommt White der speziellen amerikanischen Lebensintensität so nah wie nie zuvor – und den Schutzmechanismen, die diese Intensität
manchmal erfordert. Ein gegen sich selbst und andere schonungsloses, pralles und kluges Buch.

"Das ist Whites bestes Buch … eine erstaunliche und wundervoll geschriebene Autobiografie, die einen großen Geist und eine großzügige, außergewöhnliche Persönlichkeit zum Ausdruck bringt." (The Independent)

"White beschäftigt sich hier, wie in vielen seiner Romane, mit dem Verrat: ob es möglich ist, sich selbst zu verraten, und ob es
möglich ist, andere Menschen nicht zu verraten; und wie, wenn überhaupt, diese Dinge zusammenhängen. (The London Review of Books)
SpracheDeutsch
HerausgeberAlbino Verlag
Erscheinungsdatum10. Juli 2021
ISBN9783863003302
Meine Leben: Erinnerungen

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    Buchvorschau

    Meine Leben - Edmund White

    MEINE SEELENKLEMPNER

    Als ich vierzehn oder fünfzehn war, Mitte der Fünfzigerjahre, sagte ich meiner Mutter, dass ich homosexuell bin: Das war das Wort, das man damals gebrauchte, homosexuell, in all seiner teuflischen Majestät, von Ätherdämpfen umweht, eine Mischung aus Krankheit und dem Bösen schlechthin.

    Gelernt hatte ich das Wort natürlich von ihr. Sie war Psychologin. Als ich noch klein war, hatte sie ein Teilzeitstudium in Kinderpsychologie absolviert und mit der Masterprüfung abgeschlossen. Und da ich nicht nur ihr Sohn war, sondern auch ihr bester Freund, vertraute sie mir alles an, was sie im Studium über mich, ihr persönliches Versuchskaninchen, erfuhr. So wurde ich zum Beispiel in einem «experimentellen» Kindergarten angemeldet, den Dr. Arlett leitete, die Mentorin meiner Mutter an der Abteilung für Kinderpsychologie der Universität von Cincinnati. Doch schon nach einem halben Jahr war Dr. Arlett der Auffassung, ich sei «zu altruistisch» für ihre Einrichtung. Ich wurde entlassen. Allerdings vermute ich, in Wirklichkeit irritierte sie meine merkwürdige Art, die Stimmungen der Praktikantinnen aufzugreifen, denen ich ein verlogenes, süßliches Interesse entgegenbrachte, wie ich es im Umgang mit meiner Mutter gelernt hatte. Ohne Zweifel war sie überzeugt, ich habe dadurch einen schlechten Einfluss auf die anderen Kinder. Doch meine Mutter, die allen offensichtlichen Indizien zum Trotz meine Laster als Tugenden und meine Niederlagen als Siege auslegte, befand, Dr. Arlett wolle in Wirklichkeit sagen, dass ich geistig viel zu fortgeschritten, mit anderen Worten, viel zu reif sei, um noch länger in den Niederungen meiner Altersgenossen zu versauern.

    Zur Belohnung kehrte ich in die Einsamkeit zurück. Wir wohnten in einem kleinen, gemieteten Tudor-Haus am Ende einer Straße. Meine ältere Schwester, die mich nicht leiden konnte, besuchte Miss Daughertys Töchterschule. Manchmal brachte sie Freundinnen mit nach Hause, aber sie durften nicht mit mir spielen. Ich spielte allein – oder redete mit meiner Mutter, wenn sie nicht in der Uni war oder lernte.

    Meine Mutter war ausgesprochen spirituell veranlagt, zumindest sprach sie oft von ihrem geistigen Leben und meinte, sie würde beten, auch wenn ich sie nie beten gesehen habe. Sie war in Texas als Baptistin erzogen worden, später jedoch zur Christian Science konvertiert, anfangs, um meinem Vater eine Freude zu machen, doch später aus wirklicher Verwandtschaft mit der Denkweise von Mary Baker Eddy. Wie Mrs. Eddy leugnete meine Mutter die Existenz des Bösen (außer in Gestalt der Geliebten meines Vaters) und dachte unglaublich positive Gedanken. Sie hing der pantheistischen, nahezu hinduistischen Überzeugung an, jedes Lebewesen sei heilig, und Gott sei eine Welle, die aus dem universellen Geist aufstieg und wieder dorthin zurückkehrte. Wenn meine Mutter verzweifelt war, was täglich vorkam, fand sie Trost in Bourbon und Mrs. Eddys Wissenschaft und Gesundheit und ihrem Schlüssel zur Heiligen Schrift. Mrs. Eddys feindliche Einstellung zur Medizin lehnte sie jedoch ab, als ein Ideal, das beim gegenwärtigen Stand unserer Unvollkommenheit ganz einfach unerreichbar war.

    In mir entdeckte sie Anzeichen einer großen Seele und einer sehr weit entwickelten Spiritualität.

    Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich sieben war. Es war gut, dass Mom einen Abschluss in Psychologie gemacht hatte, denn sie musste sich nun, im Alter von fünfundvierzig Jahren, eine Arbeit suchen, um die dürftigen Alimente aufzustocken. Sie arbeitete viele Stunden für wenig Geld als Psychologin im Öffentlichen Dienst von Illinois, dann in Texas, und schließlich wieder in Illinois; ihre Aufgabe war es, bei hunderten von Grundschülern Intelligenztests durchzuführen, und außerdem projektive Tests (Rorschach, Haus-Baum-Person) an Kindern, die im Verdacht standen, «verhaltensgestört» zu sein.

    Meinem Status als Versuchskaninchen entsprechend, wurde auch ich häufig diesen Tests unterzogen. Obwohl sie sonst zu Hause oft überreizt war, Wutanfälle und Weinkrämpfe bekam, wurde sie sofort ruhig und professionell, wenn sie einen Test durchführte. Ihre Hände führten besänftigende Gesten aus, als ob der Tisch zwischen uns ein Ozean des Geistes wäre, der beruhigt und dem Universum zurückgegeben werden müsste. Sie sprach mit gedämpfter Stimme und dem liebenswürdigen Tonfall einer Märchenerzählerin – «Also, Eddie, erzähl mir bitte, welche Bilder du in diesem Tintenfleck erkennen kannst.» Auch mich veränderte die Testsituation, sie verängstigte mich, denn ein psychologischer Test konnte wie eine Röntgenaufnahme oder Blutabnahme eine geheime Krankheit offenbaren: Feindseligkeit, Perversion, Wahnsinn oder, und das war das Schlimmste, niedrige Intelligenz.

    Ich war wohl ungefähr acht Jahre alt, als meine Mutter das erste Mal den Rorschach-Test an mir durchführte, denn es war im letzten Sommer, den wir in unserem großen, weitläufigen Ferienhaus am Mullet Lake in Michigan verbrachten. In die Armut zurückgeworfen, verkaufte sie das Haus für den enttäuschenden Betrag von vierzehntausend Dollar. Ich glaube, sie wollte mich, oder sich selbst, damit beeindrucken, dass sie mitten im emotionalen Durcheinander unseres alltäglichen Lebens die wissenschaftliche Genauigkeit aufbrachte, die die professionelle Durchführung des Tests verlangte.

    Sie notierte alles, was ich in den verschiedenen Tafeln erkannte, und wo genau in einem Tintenfleck ich ein Grabmal oder einen Diamanten entdeckte. Danach zog sie sich für einige Stunden zurück, um ihr dickes, dunkelblau eingebundenes Deutungshandbuch mit dem tiefroten Etikett zu Rate zu ziehen. Ich hatte Angst vor den Resultaten, die ebenso absolut und unumstößlich in ihrer Objektivität wie geheimnisvoll in ihrer Codierung waren.

    Meine Mutter war geradezu begeistert, als sie herausfand, dass ich eine «Borderline-Störung» mit «starken schizophrenen Tendenzen» habe. Meine Unfähigkeit, in den Tintenklecksen irgendwelche menschlichen Formen zu sehen, war anscheinend der aussagekräftigste Hinweis auf meine Geisteskrankheit. Ich sah immer nur Juwelen und Grabsteine.

    Unklar blieb dabei jedoch, ob ich unausweichlich über die Grenze zur ausgewachsenen Psychose hinübergleiten würde, oder ob dieser Prozess umkehrbar war. Offenbarte der Rorschach-Test mein Wesen oder meine Zukunft? Würde es bergauf oder bergab mit mir gehen?

    Wie geisteskrank ich auch immer gewesen sein mag, ich bekam in der vierten Klasse weiterhin in allen Fächern gute Noten, mit Ausnahme der Mathematik. Wir waren zu oft umgezogen, als dass ich genügend zusammenhängende Mathestunden hätte besuchen können. Das einzige erkennbare Zeichen meiner Verrücktheit mag vielleicht meine Begeisterung dafür gewesen sein, im Theater den König zu spielen. In der dritten Klasse in Dallas spielte ich die Hauptrolle im Theaterstück Der Paradiesvogel, das ich selbst geschrieben, dessen Plot jedoch bei Maeterlinck geklaut hatte – mein erstes literarisches Werk war ein Plagiat. Meine Mutter besorgte mir aus einem Kostümverleih eine goldene, juwelengeschmückte Krone, ein blaues Samtwams und weiße Kniehosen.

    Als ich elf Jahre alt war, lebten wir ein Jahr lang im Faust Hotel in Rockford, Illinois, einer finsteren Industriestadt, in der meine Mutter als Psychologin im Öffentlichen Dienst arbeitete. Aus irgendeinem Grund kam sie zu dem Schluss, dass die staatliche Schule vor Ort für meine Schwester gut genug war, aber nicht für mich, eine Entscheidung, die ihr meine Schwester bitter übelnahm. Ich kam auf die Keith County Schule, die kleine Klassen hatte – nicht mehr als vierzehn Schüler. Einer meiner Freunde war Arnold Rheingold, vielleicht der erste Jude, den ich kennengelernt habe. Sein Vater war Psychiater. Wenn ich bei Arnold zum Abendessen war, beeindruckte mich der Respekt, den die Eltern ihrem Sohn entgegenbrachten, nur deshalb, weil er ein Junge war. Und ich war eingeschüchtert von Arnolds Vater, dem ersten Mann, den ich traf, der Bücher las und nach neuen Ideen suchte, statt immer nur die altbekannten zu predigen. Dass er Migräne bekam und sich dann nach dem Essen in sein verdunkeltes Arbeitszimmer zurückzog, schien mir der glamouröse Preis zu sein, den er für ein geistiges Leben zu zahlen hatte.

    Wenig später schrieb ich ein weiteres Theaterstück, Hektors Tod, in dem ich selbst als der tragische Held auftrat. Mein bester Freund, eine hübsche Sportskanone, spielte die fast stumme Rolle des sadistischen Achilles, der mich tötete und danach, in radikaler Abwendung von der klassischen Tradition, mit lautem, wortlosem Jammern meinen Tod betrauerte, bevor er, wenig plausibel, meine Leiche entweihte, indem er sie hinter seinem Streitwagen um die Stadtmauern von Troja schleifte, was hinter der Bühne geschah und als Fensterschau von einem schwerfälligen, talentlosen Chor vorgetragen wurde, einem übergewichtigen Mädchen, mit dem ich befreundet war. Mein blonder Achill mit den leeren Augen, der mich im wirklichen Leben stets nur verständnislos und etwas dümmlich angaffte, hatte ein recht ordentliches Spektrum großer Gefühle zu bewältigen. Ich brachte ihn dazu, errötend seinen schönen blonden Kopf zu senken.

    Wenn ich in Texas mit meinen zwei Cousinen Theater spielte, oder später mit Freunden in Ohio oder Illinois, hatte ich immer nur eine Konstellation im Kopf: König und Sklave. Wie schon Jean Genets überkandidelten Dienerinnen in Die Zofen war es mir ziemlich egal, welche Rolle ich spielte, solange dabei das Drama von Herrschaft und Unterwerfung aufgeführt wurde. Wenn meine Cousinen Sue und Jean anfingen zu kichern und nicht mehr bei der Sache waren, machte ich sie kurzerhand zu Königinnen und ließ sie ihren feierlichen Einzug halten. Ich verbeugte mich unterwürfig mit viel Brimborium, als stillen Vorwurf, dass sie sich nicht dienstfertig genug verhalten hatten. Ich hoffte, sie würden verstehen, worauf ich hinauswollte, aber sie haben die Größe dieses Rituals wohl nie richtig verstanden.

    In der sechsten Klasse spielte ich in Evanston, Illinois, einen schwachen, fast hysterischen König Charles vor einer knabenhaften Jeanne d’Arc, dargestellt von meiner Freundin Anne Miner, die eine aufregend heisere Stimme hatte und sich mir gegenüber forsch wie meine große Schwester aufführte; sie wäre gewiss auch bestens für die Rolle der Wendy in Peter Pan geeignet gewesen.

    Im selben Sommer schrieb ich im Ferienlager Towering Pines bei Racine, Wisconsin, meine eigene Version von Boris Godunow und spielte die Titelrolle. Mein Kaisermantel war die steife rote Wolldecke der Hudson Bay Company, die meine Mutter mir gekauft hatte, um mich in den kühlen Sommernächten warmzuhalten. Meine Inszenierung fasste die Krönungsszene aus dem Prolog und die Wahnsinnsszene des Vierten Akts zusammen.

    Das Muster wird deutlich: Ich wollte König sein, aber ich musste auch sterben, in Wahnsinn verfallen oder für meine Überheblichkeit gedemütigt werden. Es war dasselbe Muster wie das der queeren Romane der Fünfzigerjahre, von denen ich damals jedoch noch keinen gelesen hatte. Ich kannte nur eine einzige homosexuelle Lebensgeschichte, und zwar das Leben Nijinskys, der wahnsinnig geworden und dann verstummt war. Meine Mutter, die möglicherweise sowohl hoffte als auch fürchtete, mir möge ein außergewöhnliches Schicksal widerfahren, hatte mir seine Biografie gegeben, als ich neun oder zehn war.

    Von nun an tauschten Lehrer und Betreuer im Ferienlager über meinen Kopf hinweg – und den meiner Mutter, die nur einen Meter fünfzig groß war – leidende Blicke aus, wenn ich vorschlug, weitere Königsdramen mit mir als König aufzuführen; meine Mutter hatte jedoch zum Glück nicht die geringste Ahnung, dass mein Weg zum Erfolg nicht von allen Seiten bewundert wurde. Als eine andere Mutter ihr gegenüber betonte, ihr Sohn möge ein weniger guter Schauspieler sein als ich, aber er habe auch nie irgendeine professionelle Ausbildung erhalten, verkündete meine Mutter stolz: «Das hat Eddie auch nicht! Er verfügt über keinerlei Ausbildung!» Als wäre dies das glänzendste Enkomium.

    Im selben Sommer, dem Sommer des Boris Godunow, als ich in meine Decke gewickelt dem Geist des Zarewitsch, den ich ermordet hatte, entgegentorkelte, während die Glocken des Kreml läuteten und Ivan Kipnis Mussorgskis Monolog halb sang und halb deklamierte, hatte ich im Ferienlager mein erstes sexuelles Erlebnis, oder besser gesagt, ich leckte zum ersten Mal einen Penis, der nicht mein eigener war. Ich formuliere das so umständlich, weil es zuvor mit meinen Freunden in Evanston nichts als endlose Rangeleien gegeben hatte; danach, wenn ich allein war, hatte ich meinen eigenen Penis geleckt, indem ich mich nackt auf den Rücken legte und die Beine über den Kopf warf, als wollte ich einen Salto machen. Indem ich den Kopf von der Matratze nach oben reckte und das Becken mit den Händen herabzog, gelang es mir, mit der Zunge leicht über die Eichel zu fahren und den einen klaren Tropfen aufzufangen, der genauso klebrig, wenn auch nicht so süß war wie der Nektar, den ich so gern aus der Blüte der Heckenkirsche herauspresste. Nachdem ich im Lager einmal lang und heftig einen müffelnden, großen Teenagerschwanz gelutscht hatte, quälte ich die Leitung der Theatergruppe nicht länger mit meinem Wunsch, selbstmörderische Monarchen zu spielen. Ich hörte auf, andere mit meinen Inszenierungen von Herrschaft und Unterwerfung zu drangsalieren, denn ich hatte entdeckt, was mich am glücklichsten machte: freiwillig zu dienen, unter jemand anderes Zepter.

    Glücklich? Das ist nicht das richtige Wort.

    Vorherbestimmt und getrieben. Erniedrigt. Verhext. Vielleicht kommt das der Sache näher.

    In einem der psychologischen Handbücher meiner Mutter las ich einen langen Eintrag über Homosexualität, von dem ich nur wenig verstand. Immerhin begriff ich so viel, dass die erwachsene Homosexualität eine tief verwurzelte Ich-Störung war, die durch einen unaufgelösten Ödipuskomplex verursacht wurde, dessen sekundäre narzisstische Belohnungen schwer zu unterbinden waren; andererseits durchläuft jedes Individuum, jeder Junge in der frühen Adoleszenz eine homosexuelle Phase, die vollkommen normal ist, ein kleiner Strudel um die Skylla oraler und die Charybdis analer Freuden, bevor man die sonnenbeschienenen ruhigen Fahrwasser des reifen heterosexuellen Genitalsex erreicht. Ich konnte nur hoffen, dass ich gerade eine Phase durchlief.

    Ich loderte vor sexuellem Verlangen und suchte überall nach möglichen Partnern. Dieselbe manische Energie, die ich im Inszenieren sterbender Könige an den Tag gelegt hatte, verwandte ich nun auf die Trophäenjagd. Ich machte die Toiletten der Hochbahnstation Howard Street unsicher, dort, wo die Grenze zwischen Chicago und Evanston verlief. Einige Männer erlaubten mir, sie zu berühren, und zweimal nahm mich ein Mann in seinem Auto voller Kinderspielzeug mit zum Strand. Ich war nicht hässlich, aber ich war minderjährig, und selbst für einen Teilzeithomosexuellen war das Leben in der Eisenhower-Ära nicht leicht.

    Ich hatte ein starkes Bedürfnis, meine Partner zu verraten. Im Ferienlager Towering Pines ließ ich zu, dass mich ein älterer Junge «hypnotisierte» und dann meinen Mund auf seinen Penis drückte, doch ich konnte nicht widerstehen, meiner Mutter zu erzählen, was er «versucht» hatte; sie war offiziell die Psychologin des Lagers. Hoffte ich damals, die Schuld an diesen ungesunden Begierden und Handlungen jemand anderem zuschieben zu können? Oder hoffte ich nur, damit Aufsehen zu erregen und für Unruhe zu sorgen? Oder wollte ich meine Mutter auf Handlungen aufmerksam machen, die mich in Angst und Schrecken versetzten, sobald ich ejakuliert hatte? Oder war ich wütend auf diese jungen Männer, weil sie mich nicht so sehr liebten, wie sie mich begehrten? Wenn sie mich liebten, hätten sie doch versucht, mit mir durchzubrennen, oder etwa nicht? In Wirklichkeit wollte ich Liebe, aber ich glaube, es war ungefähr so leicht, mich zu lieben, wie ein Stachelschwein in den Arm zu nehmen.

    Meine Mutter schickte mich zu einem freudianischen Psychiater in Evanston zur Untersuchung. Ich hatte gerade Oscar Wilde gelesen und war fest entschlossen, so kühl und überlegen zu sein wie seine Figuren. Ich saß auf der Stuhlkante, hektische rote Flecken auf den Wangen, und quasselte ohne Punkt und Komma über meine Verfassung, meine Krankheit, die ich ebenso wenig verteidigen konnte wie Oscar Wilde. Alles, was er oder ich zu bieten hatten, waren Trotz und Unverschämtheit. Was konnten wir schon tun, wenn wir von einem Staatsanwalt oder einem Psychiater festgenagelt wurden – etwa das Recht auf Homosexualität einfordern? So schlau war keiner von uns beiden. Keiner von uns war in der Lage, über den Horizont unseres speziellen geschichtlichen Moments hinauszusehen, besonders ich nicht, der ich als Amerikaner in den sedierten Fünfzigerjahren im Grunde gar nicht an so etwas wie Geschichte glaubte. In unseren Augen war Geschichte durch Natur ersetzt worden. Was ich tat, war gegen die Natur und ihre Gesetze.

    Der Psychiater sagte meiner Mutter, ich sei «nicht zu retten». Man sollte mich einschließen und den Schlüssel wegwerfen. Meine Mutter konfrontierte mich sofort mit diesem strengen, furchteinflößenden Urteil, und ebenfalls meinen Vater, obwohl ich sie gebeten hatte, es nicht zu tun. Natürlich waren weder sie noch ich in der Lage, seine Diagnose als gefährliches engstirniges Vorurteil eines banalen kleinen Vorstädters im braunen Anzug abzutun. Nein, sie kam von einem Arzt und war ebenso unumstößlich wie die Diagnose von Diabetes oder Krebs. Wie gebildet oder menschlich der Mann war, spielte keine Rolle.

    Meine Mutter war mit einer etwas jüngeren Frau namens Johanna Tabin befreundet, die bei Anna Freud in London studiert und sich als Psychiaterin in Glencoe niedergelassen hatte. Wir besuchten sie, ihren Mann und die zwei Söhne manchmal in ihrem großen Haus in der Vorstadt, oder sie kamen in unsere Wohnung am See. Sie verkörperten alles, was wir uns wünschten – Wohlstand, ruhige Intelligenz und Ansehen, gesellschaftliche und berufliche Bedeutung und eine liebende Familie. Johannas Ehemann Julius war Kernphysiker und arbeitete als Patentanwalt für Erfindungen auf dem Gebiet der Nukleartechnik.

    Johannas Söhne waren ein paar Jahre jünger als meine Schwester und ich; ihre Mutter behandelte sie mit größtem Respekt. Wann immer sie etwas sagten oder ihr eine Frage stellten, schenkte sie ihnen ihre volle Aufmerksamkeit, selbst wenn sie gerade mit meiner Mutter telefonierte. So viel Nachsicht war sehr ungesund, entschied meine Mutter, sie lehnte das ab und nahm es ihrer Freundin übel. Doch Johanna war hartnäckig. Sobald im Hintergrund ein Geräusch zu vernehmen war, legte sie den Hörer beiseite und sagte: «Ja, mein Schatz, ich höre zu. Was ist denn, mein Liebling?» Mit derselben Aufmerksamkeit analysierte sie ihre Träume und Spiele. Ich erinnere mich, wie Geoffrey, der jüngere Sohn, immer wieder ein Lied über herumwirbelnde Steppenläufer sang, das er sich selbst ausgedacht hatte. Sie beschloss, dass er der kleine Steppenläufer war, vor dem sein Vater, das große Pferd, furchtsam zurückscheute – das ganz normale Bedürfnis, den Patriarchen zu erschrecken, sagte sie mit glücklichem Lächeln.

    Ich fand es schade, dass meine Mutter viel zu selbstbezogen war, um mein Verhalten jemals so geistreich zu interpretieren, und falls doch, dass sie Anzeichen von Widerstand niemals ermuntert, sondern unterdrückt hätte. Heute verstehe ich, dass sie ganz allein auf der Welt war, arm, überarbeitet und durch die Zurückweisung durch meinen Vater zutiefst verletzt. Obwohl sie uns die drei Musketiere nannte, waren wir in Wirklichkeit schmerzlich voneinander isoliert. Meine Schwester war fest überzeugt, dass meine Mutter und ich peinliche Freaks seien; sie selbst war unbeliebt und igelte sich ein. Dass ich ein schräger Vogel war, traf offensichtlich zu. Und meine Mutter fühlte sich nur dann ruhig, souverän und professionell, wenn sie einen Test an einem Kind durchführte.

    Auf Johannas glückliche Ehe muss sie eifersüchtig gewesen sein, denn sie sammelte begierig alle Hinweise darauf, dass ihr Zusammenbruch bevorstand. «Arme Johanna», sagte sie, «die arme Kleine wird von Julius schrecklich vernachlässigt. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass er sich von ihr trennt.»

    Trotz dieser harten Vorhersagen blühte und gedieh Johannas Ehe, ihre Karriere stieg in immer höhere Höhen, ihr Ehemann wurde immer erfolgreicher, und ihre Söhne wurden immer klüger. «Arme Johanna», heuchelte Mutter. «Sie vergräbt sich in ihre Arbeit, weil sie die Ehe so unglücklich macht.»

    Am meisten wunderte mich, dass Johanna so unbeirrt an der Freundschaft zu meiner Mutter festhielt. Verfügte meine Mutter über geheime Vorzüge? Ich hatte mich schon einmal sehr gewundert, als ich die Examensarbeit meiner Mutter über religiöse Erlebnisse von Kindern las und so viele große Worte darin entdeckte, deren Bedeutung ich nicht kannte und die ich noch nie aus ihrem Mund gehört hatte.

    Als wir eines Abends bei Johanna waren, sagte ich ihr, dass ich homosexuell sei. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf das Thema zu sprechen kamen. Hatte meine Mutter schon davon erzählt? Ich weiß noch, dass wir auf der verglasten Veranda saßen, die etwas tiefer lag als das hell beleuchtete Wohnzimmer. Das Abendessen war vorbei. Johanna lächelte unablässig strahlend zu ihren beiden Jungs hinüber, die außer Hörweite um das Sofa rannten, doch als sie sich dann mir zuwandte, senkte sie ihre großen traurigen Augen hinter der blau gerahmten Brille, und über den Augenbrauen entstand eine entzückende Zornesfalte. Außer einem dezent rosa Lippenstift trug sie kein Make-up; sie ging nicht mit der Mode und fand es ausreichend, nett auszusehen. Meine Mutter, die sich aufgedonnert hatte wie eine Onnagata im Kabuki-Theater, missbilligte diese Schlichtheit. Johanna beugte sich vor und stützte ihr Kinn in die Hand. Sie war so geschmeidig wie ein junges Mädchen und hatte wunderbare Zähne – ihre Mutter war Zahnärztin.

    «Ich mache mir große Sorgen», sagte ich. «Anscheinend bin ich in der normalen homosexuellen Entwicklungsphase stecken geblieben.» Ich war fünfzehn.

    «Ja, mein Schatz», sagte sie, «ich spüre, dass dich das sehr beschäftigt.» Ihre Gesprächsführung bestand darin, ihr Gegenüber durch Wiederholung dessen, was es gerade gesagt hatte, widerzuspiegeln, eine Methode, die auf Carl Rogers zurückging. Meine Mutter fand diese Methode beleidigend und auf empörende Weise herablassend, aber mir gefiel sie, weil sie klar auf das Problem fokussierte und keine Wertung vornahm. Johannas Leben war so eindeutig von Erfolg gekrönt, dass ich mich darin sonnte, für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

    «Meinst du, ich sollte eine Therapie machen?»

    Sie musterte mein Gesicht mit ihren großen, mitfühlenden Augen und schwieg.

    «Könnte ich zu dir kommen?», fragte ich. Ich wusste, dass sie in ihrem schalldichten Sprechzimmer im Untergeschoss jeden Tag viele Patienten empfing. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass Johanna eine Lesbierin geheilt hatte, die jetzt mit einem New Yorker Schriftsteller glücklich verheiratet war.

    «Hast du», fragte sie mit einer Behutsamkeit, die mir eine Empfindlichkeit unterstellte, die mir leider nicht annähernd gegeben war, «mein Schatz, hast du jemals schon …»

    «Sex gehabt?», fragte ich fröhlich. «O ja, jede Menge.» Einen Moment lang war ich stolz auf meine Erfahrung, doch dann sah ich, dass sie schockiert und traurig auf mein Geständnis reagierte.

    «Ich hatte keine Ahnung», sagte sie und schüttelte den Kopf, als ob er plötzlich sehr viel schwerer geworden wäre, «dass du diesen Impulsen gefolgt bist und sie bereits in Taten umgesetzt hast.» Sie blickte betrübt. Die Christen hatten mich gelehrt, dass der Gedanke genauso sündig war wie die Tat, doch Johanna schien zu glauben, etwas «in Taten umzusetzen» sei schlimmer als es sich nur zu wünschen. Weil ich meinen Wünschen gefolgt war, war es – was? Schwerer geworden, sie mir auszutreiben? War ich verloren?

    «Du hast gedacht, es wären nur Fantasien?» Ich war fast beleidigt, vor allem aber belustigt, obwohl ich begriff, dass ich das Ausmaß meiner Ausschweifungen herunterspielen musste, um ihr nicht das Herz zu brechen.

    Sie sah mir mit forschendem Blick tief in die Augen. Vielleicht suchte sie nach einem beruhigenden Zeichen der Reue, oder des Schmerzes, den ich zweifellos spüren musste. Dann schüttelte sie ihre Gedanken ab und sagte: «Ich kann dich leider nicht als Patient behandeln, Schatz, dafür sind wir zu eng befreundet. Aber ich kann dir jemanden empfehlen», und nun wählte sie ihre Worte mit größter Sorgfalt, «der dir helfen kann, den Weg zu einem Leben zu finden, in dem dein wahres Selbst voll zum Ausdruck kommt.»

    Welch strahlender Blitz erhellte die dunkle Landschaft meiner Persönlichkeit! Endlich sah ich, dass Homosexualität bei weitem nichts Dunkles oder faszinierend Kunstvolles war, sondern ein Mangel, eine Leere, eine Missbildung, die die volle und glückliche Entwicklung verhinderte.

    Schon damals wünschte ich mir, Schriftsteller zu werden, doch nun verstand ich, dass als Autor nur der erfolgreich sein konnte, der Zugang zu den universellen Werten und ewigen Wahrheiten hatte, die notwendigerweise heterosexuell waren. In meiner Dummheit hatte ich mir vorgestellt, die Schlacke der Homosexualität in das Gold der Kunst zu verwandeln, doch nun erkannte ich, dass ich nie ein großer Künstler werden konnte, ohne die klassischen Wahrheiten von Ehe und Elternschaft, Seitensprung und Scheidung zu kennen. Doch wenn die Psychoanalyse mich zur Heterosexualität konvertieren konnte, konnte sie dann nicht auch die Neurose verschwinden lassen, die mich zum Schreiben drängte? Sollte ich auch an dieser Neurose herumdoktern?

    Ich begann, Bücher über Psychoanalyse zu lesen – Freud selbst, besonders den Abriss der Psychoanalyse und die Traumdeutung, doch auch die milderen, weniger pessimistischen amerikanischen Adaptionen seiner Gedanken von Erich Fromm. Ich erfuhr, dass das Kunstschaffen ein Akt neurotischer Kompensation und Sublimation war – auch wenn Theodor Reik den unorthodoxen Standpunkt vertrat, Kunst sei die höchste Form geistiger Gesundheit. In keinem der Bücher fand ich viel zum Thema Homosexualität, aber doch genug, um zu lernen, dass sie steril, unauthentisch, infantil und dem Wiederholungszwang unterworfen war.

    Irgendwo begegnete ich der Theorie, Homosexualität werde durch einen abwesenden Vater und eine dominante Mutter verursacht. Vielleicht war es meine Mutter gewesen, die die Auffassung vertrat, die Abwesenheit meines Vaters habe mich schwul gemacht, denn sie wurde nie müde, all die Schäden aufzuzählen, die seine Fahnenflucht uns zugefügt hatte. Sie hätte gern wieder geheiratet – um mir die Wohltat einer geeigneten Vaterfigur zu verschaffen –, aber kein Mann war bereit, diese Last auf sich zu nehmen. Ein Jahr lang musste ich bei meinem Vater in Cincinnati verbringen, aber er nahm mich kaum zur Kenntnis.

    Als mir klar wurde, dass ich weiterhin auf Männer fixiert blieb und sich das wohl nicht ändern würde, bat ich meine Eltern, mich auf ein Internat für Jungen zu schicken. Meine Begründung war, dass eine strenge, fast militärische Schule mich schon auf Vordermann bringen würde, falls ich deshalb homosexuell war, weil ich eine dominante Mutter hatte und mir männliche Vorbilder fehlten. Widerwillig erfüllten sie mir den Wunsch, doch nachdem ich ein Jahr dort verbracht hatte und merkte, dass ich noch süchtiger nach Jungs war als zuvor, bat ich meinen Vater, mich zu einem Therapeuten zu schicken.

    Ich wusste auch bereits, zu wem. Die Hälfte der Schüler an meiner Schule in Cranbrook bei Detroit war extern und die andere Hälfte bestand aus Internatsschülern. Wir Internatsschüler durften ab und zu das Wochenende bei der Familie eines externen Schülers verbringen, wenn wir die schriftliche Erlaubnis unserer Eltern hatten. Ich wurde von Stephen Schwartz’ Familie eingeladen. Seine Familie hörte klassische Musik (Mozarts Klarinettenkonzert, Bachs Kantaten) auf einer Stereoanlage, die alle Räume des kompakten Holzhauses beschallte, ein Haus, das halb japanisch und halb wie ein Hopi-Pueblo aussah. Stephen hatte strubbeliges Haar und atmete mit offenem Mund, er war intelligent und künstlerisch begabt. Meine Perversion störte ihn nicht, interessierte ihn aber auch nicht besonders. Er schrieb, verstand viel von Jazz und war weder ein Überflieger noch ein Muskelprotz, die einzigen beiden Rollenmuster, die in Cranbrook akzeptiert waren. Er hatte einen schrägen Sinn für Humor. Über das verbissene Strebertum unserer Mitschüler und den Ernst unserer anti-intellektuellen, auf Drill versessenen Zuchtmeister konnte er nur lachen. Wir schrieben beide für die Schülerzeitung, für die er Satiren verfasste.

    Sein Vater war Psychiater; er empfahl mich James Clark Moloney. Ich vereinbarte einen Termin, und meine Mutter gab mir schriftlich die Erlaubnis, im Taxi zu seiner Praxis in Birmingham zu fahren, dem nächsten größeren Vorort.

    Mein Vater sträubte sich dagegen, die Honorare des Psychiaters zu übernehmen, die sich auf fünfzig Dollar die Stunde beliefen, zu einer Zeit, als zum Beispiel ein gutes Essen im Restaurant fünf Dollar kostete und der Hausarzt nur zehn Dollar für einen Besuch berechnete. Damals galt man als wohlhabend, wenn man siebzig- bis achtzigtausend Dollar im Jahr verdiente. Dr. Moloney wollte mich dreimal die Woche sehen, was sechshundert Dollar im Monat ergab, einen Betrag, der hundert Dollar über den monatlichen Alimenten meiner Mutter lag.

    Ebenso sehr sträubte sich mein Vater gegen die Psychoanalyse als solche, die er für Scharlatanerie hielt, um den Reichen das Geld aus der Tasche zu ziehen; ein ineffizientes und gefährliches, hemmungsloses Herumstochern in Problemen, die nur der Eitelkeit entsprangen und dem Gesetz folgten, dass es umso mehr juckt, je mehr man sich kratzt. Als guter Geschäftsmann verlangte er, dass ich meine Argumente für die Psychoanalyse in kurzen, prägnanten Briefen vortrug, die er in gestochen scharfer Handschrift auf Briefbögen beantwortete, die den Aufdruck «Büro von E. V. White» trugen. Er nannte mich «Lieber Ed V.» – ich war Edmund Valentine White III. Ich schrieb ihm vor allem über meinen erfolglosen Kampf gegen die Homosexualität und das Erklärungsmodell von dominanter Mutter und abwesendem Vater, was als indirekter Vorwurf gegen ihn gerichtet war.

    Mein Vater war überzeugt, dass psychische Probleme durch Willenskraft und Selbstdisziplin überwunden werden konnten, doch diese Methode musste an der Hartleibigkeit der sexuellen Orientierung scheitern. Ich wäre wirklich gern heterosexuell gewesen. Wer wünscht sich schon, sündig, unnormal, krank, kriminell, die leichte Beute von Erpressern und ein Paria auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu sein? Welcher Schriftsteller möchte sich von allen entscheidenden Initiationsriten ausgeschlossen sehen? Doch der Wille war machtlos gegen die sexuellen Begierden. Es war, als verlange man von einer Pflanze, nicht zu blühen. Selbst die Japaner konnten das Wachstum von Pflanzen nur hemmen, nicht verhindern.

    Ich hatte keine Ahnung, was mich bei Dr. Moloney erwartete. Ich nahm wohl an, dass er ein kleiner Mann mit polierter Glatze sein würde, über die ein paar vereinzelte Resthaare kunstvoll drapiert waren; er würde viele Bücher haben, einige davon auf Deutsch, und sein Wartezimmer würde nach kaltem Zigarettenrauch und Kummer riechen. Nichts hatte mich auf den Käfig voller kreischender Vögel, die Gottheiten aus Papua-Neuguinea und die Messingstatue eines meditierenden Bodhisattva im Garten vorbereitet. Ich hielt mich selbst für einen Buddhisten, aber einen Anhänger der strengen Theravada-Linie, und rümpfte über Dr. Moloneys Götzenverehrung die Nase, obwohl ich gerade deshalb hierhergekommen war, weil ich einen mitfühlenden Fürsprecher suchte, meinen eigenen Bodhisattva.

    Er hatte keine Sprechstundenhilfe. Ein anderer Patient öffnete mir die Tür, dann saßen wir da und starrten uns an, grün vor Geschwisterneid. Schließlich kam Moloney hereingestolpert und entließ eine schniefende kleine Frau. Er wirkte überrascht, dass er die nächste Stunde doppelt vergeben hatte.

    «Hab keine Angst», sagte er zu mir. «Ich habe genug Zitzen für den ganzen Wurf.» Beim Kichern zeigte er seine geraden Zähne im attraktiven roten Gesicht. Er zwinkerte mir zu.

    Er hatte eine weiße Löwenmähne und eine Knollennase mit einer wunden Stelle an der Spitze, an der er immer wieder herumfummelte, wie ein alter Hund, der halbherzig versucht, sein Halsband loszuwerden; ständig leckte er sich über die Lippen. An den großen Füßen mit gelben Nägeln trug er Sandalen, außerdem eine formlose Hose, die von einem Strick gehalten wurde, und ein kurzärmliges Hawaiihemd. Er gab mir das Gefühl, sehr adrett gekleidet zu sein, denn ich trug mein Lieblingssakko von Brooks Brothers aus schwarzbraunem Köper. Mir gefiel nicht, dass er beschlossen hatte, mich für einen ausgehungerten Welpen zu halten, bevor ich überhaupt ein Wort gesagt hatte.

    Er beschloss, zuerst den anderen Patienten hereinzubitten, allerdings nicht für eine volle Stunde, wie er erklärte, sondern nur für eine kleine Auffrischung. Im Wartezimmer konnte ich das Brummen des Patienten und das Knurren des Doktors hören. Die Worte waren nicht zu verstehen, nur der Rhythmus und die Intonierung ihrer Stimmen, aber die bloße Möglichkeit des Lauschens verängstigte und faszinierte mich.

    Moloney hatte nur eine Haupttheorie, die er auf jedermann und jedes Leiden anwandte. Er glaubte an die introjizierte, ins eigene Selbst aufgenommene, Mutter. Jedes Kind hat das Recht, die bedingungslose Liebe seiner Mutter zu genießen, ohne Einschränkung und zu jeder Zeit. Doch die modernen amerikanischen Frauen sind durch frühkindlichen Mangel und gesellschaftliche Einschränkungen so verformt, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Kindern umfassende, nährende Liebe zu geben. Als ich Dr. Moloney sagte, meine Mutter habe mich nicht stillen können, weil ihre Brustwarzen nach innen gewachsen waren, sprang er mit einem lauten Schrei auf. «Da haben wir’s!»

    Das emotional verkümmerte, entfremdete Kind beschließt, sich selbst zu bemuttern. Es verinnerlicht das blasse, flüchtige Bild vom Gesicht und der Wärme seiner Mutter in seinem inneren Pantheon. So ist es unabhängig von ihren Launen, Capricen und ihrem Verschwinden und kann sie jederzeit heraufbeschwören, wenn es sie braucht. Wenn es am Daumen lutscht, belohnt es sich selbst – es ist zum geschlossenen Kreislauf geworden, und das hat den einen großen Nachteil: Eine solche absolute Unabhängigkeit weist alle Merkmale von Wahnsinn auf. Es ist selbstgenügsam, doch um einen furchtbaren Preis. Wenn es glaubt, eine reale Frau zu lieben, tut es nichts anderes, als das Imago seiner Mutter auf eine neutrale Leinwand zu projizieren, es liebt lediglich die eine Hälfte seiner inneren Rollenmodelle. Da es sich nicht auf eine echte Person bezieht, mit all ihren changierenden Besonderheiten, sondern auf die scharfen, fixierten Umrisse der introjizierten Mutter, kommt keine Interaktion mit einer Frau aus Fleisch und Blut zustande. Sobald sie seine Verteidigung durchbricht, indem sie ihr echtes Lächeln lächelt und ihren echten Atem in seinen Nacken bläst, gerät es in Panik und macht Schluss. Als Kind hat es gelernt, wie gefährlich es ist, sich auf ein wirkliches, autonomes Gegenüber einzulassen.

    Das alles habe ich in meiner ersten Stunde bei Dr. Moloney gelernt – oder besser gesagt den ersten neunzig Minuten, denn er wollte mir unbedingt beweisen, dass er nicht einer dieser verdammten sturen Freudianer mit ihren Fünfzig-Minuten-Sitzungen war. Und er musste seine ganze Theorie in unserer ersten Sitzung ausbreiten, damit sie allmählich in mich eindringen konnte.

    Wie ich in Sitzung um Sitzung erfuhr, hatte Dr. Moloney im Pazifik als Militärarzt gedient. In Okinawa hatte er beobachtet, wie furchtlos und glücklich die Kinder waren, weil sie als Säugling ihren Müttern nie von der Seite gewichen waren; sie wurden im Tragetuch überallhin mitgenommen, auf dem Rücken der Mutter, sodass sie über deren Kopf hinweg schauen konnten – «Dadurch fühlten sie sich mit ihr verbunden, und sie hatten dabei die Kontrolle.» Später einmal sah ich auf den Straßen von Birmingham einen eleganten jungen Vater, dessen Baby von seinem Rücken aus in die Welt hinaussah, und erkannte in ihm ein Michigan-Exemplar von Dr. Moloneys Okinawanern.

    Moloney ließ mich seine Bücher lesen und sogar seine Manuskripte korrigieren. «Halt mich nicht für ein kastrierendes Arschloch wie deinen Vater, einen pedantischen Perfektionisten, der keine Hilfe von einem anderen Mann annimmt. Ich brauche alle Hilfe, die ich kriegen kann.» Er beleidigte gern meine Eltern, denen er nie begegnet war und die den Vogelscheuchen, die er aus ihnen machte, nicht besonders ähnlich waren. Sie waren genauso exzentrisch wie er, verarmte Menschen aus den texanischen Weiten und gänzlich unvorbereitet für die Welt, die sie sich selbst schufen, indem sie Geld verdienten und gen Norden zogen. Moloney beschimpfte sie als verknöcherte Patrizier, gefühllose Aristokraten, doch in Wirklichkeit waren sie verrückte Emporkömmlinge voller gefährlicher Gefühle. Ich ließ mich nie so weit gehen, in Moloneys Hinterhof auf die beiden Holzklötze einzuschlagen, auf die er die Worte «Mom» und «Dad» geschrieben hatte.

    Aber Moloney war warmherzig, ein unkomplizierter Bohemien mit ethnografischen Interessen, und er glaubte, mir die bedingungslose Liebe geben zu können, die meine Mutter mir angeblich vorenthalten hatte und nach der ich mich seiner Meinung nach sehnte. Oft unterbrach er mich mit den Worten: «Verdammt, ich liebe dich.» Seine Augen füllten sich dann mit Tränen und er rieb die wunde Stelle seiner Nase, oder kratzte sich von oben an der Stirn, sodass der Ellbogen zur Decke zeigte. Doch an manchen Tagen wusste er nicht einmal meinen Namen.

    Nach allem, was ich herausbekam, hatte er eine konventionellere Vergangenheit gehabt, die sich in seinem ersten, durch und durch freudianischen Buch niedergeschlagen hatte, aber jetzt hatte er diesen Tick mit der introjizierten Mutter und der Tragetuch-Therapie aus Okinawa. Er trug schwere türkise und silberne Armbänder und schwarze Amulette auf der haarigen Brust, und er lebte inmitten wackelnder und klingelnder Gottheiten aus dem Pazifik, aus Asien und Afrika. Anscheinend hatte Freud selbst diese Vorliebe für primitive Holzstatuen inspiriert, wie Fotos aus seiner Wiener Wohnung verraten.

    Das zweite freudianische Überbleibsel war die Couch. Nach ein paar einschüchternden Sitzungen auf dem Stuhl wurde ich zur Couch befördert, wobei Moloney außerhalb meines Gesichtsfelds am Tisch saß und sich Notizen machte oder irgendetwas schrieb, vielleicht eins seiner Pamphlete. Ich hörte, wie er hinter mir hustete, nach etwas suchte oder mit dem Stift über Papier kratzte. Mehr als einmal ertappte ich ihn dabei, dass er eingedöst war. Da er schlief, veränderte sich sein vorheriges Schweigen in meinen Augen von einem scharfen therapeutischen Instrument zu stumpfer Ablehnung. Ich langweilte ihn. Dieser Mann, der behauptete, mich zu lieben, war in Gedanken anderswo. «Ich weiß, was du jetzt denkst!», rief er. «Wahrscheinlich bist du stinksauer. Und du hast ein Recht darauf. Du hast ein Recht auf grundlose Liebe. Ohne zeitliche Begrenzung, ohne Aussetzer, immerwährende, grundlose Liebe. Doch selbst Homer nickt ein. Das Baby schreit, und es ist völlig im Recht. Wäre ich perfekt – und du verdienst Perfektion, das ist dein Geburtsrecht», und dann brach er ab und rieb sich verwirrt die Nase.

    Als Johanna mich in den Weihnachtsferien fragte, wie alles so laufe, sagte ich: «Ich bin sehr enttäuscht. Er ist ein netter Mensch, aber er kann sich nichts merken. Jedes Mal, wenn ich einen Freund erwähne, muss ich wieder von vorn erklären, in welcher Beziehung wir zueinander stehen.»

    «Da übertreibst du bestimmt ein bisschen …»

    «Überhaupt nicht. Er interessiert sich nicht im Geringsten für meine Lebensumstände. Ich glaube, er mag die Menschen nicht; zumindest interessieren sie ihn nicht. Er wirft mir ständig vor, dass ich zu kopflastig bin, obwohl er davon profitiert, wenn ich seine Bücher korrekturlese.»

    Kopflastigkeit galt als einer meiner schlimmsten Abwehrmechanismen. Wenn ich einer von Moloneys Interpretationen nicht zustimmte, zeigte er lachend seine kleinen weißen Zähne und sagte: «Wenn du auf diese Art weiterhin alles besser weißt, hast du bald die letzte Chance auf Glück verloren. Niemand zweifelt an deiner Intelligenz. Ich will nur, dass du aus dem geschlossenen Kreislauf ausbrichst und ein anderes menschliches Wesen berührst, verdammt nochmal. Komm schon, gib dem Leben eine Chance …» Er kam nicht drauf, wie ich hieß, deshalb machte er nur eine vage Geste, die im Schulterzucken endete. Ich lernte, jeden meiner Impulse infrage zu stellen, meine Motive zu überprüfen und meinen gänzlich harmlosen Taten eine unbewusste, boshafte Absicht zuzuschreiben. Wenn ich träumte, ich hätte Sex mit Marilyn Monroe, interpretierte Moloney das als «Flucht in die Gesundheit», einen Trick, den ich mir ausgedacht hatte, um ihn abzuschütteln, indem ich mich normal gab, geheilt. «Ich bin die Marilyn Monroe in diesem Traum», sagte er in vollem Ernst. «Ich habe genau wie sie langes Haar, einen großen Mund und üppige Formen.»

    Heute würde ich sagen, der größte Schaden, den diese jahrelange Psychoanalyse angerichtet hat, ist der, meine Instinkte infrage zu stellen. Der Selbstzweifel, ein Cousin von Selbsthass, wurde mein ständiger Begleiter. Dass ich heute nur wenige starke Überzeugungen habe und mich selbst als Anthologie austauschbarer und gleich gültiger Meinungen wahrnehme, ist eine Folge der Psychoanalyse. Ich drücke mich am besten in fiktiven Texten aus, denn eine Figur, selbst wenn sie mein Alter Ego ist, hat ihren dramatischen Moment, will das eine lieber als das andere, dient dem roten Faden der Erzählung. Der Roman ist eher eine Geschichte als eine Behauptung, eher eine Veränderung im Lauf der Zeit als die Feststellung einer ewigen Wahrheit. Die Fiktion unterstellt ein allgemeines Interesse, sie verlangt nicht vom Autor, sich für oder gegen seine Figuren zu entscheiden, und ist so die perfekte Arena situativer Ethik.

    Während der letzten zwei Jahre im Internat ging ich dreimal die Woche zu Moloney. Ich entdeckte, dass einer meiner Lieblingslehrer auch sein Patient war, wir begegneten uns im Wartezimmer. Auch wenn es ihm zuerst peinlich schien, als sei er enttarnt worden, machte er sich bald davon frei, und wenn unsere Termine zusammenfielen, nahm er mich im Wagen mit. Er war ein zurückhaltender Mensch, wahrscheinlich nur sechs Jahre älter als ich, dreiundzwanzig gegenüber meinen siebzehn, aber in dem Alter war dieser Abstand unüberbrückbar. Ich habe mich immer gefragt, was wohl seine Symptommanifestationen sein mochten, aber alles, was ich über ihn herausfand, war seine Bindungsangst; er hatte mehrere Verlobungen wieder aufgelöst. Probleme wie Frigidität wurden nie im direkten Zugang behandelt, man machte sich stattdessen stets auf die Suche nach einer geheimnisvollen, tieferliegenden Neurose.

    Ich brachte Moloney nie dazu, sich auf meine Homosexualität zu konzentrieren, denn auch sie war nur ein Symptom. «Du wirst schon sehen, alter Junge», versicherte er mir immer wieder und kam dabei schwerfällig auf mich zu, wie ein treuherziger, lieber Bernhardiner, der sich seine täglichen Streicheleinheiten abholen will, «wenn wir erst einmal das psychische Unterholz gerodet haben, wird das alles von selbst absterben.» Er sah meine Homosexualität genauso wie den Staat in einer sozialistischen Zukunft. Für meine sexuellen Abenteuer in der Schule und anderswo interessierte er sich ebenfalls nicht besonders, doch er warnte mich, dass exzessives Ausagieren mich weniger empfänglich für die Therapie machen würde. So wie der Ausdruck «kopflastig» meine geistigen Fähigkeiten in Zweifel zog, unterstellte «Ausagieren», dass jedes sexuelle Erlebnis mit einem Mann nur eine belanglose Wiederholung vorheriger Erlebnisse war, alles in allem nur ein kindischer und lästiger, aber nicht weiter ernstzunehmender Automatismus. Beim Ausagieren kam nichts anderes heraus als eine weitere sinnlose Verzögerung des Heilungsprozesses. Wenn ich ausführlicher auf meine Liebe zu einem Lehrer oder meine sexuelle Verführung eines Football-Stars zu sprechen kam, machte er eine Handbewegung, als wolle er sich lästige Spinnweben aus dem Gesicht wischen, und sagte: «Verschon mich damit, bitte.» Wenn ich ihn fragte, ob es gefährlich sei, Marihuana zu rauchen, behauptete er, es führe direkt in die Heroinabhängigkeit. Er riet mir, einen Lehrer anzuzeigen, der die Jungs «aufgeilte» (und der mich seinen Schwanz lutschen ließ). Später tat es mir leid, dass ich ihn verpfiffen habe, aber meine Neigung dazu, meine Sexpartner zu verraten, hätte auch ohne Moloneys Ratschlag dazu geführt.

    Nur wenn ich ihm einen Traum erzählte, konnte ich sicher sein, dass Moloney mir wirklich aufmerksam zuhörte. Um mich später daran zu erinnern, musste ich den Traum sofort aufschreiben. Am ehesten passierte das sonntags, wenn wir eine Stunde länger schlafen durften, bis acht, und ich langsam aufwachte und mich an die letzte oder mehrere Episoden eines Traums erinnern konnte.

    Moloney war insofern Freudianer, nehme ich an, als er daran glaubte, der Traum sei der «Königsweg zum Unbewussten», auch wenn er ein anderes, eher jungianisches Interpretationssystem benutzte, das die bedeutungsvollen Akzentverschiebungen innerhalb einer weitverzweigten Familie von Archetypen aufspürte. Heute teile ich die Auffassung eines befreundeten italienischen Arztes, der die große Bedeutung der Träume in Freuds Arbeit auf die venezianische Gewohnheit zurückführt, nach dem Abendessen Käse zu essen. Er meint, Käse erzeuge massenhaft neuronale Transmitter; Träume seien dagegen ein Mechanismus des Gehirns, ein paar Gänge zurückzuschalten.

    Wie Freud glaubte auch Moloney, dass eine der wichtigsten Techniken des Analytikers darin bestehe, die Projektionen des Patienten zu durchschauen. Freud besteht darauf, der Patient dürfe nichts Konkretes über den Analysten wissen, damit auch ihm selbst klar wird, dass alles, was er auf den Arzt überträgt, reine Erfindung ist. In der klassischen Freud’schen Übertragung rekonstruiert der Analysand mit seinem Analytiker die zerstörerische Beziehung zu seinen Eltern. Wenn er begreift, dass der Arzt nichts getan hat, das seine Wut, Verbitterung oder Angst rechtfertigen würde, muss er zugeben, dass er selbst es war, der immerzu böse Absichten und feindselige Einstellungen auf die Menschen in seiner Umgebung projiziert hat. Gegenüber Moloney war diese Versuchsanordnung allerdings gestört, denn er plauderte unablässig über sich selbst, sodass ich einiges über ihn wusste und dadurch durchaus zutreffende Zuschreibungen vornehmen konnte. Manchmal sagte er zwar: «Jetzt projizierst du wieder», aber diese Zurechtweisung war nur durch seine Autorität begründet.

    Er war mein erster Therapeut, ich hatte keinen Vergleich, und er war meine einzige Chance, heterosexuell zu werden und mein furchtbares Leiden als Ausgestoßener zu beenden. Er selbst sagte mir das; er war überzeugt, der einzige kompetente Arzt zu sein. Mehr als einmal dachte ich an Selbstmord. Ich kannte niemanden, der Homosexualität

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