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Meine Mutter: Dämonologie
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eBook357 Seiten4 Stunden

Meine Mutter: Dämonologie

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Über dieses E-Book

Ausgehend von der Beziehung zwischen Colette Peignot und Georges Bataille, erzählt Meine Mutter: Dämonologie von den Verstrickungen einer Frau in die widersprüchlichen Impulse von Zuneigung und Einsamkeit:
Zu Beginn ihres Lebens als Erwachsene gerät Laure in eine leidenschaftliche und alles verschlingende Affäre mit ihrem Gefährten B. Das lässt sie aber letztlich unbefriedigt, weil ihr die Notwendigkeit einer eigenen Identität - unabhängig von ihrem Geliebten - klar wird. Im Verlangen, zu entdecken, wer sie ist, begibt sie sich auf eine Reise der Selbstfindung: eine Odyssee in das Territorium ihrer Vergangenheit, in Erinnerungen und Phantasien ihrer Kindheit, in Zügellosigkeit und Hexerei.

Kathy Acker ist eine Legende, ihre Werke sind Klassiker der postmodernen Literatur.

Sie gilt immer noch als die einzig wahre Erbin William S. Burroughs. Ihre Arbeiten waren ebenso vielfältig und umfassten unterschiedlichste Textsorten. Die selbsternannte »Literaturterroristin« war der Inbegriff einer weiblich geprägten Punk-Literatur, die die Themengebiete Sexualität, Philosophie und Technologie produktiv aufnahm und in eigenständige literarische Arbeiten umwandelte. Ackers Werke, die von einer Haltung der Umschrift und der vorsätzlichen Piraterie geprägt sind, genießen zurecht Kultstatus und spiegeln Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse ebenso kritisch wie unterhaltsam. Acker ist Kult.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum7. Okt. 2015
ISBN9783902950611
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    Buchvorschau

    Meine Mutter - Kathy Acker

    sprach:

    1.

    HINEIN IN DEN SCHOSS

    DER HÖLLE, GENANNT

    VEREINIGTE STAATEN

    EINS

    MEINE MUTTER

    Ich bin verliebt in Rot. Ich träume in Rot.

    Meine Alpträume gründen sich auf Rot. Rot ist die Farbe der Leidenschaft, der Freude. Rot ist die Farbe aller Reisen, die im Inneren stattfinden, die Farbe des verborgenen Fleisches, der Tiefen und geheimen Winkel des Unbewußten. Vor allem ist Rot die Farbe von Zorn und Gewalt.

    Ich war sechs Jahre alt. Jeden Abend nach dem Abendessen, das ich meist mit meinen Eltern einnehmen durfte, sagte ich: »Gute Nacht.« Um in mein Zimmer zu gelangen, mußte ich einen langen, dunklen Flur hinuntergehen, der auf beiden Seiten von Türen gesäumt war. Ich hatte schreckliche Angst. Hinter jeder Tür lauerte unvermutete Gewalt.

    Moral und moralische Urteile schützen uns vor der Furcht.

    In meinen Träumen war ich es, die mordete und ermordet wurde zur selben Zeit.

    Doppelmoral ist die Farbe des Grauens.

    Ich wurde am 6. Oktober 1945 in Brooklyn, New York, geboren. Meine Eltern waren reich, gehörten aber nicht der ganz echten Oberschicht an. Ich rede von meinem Vater. Mit sechs Jahren brach ich plötzlich in unbekannte Gefilde auf, die Gefilde der Träume und heimlichen Wünsche. Fast mein ganzes Leben lang war ich lasterhaft. Nach einem Klischee des neunzehnten Jahrhunderts sind Lasterhaftigkeit und Ausschweifung mit Kunst verbunden.

    Ich schrieb: Die Augen des Kindes durchbohren die Nacht. Ich bin eine Schlafwandlerin, die die Schatten vertreiben will. Doch im tiefsten Schlaf knie ich vor ihrem Kruzifix und ihrer Jungfrau.

    Heilige Bilder bedeckten jede Wand im Haus meiner Eltern.

    Ihr Haus hatte die Unbeweglichkeit eines Alptraums.

    Die erste Farbe, die ich erfuhr, war die Farbe des Grauens.

    Fast alles, was ich über mein Vorerwachsenenleben weiß und wissen kann, findet sich nicht in Erinnerungen sondern in diesen Schriftstücken.

    Religion:

    Tage und Nächte, alles was war: eine gräßliche, angstvolle Kindheit.

    Die Moral trug den Habit der Religion. Die Todsünde, oder der Sonntagsheilige und die Mittwochsasche verurteilten mich täglich. Verdammung und Unterdrückung zermalmten mich, noch bevor ich geboren wurde. Die Kindheit wurde den Kindern gestohlen.

    Nie kann genug gesagt, gemurmelt, geknurrt werden, wenn einer in den Zorn hineingeboren ist. IHRE verbrecherischen Hände hielten mein Schicksal. IHRE Nabelschnur würgte mich, als ich aus ihr herausfiel. Was mir zu wünschen blieb: alles.

    Achtet auf die Kinder. Alle Kinder kommen rot aus dem Leib, denn ihre Mütter kennen Gott.

    Die Nacht ist erfüllt von ihren Schreien: Unablässiges, gegeißeltes Heulen, unterbrochen vom Knall eines Fensters, das der Wind zuschlägt. Grelle, geifernde Schreie ersterben zwischen versiegelten Lippen. Wir, die wir dabei sind erstickt zu werden, werfen unser Gemurmel und Gekreisch, unsere Namen in ein Loch; dieses Loch ist überall. Sie gießen Kaskaden von Hohngelächter über uns aus. Falls irgendein Sprechen aus uns herauskommt, erscheint es als Nonsense. Wenn die Erwachsenen mir antworteten, kotzte ich. Meine paar Schreie – von Winden umhergewirbelte tote Blätter – stiegen aus meinem Körper auf und verdampften.

    Es ist ein sehr pariserischer Garten, den ich als Versteck fand.

    Meine Mutter war eine große Dame. Wann immer sie den Lebensmittelladen betrat, den die Reichen des Viertels frequentierten, beauftragte sie irgendeinen dort aufgegabelten jungen Burschen, die verschiedenen Artikel, nach denen es sie gerade verlangte, zu holen und zum Taxi zu bringen, das auf sie wartete. Es kam Mutter nicht in den Sinn, dass sie eventuell zu bezahlen hätte.

    Wenn es mein Unglück war, sie zu begleiten, kroch ich hinter ihr her und versuchte, unsichtbar zu sein. Kannte sie nicht. Ich, eine Waise. Sobald sie Anstalten machte, den Laden zu verlassen, bezahlte ich so schnell wie möglich beim Mann hinterm Ladentisch. Mein Gesicht glühte, als sei es von einer Sonnenallergie befallen. Ich weiß nicht, was passierte, wenn ich nicht da war und bezahlte: Damals fanden Ereignisse, die ich nicht wahrnahm, nicht statt.

    In jenen Zeiten dachte ich: Sollen sie alle zum Teufel gehen.

    Es ist gut möglich, daß ich nicht die einzige Person war, die wußte, daß Mutter immer tun konnte, was sie wollte. Die Königin von England trägt nie ihr eigenes Geld bei sich. Irgendjemandes Geld.

    Drei- oder viermal versuchte ich, ihr zu entkommen, und rannte weg. Da mein Vater so sanftmütig war, daß er sich Mutter unterordnete, mußte ich auch vor ihm davonlaufen.

    Ich kletterte die hintere Feuerleiter hinab zur Straße. Lief Straßen entlang, bis es nirgendwo mehr hinging.

    Da ist ein weißer Mann, hinter den spindeldürren Bäumen. Er reckt sich in den Himmel um in das Gehölz zu greifen und fällt hinunter auf alle viere, wie ein Hund. Auf Kieselsteine. Dann kriecht er über die Straße, streckt eine Hand aus, als wäre sie tot. Ich versuche, eine Mauer zu werden und drücke mich daran. Rußiger Efeu und Begonien werden zerdrückt. Ein anderer Mann erhebt sich, sein Gesicht brennt und die Lippen sind viel zu rot. Er nähert sich mir, die Hände berühren den Schwanz, und ein anderer Mann, entsetzt, springt aus einem Fenster. Seine Arme schlagen gegen den Himmel wie eine Windmühle. Durch den Schaum auf seinen Lippen sagt er: »Sie haben mich gestohlen.«

    Lief die Straßen hinunter, bis dort Nirgends war.

    Eine verlogene, heuchlerische Gesellschaft umkreist das Grab aus Löchern im Garten der Kindheit.

    Ich mußte nach Hause zurückkehren.

    Ich wollte meinen Eltern nicht weglaufen, weil ich sie haßte, sondern weil ich wild war. Wilde Kinder sind aufrichtig. Meine Mutter wollte mich bis zu dem Punkt beherrschen, an dem ich nicht mehr existierte. Mein Vater war so sanftmütig, er existierte nicht. Ich blieb unerzogen, oder wild, weil ich eingesperrt war von meiner Mutter und keinen Vater hatte.

    Mein Körper war alles, was ich hatte.

    A a a a ich weiß nicht, was Sprache ist. Eins eins eins eins ich werde nie zählen lernen.

    Ich blieb selbstsüchtig. Es gab nur meine Mutter und mich.

    Selbstsucht und Neugier sind eins. Ich tat alles, um meinen Körper kennenzulernen, erforschte die üblen Gerüche, die aus Furchen und Achselhöhlen aufstiegen, den Geschmack jeden Lochs. Niemand lehrte mich Reue. Ich war wild darauf, die Vorstellungen meines Körpers zu verwirklichen.

    Und ich wußte, ich konnte meinen Eltern nicht entfliehen, weil ich weiblich war und noch nicht achtzehn. Selbst wenn es für eine weibliche Minderjährige Arbeit gegeben hätte, meine Erzeuger, meine Erzieher und meine Gesellschaft hatten mich gelehrt, daß ich machtlos war und zum Überleben entweder die Eltern oder einen Mann brauchte. Ich konnte nicht der ganzen Welt die Stirn bieten; ich haßte nur.

    Um also meinen Eltern zu entkommen, brauchte ich einen Mann. Nachdem ich entkommen wäre, könnte und würde ich den Mann hassen, der mich dann einsperrte. Und danach wäre ich bedacht, meinen Haß, mein double bind zu vernichten.

    Diese persönliche und politische Verfassung war die einzige, die sie mir beigebracht hatten. Ich bin immer im Unrecht, also bin ich ein Freak. Ich mache immer alles kaputt, einschließlich mich selbst, und das will ich auch.

    Rot war die Farbe der Wildheit und des bislang Unbekannten.

    Während mein Körper wuchs, den meine Mutter wahrzunehmen sich weigerte und deshalb nicht kontrollierte, wuchs er in die Sexualität hinein. Als könnte Sexualität sich ohne Berührung ereignen. Masturbierte nicht nur, bevor ich wußte, was das Wort Masturbation bedeutet, sondern bevor ich kommen konnte. Physische Zeit wurde zu einer Bewegung in Richtung Orgasmus. Ich wurde sexuell wilder. Ich wollte einen Mann, der mir helfen sollte, meinen Eltern zu entkommen, und nicht aus sexuellen Gründen. Ich brauchte kein anderes Sexualobjekt. Meins war die eigene Haut.

    Sehnsucht war dasselbe wie Haut. Haut gehörte niemand in meinem Königreich der Unberührbarkeit.

    Ich hatte mich noch nicht entschieden, eine Person zu sein. Ich weigerte mich fast, eine Person zu werden, denn wenn ich eine wäre, würde ich einsam sein müssen. Die Vereinigung mit der Gesamtheit des Universums ist eine Möglichkeit, Schmerz zu vermeiden.

    Heute habe ich keinerlei Freunde. Mutter kritisierte jeden, den ich versuchte kennenzulernen, als »neureich« oder »nicht fromm genug«. Diese Idiotin findet es normal, zu einem Priester zu rennen und ihn zu fragen, ob es in Ordnung sei, wenn ich mit jemandem spiele, den ich glücklicherweise gerade meinen Freund nennen darf. Für sie oder ihren Priester ist nie einer gut genug.

    Mutter haßt einfach jeden, der nicht von unserem Blut stammt. Sie verwendet das Wort Blut. Sie haßt jeden und alles, was sie nicht kontrollieren kann: alles Fröhliche, Lebhafte, alles, was wächst, produktiv ist. Menschlichkeit versetzt sie in Panik; wenn sie in Panik ist, tut sie alles, um mich zu verletzen.

    Ich habe im Keller Zuflucht gefunden. In seiner muffigen Luft. Jesus sitzt tot in den Fenstern.

    Dort fühlte ich mich sicher, saß auf einem Pferd, das auf modernder Maulwurfshaut schaukelte, oder kauerte auf einem roten, rissigen Kissen. Dort erzählte ich mir eine Geschichte nach der anderen. Jede Geschichte ist wirklich. Eine Geschichte führt immer zu einer weiteren. Die meisten Geschichten erzählen, wie ich geboren werde:

    »Vor meiner Geburt lebte ich im Himmel. Die dortigen Einwohner verbringen ihre Zeit damit, sich einen süßen weißen Jesus vorzustellen, der Figuren wie Mitterand tötet, oder einen goldenen, in Samt gehüllten Joseph, der Heavy Metal spielt. Überall sind Puppen. Ich aber besaß eine Schreckschußpistole, mit der ich Tauben blendete, und untersuchte peinlich genau meinen Körper. Dann betrat ich eine Welt, in der ich, da Gott alles sieht, was dort vor sich geht, neugierig werden mußte.«

    Gott folgte mir in den Keller. Obwohl ich neugierig war, ängstigte er mich. Ich kam zu dem Schluß, Neugier müsse mächtiger sein als Furcht und daß ich Neugier und Furcht brauchte, weil ich durch unbekannte, wunderbare und ekstatische Gefilde reisen würde. Wenn Gott existiert, ist das Verkuppeln von Neugier und Furcht die Tür zum Unbekannten.

    Eine Zeitlang gab es niemanden in meinem Leben.

    Ich wurde älter.

    Ich verehrte das Dienstmädchen, das jünger war als ich. Eines Tages erzählte sie mir, sie plane zu heiraten und ein Kind zu bekommen.

    »Ich werde mein Baby nur weiß anziehen«, sagte das Dienstmädchen. »Das kannst du nicht«, erwiderte ich, »weil du minderbemittelt bist. «

    Ihr Gesicht nahm die Farbe meiner Fotzenlippen an. Sie war es, die rot wurde, nicht ich.

    »Ich bin nicht arm. Ich arbeite, und mein Freund hat einen festen Job bei der U-Bahn. «

    Das Wort arbeiten sagte mir nichts; ich versuchte weiterhin, ihr klarzumachen, daß sie zu arm sei, um sich ein Baby leisten zu können. Daß sie ein Baby nicht kleiden könne. In ihrer Verzweiflung fand Henrietta (das Dienstmädchen) keine Sprache; schließlich fiel ihr das Wort böse ein. Ich war »böse«.

    Dieses Wort böse veranlaßte mich zum Nachdenken.

    Ich erinnerte mich, wie Mutter sie immer »das Mädchen« nennt und in der dritten Person über sie spricht, selbst wenn Henrietta im Zimmer ist. Während ich, wenn ich auch nur die geringste Respektlosigkeit gegenüber Freunden meiner Eltern zeige, streng bestraft werde. Ich erkenne, daß ich darauf trainiert werde, mir nur die Mädchen, die aus den reichsten und gesellschaftlich mächtigsten Familien kommen, als Freundinnen zu wünschen. Ich erkenne, daß Erziehung ein Mittel ist, durch das dieses ökonomische Klassensystem Fleisch wird im Körper als persönliche Richtlinien. Die Menschenwelt außerhalb von mir scheint durch Ökonomie, Hierarchie und Klasse geformt zu sein.

    Ich bin alles andere als frei.

    Ich möchte, daß Henrietta mir erklärt, welcher Grad an Dreck für die einzelnen Klassen passend ist.

    Danach verliebte ich mich in den Gärtner. Acht Jahre alt, war ich kein Mensch mehr.

    Da ist das Land. Ich lerne die Namen der Blumen der Nacht und des Wassers, der Sonnenblume und des Johanniskrauts, der Wasserlilien und sämtlicher Rosenarten. Ich weiß, es gibt Abendvögel und Nachtvögel; Fledermäuse, Schleiereulen. Und Eulenbabies, die aus dem Nest gefallen und in einem Eimer voll Wasser ertrunken sind, geistern durch meine Träume.

    Die Sommerluft in der Grotte spaziert wie eine blinde Katze meinen Bauch entlang. Ich mußte endlich verschwinden. Ich preßte mich zwischen eine graurote Mauer und den Efeu, der aus dem Erdboden emporwuchs. Dort drinnen wurde ich vielbeinig, eine Spinne, ein Igel, ein Waschbär, jedes Tier, das ich jemals sein möchte, jedes Tier, das es gibt.

    Das sah Gott, als Er mir in den Keller folgte.

    Ich betrachtete Weizenfelder, Maisfelder, Klee in der Farbe von Fleisch, Mohnblumen- und riesige Kornblumenfelder, Felder, gerahmt von Trauerweiden und Pappeln.

    Hinter Mutters Küche taucht eine Ebene auf, die in der Sonne funkelt. Grillenzirpen und das Summen dicker Hummeln. Schmutzige Fliegen befruchten ihre Weiden. Hierhin gehe ich in der vollen Mittagssonne. Barhäuptig im Licht, das Heu zerkratzte meine Knie. Da war ein neuer Geschmack auf meinen heißen Lippen, Lavendel und brennende Haut. Ich reise, um Schwindel und Verzauberung kennenzulernen.

    Mein Vater zeigte mir all dies und mehr: Libellen, die Eisvögel und Zaunkönige, die Eintagsfliegen und alles, was um sie herum flirrt; Wildenten, Truthennen und sämtliche Fische. Daddy brachte mir die Bäume und die Jahreszeiten nahe; Teer, die Wälder und Feuer.

    Jetzt und in alle Ewigkeit schere ich mich nicht mehr um Religion.

    Keine Religion: das ist das Resultat, das sich nie verändern wird.

    Keine Religion ist meine Stabilität und Sicherheit.

    Mutter verlangt, ich solle ihren Priester aufsuchen.

    Ich konnte meiner Familie nicht entkommen, weil ich nach wie vor keinen Mann wußte, der mir helfen würde.

    Aus Gründen, die nichts mit dem Entkommen zu tun hatten, wollte ich, dieser Mann wäre wilder als ich.

    Mit dreiundzwanzig Jahren wurde es mir möglich, meinen Eltern zu entkommen. Ich fing an, mich direkt, nicht nur durchs Schreiben, an alles zu erinnern, was mir passiert war. Ein Seemann ist ein Mann, der sich fortwährend den Grenzen des Beschreibbaren nähert.

    Ich war wild. Mein Bruder war der erste Mann, der mir half. Ich verbrachte zunehmend mehr Zeit in seiner Wohnung.

    Es waren die Tage der Gespenster. Sind es noch. Nicht des Todes, sondern des gegenwärtigen Vergessens, sogar des Todes der Sexualität und des Staunens, von allen, die kontrollieren und von Leuten und Dingen, die nicht kontrolliert werden können. Da ein Gefühl einen Wert anzeigt, bewegten sich in dieser Gesellschaft des Todes (der Werte) die Gefühle wie Zombies durch die Menschen.

    Bei meinem Bruder lernte ich Künstler kennen. Romare Bearden. Maya Deren. Dieser Hinweis, es könnte möglich sein, in einer anderen Gemeinschaft als der meiner Eltern zu leben, einer Gemeinschaft, die nicht haßerfüllt und langweilig war, einer intellektuellen, rettete mich vor Verzweiflung und Nihilismus, weil sie eine Welt voller Möglichkeiten eröffnete.

    Ich konnte noch immer nicht allein mit der Gesellschaft meiner Eltern brechen.

    Dort nahm mir Paul Rendier meine Jungfräulichkeit. Das Ficken versetzte mich in die Lage, meine Vergangenheit abzuwerfen; das Rot gab mir die Kraft, etwas anderes als rot zu sein.

    Sobald ich einmal gefickt hatte, war das einzige, was ich mir wünschte, mich einer anderen Person vollständig und total hinzugeben. Ich wußte und weiß bis heute nicht, was dieses Begehren anderes bedeutet als es selbst.

    Totes Blut in mir ließ das Innere von Rosen in Karmesin erröten und wurde zu einer lebendigen Farbe, die namenlos ist.

    Als Rendier mich verließ und ich nicht wußte, wo er war, mußte ich ihn finden, denn alles, was von mir übrig war, alles, was mich ausmachte, war der Wunsch, mich ihm hinzugeben.

    Um Rendier hinterherzulaufen, mußte ich mit meiner Familie brechen. Mein Vater war bereits tot; er hatte mir genug Geld hinterlassen, so daß ich ökonomisch keinen Mann mehr brauchte. Ich weiß, Frauen brauchen Männer nicht nur aus Schwäche. Ich entkam meiner Mutter, weil die Sexualität stärker war als sie.

    Dann fand ich Rendier. Wir lebten ein Jahr zusammen.

    Nach Rendier warf ich mich in jedes Bett, wie ein toter Matrose sich ins Meer stürzt. Meine Sexualität war damals getrennt von meinem wirklichen Sein. Denn mein wirkliches Sein ist ein Ozean, in dem alle Wesen sterben und wachsen.

    Das Akzeptieren dieser Trennung zwischen Sexualität und Sein war eine Erfindung der Hölle.

    Immer auf der Suche, reiste ich nach Berlin. Dort lebte ich mit einem Arzt namens Wartburg, dessen Wohnung ich nie verließ. Ich sah niemanden außer ihm. Ich hatte mir gewünscht, mich einem anderen hinzugeben, und jetzt fing ich damit an. Wartburg legte mir ein Hundehalsband an; während ich auf allen vieren war, hielt er mich an der Leine und schlug mich mit einer Hundepeitsche. Er war elegant und kultiviert und sah aus wie Jean Genet.

    Damals war niemand imstande, nach mir zu suchen, mich zu finden, sich zu mir zu gesellen.

    Ich war total beherrscht vom Bedürfnis, mich vollständig und absolut unmittelbar meinem Liebhaber hinzugeben. Mir war klar, ich gehörte nicht deshalb zur Gemeinschaft der Künstler oder Freaks, weil die Wut in mir unerträglich, sondern weil der überwältigende Wunsch, mich zu verschenken, gesellschaftlich nicht akzeptabel war. Bisher hatte ich nicht gefragt, ob es jemanden gibt namens ich.

    Damals las ich zum ersten Mal de Sade. Die Lektüre von Die 120 Tage von Sodom ließ mich jubeln und erschrecken; erschrecken, weil ich mein Ich erkannte, mein Verlangen.

    Das Zusammenleben mit Wartburg endete; ich hatte in Berlin weder Geld noch Freunde. Alles, was ich wollte, war völlig allein zu sein. Ich hatte starke politische Überzeugungen, daher brach ich nach Rußland auf. Dort sprach ich keine Sprache.

    In Rußland ruinierten mich Vereinsamung und meine Lebensweise körperlich so sehr, daß ich fast draufging.

    Seit dieser Zeit habe ich stets eine Angst empfunden, die auf diese Situation zurückgeht: das Bedürfnis, mich einem Liebhaber hinzugeben und gleichzeitig das Bedürfnis, ständig allein zu sein. Solche Einsamkeit kann eine Form des Todes sein. Mein Bruder trieb mich in Rußland auf und brachte mich nach New York zurück.

    Zunächst versuchte ich, meine Angst zu zerstreuen durch den Vorsatz, nur dann zu ficken und mich ficken zu lassen, wenn kein persönliches Engagement damit verbunden war. Ich zog herum wie ein Matrose und schlief mit Männern, die ich im Schlepptau hatte.

    Mein Versuch schlug fehl. Freunde sagten über mich: »Sie ist auf dem besten Weg, jung zu sterben.« Aber ich wollte leben, mehr als die meisten Leute leben, denn nur am Leben zu sein, genügte mir nicht. Wildheit oder die Neugier auf meinen eigenen Körper offenbarte sich als Schönheit. Für meinen Bruder war Sexualität ebenso wichtig wie für mich. Als ich auf einer der Orgien, die mein Bruder veranstaltete, Bourénine traf, wollte ich wieder versuchen, mich einem anderen hinzugeben, jemandem, der intelligenter war als ich und ein überzeugter Radikaler.

    Die Angst verwandelte sich in eine physische Krankheit. Bourénine sagte, er wolle mich vor mir selbst retten, meiner Wildheit, meiner Schwäche. Er schaffte es, daß ich mich sicher genug fühlte für den Versuch, mich ihm hinzugeben.

    Ich war körperlich so geschwächt, daß ich dem Tode nah war. Bourénine dachte, ich würde sterben, und begann mich zu lieben. Ich fing an, ihn zu hassen, trotzdem betete ich ihn an, denn ich dachte, er beschütze mich. Meine Dankbarkeit ist immer ebenso stark gewesen wie meine Neugier, was für die meisten Wilden gilt.

    Selbst damals wußte ich, die meisten Männer sehen in mir eine Frau, die jeden Mann in Sichtweite fickt. Da Bourénine mein Vater sein wollte, wünschte er nicht, daß ich meine eigenen Entscheidungen traf. Ich sah mich zerrissen von zwei Rasereien: geliebt zu werden von einem Mann und andererseits allein zu sein, damit ich anfangen konnte zu sein. Als ich B kennenlernte, war er verheiratet. Mir war das egal, denn eigentlich wollte ich mit niemand anderem zu tun haben. Doch da B mich auf Anhieb so sah, wie ich mich selbst, betrachtete ich ihn als Freund und einen, der nicht versuchen würde, meine Wandlung von etwas Wildem in eine Person zu verhindern.

    Vom ersten Moment an, B und ich sprachen in der Brasserie Lipp miteinander, vertrauten wir uns.

    Ich hatte mein Leben an eine Grenze getrieben, da ich mich absolut einem Liebhaber hingeben mußte und gleichzeitig unbedingt mein »Ich« finden wollte. Nun mußte ich mein Leben noch weiter treiben.

    Bourénines Unfähigkeit, mit dem umzugehen, was mit mir geschah, machte ihn gewalttätig und aggressiv. Während dieser Zeit trafen B und ich uns mehrmals und diskutierten ausschließlich politische Themen. Sobald ich persönliche Gespräche mit ihm begann, fingen wir an, möglichst viel Zeit allein miteinander zu verbringen.

    Wildheit verwandelte sich in Freundschaft.

    Ich hatte bereits geschrieben: Keine Religion: Die ist der Schluß, der sich nie ändern wird. Keine Religion ist meine einzige Stabilität und Sicherheit.

    Mutter bestand so sehr darauf, ich solle ihren Priester aufsuchen, daß ich es tun mußte.

    Laßt mich diesen Regisseur der Menschlichen Moral beschreiben. (Einen der Regissseure der Menschlichen Moral.) Während seine Hände überall herumschlichen, war alles, was er in meinen Worten erkennen konnte, seine eigene Furcht.

    Direkt nachdem ich ihn aufgesucht hatte, schrieb ich in mein geheimes Notizbuch: »Religion ist ein Schild, hinter dem sich der Fromme gegen Leiden, Tod und Leben abschirmt. Fromme haben alles schon entschieden, bevor es eintrifft; Religion ist ein moralisches System, weil sich die Frommen mittels der Religion versichern, daß sie im Recht sind.

    Von jetzt an werde ich für mich selbst entscheiden und nach meinen Entscheidungen leben – Entscheidungen, die dem Begehren entspringen. Ich werde immer Ausschau halten … wie ein Matrose, der seinen riesigen Schwanz in der Hand trägt. Ich werde reisen und lesend reisen. Ich werde nicht lesen, um intelligenter zu werden, sondern um so klar wie möglich zu sehen, daß es in dieser Welt zuviel Betrug und Heuchelei gibt. Ich wußte schon im ersten Augenblick meiner Existenz, daß ich sie haßte, die Heuchler.«

    Sobald ich dies niedergeschrieben hatte, war mir klar, ich war ekelhaft und prächtig allein.

    Ich bin jetzt siebzehn Jahre alt.

    Um mich herum Familienhaushalte wie Termiten, doch ohne deren Phantasie. Nie würden sie sich ein Iota erheben über ihre täglichen Aufgaben, täglichen Verpflichtungen, täglichen Zerstreuungen. Jeder in meiner Umgebung hat das Gespür dafür verloren, daß das Leben sich ständig über eine Grenze treibt und alles aufs Spiel gesetzt ist.

    Aha, es wird also Krieg geben! Hey! Endlich passiert mal was Aufregendes! Die Vereinigten Staaten erwachen wieder zum Leben! Die Regierung der Vereinigten Staaten kriegt mit, jemand ist über dieses oder jenes wütend und läßt sich herab, ihrem Volk ein Ziel für seine Verbitterung anzubieten. Oh, gefühllos sentimentales und seßhaftes Volk; weil deine Regierung eine Demokratie und dir verantwortlich ist, gibt sie dir eine ganze Rasse zum Verabscheuen, eine Nation zum Draufspucken, eine Religion zum Verdammen, alles, was du dir je gewünscht hast. Du bist Männern, die Fummel tragen, unstreitig überlegen. Wieder einmal wirst du in den Augen der Welt Bedeutung erlangen.

    Ihr Amerikaner habt es nötig, im Recht zu sein. Dieser Krieg wird nicht nur ein Weg zu künftigem Ruhm sein: Sobald der Krieg begonnen hat, werdet ihr euch sicher fühlen, weil ihr dann nichts anderes mehr verstehen müßt. Ihr werdet wieder wissen, was gut und böse ist.

    Morgen werdet ihr eure Söhne und vielleicht sogar Töchter, falls ihr feministisch genug seid, fröhlich der Wüste übergeben, weil ihr gefühllos seid und im Krieg so gefühllos sein könnt, daß ihr gar nicht zu existieren braucht. Deshalb ermöglicht der Krieg den Menschen, sich selbst zu übertreffen. Die Engländer wissen dies sehr gut. Sobald ihr Panzer und Tote um euch habt, werdet ihr imstande sein, euch lebendig zu fühlen, wieder einmal mächtig, edelmütig und generös gegenüber der ganzen Welt.

    Alles, was eure Großeltern und Eltern, eure Erzieher und die Gesellschaft euch gezeigt haben, die Straße des Triumphs, den richtigen Weg, den Pfad der wahren Tugend – das RECHTE, das GUTE – ist lediglich die Freiheit, die verstümmelt, und die Selbstbestimmung, die zu Hackfleisch zerfetzt wurde. Der vergewaltigte Körper. Ein Mann ist ein Kind, das die richtige Straße entlanggeht – ein vorgebahnter Weg voller Schilder – denn alles, was er sehen kann, ist das Wort Gefahr.

    ZWEI

    BRIEFE MEINER MUTTER

    AN MEINEN VATER

    (Die Tage des Bettelns, die Tage des Stehlens. Keine Nation, die um des Entkommens willen und durch Feuer entstand, kann vollkommen schlecht sein. Auch wenn Demokratie ein Mythos ist. Mythen schaffen Wirklichkeit, genau das tun Mythen. Was mich betrifft, so bin ich immer um des Feuers willen entflammt.

    (Hört her. Sie dachten, sie könnten ihre

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