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Annie John
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eBook153 Seiten2 Stunden

Annie John

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Über dieses E-Book

Annie Johns Kindheit auf der Karibikinsel Antigua scheint rundum unbeschwert. Wissbegierig, fröhlich und ein wenig frech, wie sie ist, macht sie täglich neue und höchst erstaunliche Entdeckungen: dass auch Kinder sterben können zum Beispiel und wie sie aussehen, wenn sie im Sarg liegen, dass heiße Kräuterbäder gegen die bösen Geister helfen, die frühere Freundinnen von Annies Vater gegen die Familie aufgehetzt haben, dass man von einem Tag auf den anderen vom Mädchen zur "jungen Dame" werden kann – und dass dies nicht nur Gutes mit sich bringt. Denn plötzlich wendet sich Annies geliebte Mutter brüsk von ihr ab. Eine Zeit der Geheimnisse, der Rebellion und der Ablösung beginnt. Bis Annie einen emotionalen Zusammenbruch erleidet, der alles verändert.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum28. Apr. 2022
ISBN9783311702078
Annie John
Autor

Jamaica Kincaid

Jamaica Kincaid was born in St. John’s, Antigua. Her books include At the Bottom of the River, Annie John, Lucy, The Autobiography of My Mother, My Brother, Mr. Potter, and See Now Then. She teaches at Harvard University and lives in Vermont.

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    Buchvorschau

    Annie John - Jamaica Kincaid

    Für Allen, in Liebe

    1

    Gestalten in der Ferne

    Als ich zehn Jahre alt war, dachte ich eine Zeit lang, dass nur Leute starben, die ich nicht kannte. Zu der Zeit, als ich das dachte, hatte ich Sommerferien, und wir wohnten weit draußen an der Ford Road. Sonst wohnten wir eigentlich in unserem Haus an der Dickenson Bay Street, einem Haus, das mein Vater eigenhändig gebaut hatte, aber das brauchte ein neues Dach, und deshalb wohnten wir in dem Haus draußen an der Ford Road. Wir hatten nur zwei Nachbarn, die Lehrerin, Mistress Maynard, und ihren Mann. In jenem Sommer hatten wir eine Sau, die gerade Ferkel bekommen hatte; ein paar Perlhühner; und ein paar Enten, die Rieseneier legten, Eier, die selbst für Enten ungewöhnlich groß waren, sagte meine Mutter. Mir schmeckte nichts außer diesen riesigen Enteneiern, hart gekocht. Ich hatte nichts weiter zu tun, als jeden Tag morgens und abends das Federvieh und das Schwein zu füttern. Ich sprach mit niemandem außer mit meinen Eltern und hin und wieder mit Mistress Maynard, sofern ich sie antraf, wenn ich die Gemüseabfälle holen ging, die sie meiner Mutter zuliebe für das Schwein aufhob, denn genau die fraß das Schwein für sein Leben gern. Von unserem Hof aus konnte ich den Friedhof sehen. Dass es der Friedhof war, wusste ich nicht, bis ich eines Tages meiner Mutter erzählte, ich könne manchmal abends, wenn ich das Schwein fütterte, kleine, stockähnliche Gestalten in der Ferne auf und ab hüpfen sehen, die einen schwarz, die anderen weiß gekleidet. Mir fiel außerdem auf, dass die schwarzen und weißen stockartigen Gestalten manchmal auch vormittags auftauchten. Meine Mutter sagte, wahrscheinlich sei gerade ein Kind beerdigt worden. Kinder würden immer vormittags beerdigt. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass Kinder starben.

    Ich hatte Angst vor den Toten, wie alle, die ich kannte. Wir hatten Angst vor den Toten, weil man nie wissen konnte, wann sie wieder erscheinen würden. Manchmal erschienen sie einem im Traum, aber das war nicht so schlimm, weil sie einen dann meistens nur vor etwas warnten, und außerdem wachst du aus einem Traum wieder auf. Aber manchmal standen sie plötzlich unter einem Baum, an dem man gerade vorbeiging. Dann folgten sie einem womöglich bis nach Hause, und selbst wenn sie nicht bis ins Haus kommen konnten, passten sie einen vielleicht ab und folgten dir auf Schritt und Tritt; und dann ließen sie nicht mehr von einem ab, bis man mit ihnen ging. Meine Mutter wusste von vielen Leuten, die auf diese Weise gestorben waren. Meine Mutter wusste überhaupt von vielen Leuten, die gestorben waren, einschließlich ihrem eigenen Bruder.

    Nachdem ich das mit dem Friedhof entdeckt hatte, stellte ich mich immer in den Hof und wartete auf die nächste Beerdigung. An manchen Tagen gab es keine Beerdigungen. »Niemand gestorben«, sagte ich dann zu meiner Mutter. An manchen Tagen erspähte ich die Pünktchen, wenn ich gerade aufgeben und hineingehen wollte. »Warum sind sie so spät dran?«, fragte ich dann meine Mutter. Vermutlich hätte es jemand nicht ertragen, dass der Sargdeckel geschlossen wurde, und da hätte der Bestatter aus Gefälligkeit den Dingen zu lange ihren Lauf gelassen, sagte sie. Der Bestatter! Auf dem Weg in die Stadt kamen wir immer an der Werkstatt des Bestatters vorbei. Davor stand auf einem kleinen Schild:

    STRAFFEE & SÖHNE

    BESTATTUNGSUNTERNEHMER

    UND MÖBELSCHREINER

    An dem Geruch nach Pechkiefernholz und Lack, der in der Luft lag, merkte ich immer schon von Weitem, dass wir uns diesem Ort näherten.

    Später zogen wir wieder in unser Haus in der Stadt, und ich hatte keine Aussicht mehr auf den Friedhof. Noch immer war niemand gestorben, den ich kannte. Eines Tages starb ein Mädchen, das kleiner war als ich, ein Mädchen, dessen Mutter mit meiner Mutter befreundet war, in den Armen meiner Mutter. Ich kannte dieses Mädchen überhaupt nicht, ich hatte sie vielleicht ein- oder zweimal flüchtig im Vorbeigehen gesehen, wenn sie mit ihrer Mutter aus unserem Hof kam, und ich versuchte, mir alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich je über sie gehört hatte. Sie hieß Nalda; sie hatte rote Haare; sie war ganz knochig; sie mochte nichts, was man ihr zu essen gab. Dafür aß sie gern Dreck, und ihre Mutter musste sie streng beaufsichtigen, um sie daran zu hindern. Ihr Vater fertigte Backsteine an, und ihre Mutter kleidete sich in einer Art und Weise, die mein Vater nicht kleidsam fand. Ich hörte, wie meine Mutter meinem Vater genau beschrieb, wie Nalda gestorben war. Sie hatte Fieber gehabt, die Erwachsenen bemerkten, dass sie irgendwie anders atmete, da riefen sie ein Taxi und schafften sie schleunigst zu Doktor Bailey, und als sie gerade über eine Brücke fuhren, gab Nalda einen langen Seufzer von sich und wurde schlaff. Doktor Bailey stellte fest, dass sie tot war, und als ich das hörte, war ich so froh, dass er nicht mein Arzt war. Meine Mutter bat meinen Vater, den Sarg für Nalda zu machen. Das tat er und schnitzte Sträuße aus winzigen Blumen auf die Seitenwände. Naldas Mutter weinte so viel, dass meine Mutter sich um alles kümmern musste, und da Kinder nie von den Bestattern hergerichtet wurden, musste meine Mutter das kleine Mädchen für seine Beerdigung zurechtmachen. Von da an sah ich die Hände meiner Mutter mit anderen Augen. Sie hatten dem toten Mädchen über die Stirn gestrichen; sie hatten es gebadet und gekleidet und in den Sarg gelegt, den mein Vater gemacht hatte. Wenn meine Mutter aus dem Haus des toten Mädchens zurückkam, roch sie nach Pimentöl – ein Duft, von dem mir noch lange Zeit danach schlecht wurde. Eine Weile, nicht sehr lange allerdings, konnte ich es nicht ertragen, von meiner Mutter gestreichelt oder gebadet zu werden, oder dass sie mein Essen berührte. Vor allem den Anblick ihrer Hände, wenn sie reglos in ihrem Schoß lagen, konnte ich nicht ertragen.

    In der Schule erzählte ich allen meinen Freundinnen von diesem Tod. Ich nahm sie einzeln beiseite, damit ich die Einzelheiten wieder und wieder berichten konnte. Sie hörten mir mit offenen Mündern zu. Dann erzählten sie mir ihrerseits von Leuten, die sie gekannt oder von denen sie gehört hatten, dass sie gestorben seien. Und ich hörte mit offenem Mund zu. Eine hatte einen Nachbarn sehr gut gekannt, der bei einem Picknick zu viel gegessen hatte und danach schwimmen gegangen und ertrunken war. Eine hatte einen Vetter, der eines Tages aus heiterem Himmel einfach tot umgefallen war. Und eine kannte einen Jungen, der gestorben war, nachdem er irgendwelche giftigen Beeren gegessen hatte. »Nicht zu fassen«, sagten wir zueinander.

    Es gab ein Mädchen namens Sonia, das ich sehr liebte – und darum immer quälte, bis sie weinte. Sonia war kleiner als ich, obwohl sie fast zwei Jahre älter war, und sie war dumm – der erste echte Dummkopf, der mir je begegnet war. Sie war so dumm, dass sie manchmal nicht einmal mehr wusste, wie sich ihr eigener Name schrieb. Ich bemühte mich immer, ein bisschen früher in der Schule zu sein, um ihr meine Hausaufgaben zum Abschreiben zu geben, und im Unterricht steckte ich ihr die Lösungen von Rechenaufgaben zu. Meine Freundinnen behandelten sie wie Luft, und jedes Mal, wenn ich was Nettes über sie sagte, verzogen sie die Mundwinkel und gaben verächtliche Laute von sich. Ich fand sie schön, und das sagte ich auch. Sie hatte lange, dichte schwarze Haare, die sich flach über ihre Arme und Beine breiteten; und dann ihren Nacken und Rücken hinunterfielen, so weit man sehen konnte, bis dahin, wo sie von ihrer Schuluniform verschluckt wurden, dieselben langen, dichten schwarzen Haare, nur dass es sich hier auseinanderfächerte, als wäre ein Windhauch hineingefahren. In der Pause kaufte ich ihr immer etwas Süßes – etwas, das sich »gefrorener Spaß« nannte – mit Geld, das ich aus dem Geldbeutel meiner Mutter gestohlen hatte, und dann setzten wir uns unter einen Baum im Schulhof. Ich starrte sie unverwandt an, mal mit zugekniffenen, mal mit weit aufgerissenen Augen, bis sie unter meinem Blick ganz zappelig wurde. Dann zog ich sie an den Haaren auf ihren Armen und Beinen – erst sachte und dann schrecklich fest, zog die Haare zwischen den Fingerspitzen straff, bis sie aufschrie. Ein paar Wochen lang kam sie nicht zur Schule, und es hieß, ihre Mutter, die in anderen Umständen gewesen war, sei plötzlich gestorben. Ich konnte mich nie wieder dazu durchringen, mit ihr zu reden, obwohl wir noch zwei Jahre lang Klassenkameradinnen waren. Es war etwas so Erbärmliches, ein Mädchen, dessen Mutter gestorben war und es ganz allein gelassen hatte auf der Welt.

    Nicht lange nachdem das kleine Mädchen auf der Fahrt zum Arzt in den Armen meiner Mutter gestorben war, brach Miss Charlotte, unsere Nachbarin von gegenüber, mitten im Gespräch mit meiner Mutter zusammen und starb. Wenn meine Mutter sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie zu Boden gestürzt. Als ich an jenem Tag aus der Schule nach Hause kam, sagte meine Mutter: »Miss Charlotte ist tot.« Ich hatte Miss Charlotte gut gekannt, und ich versuchte, sie mir tot vorzustellen. Es ging nicht. Ich wusste nicht, wie man aussah, wenn man tot war. Ich wusste, wie Miss Charlotte aussah, wenn sie vom Markt kam. Ich wusste, wie sie aussah, wenn sie in die Kirche ging. Ich wusste, wie sie aussah, wenn sie ihren Hund ermahnte, er solle aufhören, mich die Straße hinauf- und hinunterzuscheuchen und mir Angst einzujagen. Einmal, als Miss Charlotte krank gewesen war, hatte meine Mutter mich mit einer Schüssel Essen zu ihr geschickt, und da hatte ich sie im Nachthemd im Bett liegen sehen. Miss Charlotte wurde in einem Sarg begraben, den nicht mein Vater gemacht hatte, und ich durfte nicht mit zur Beerdigung.

    In der Schule hatten fast alle, die ich kannte, schon mal einen Toten gesehen, und nicht etwa den Geist eines Toten, sondern einen richtigen Toten. Meine Nebensitzerin hörte plötzlich auf, am Daumen zu lutschen, weil ihre Mutter ihn in Wasser gewaschen hatte, in dem ein Toter gebadet worden war. Ich sagte, ihre Mutter müsse sie angeschwindelt haben, bestimmt sei es gewöhnliches Wasser gewesen, meine Mutter würde mich nämlich auch immer genauso anschwindeln. Aber sie kannte meine Mutter und sagte, sie sehe überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und ihrer Mutter.

    Ich fing an, zu Beerdigungen zu gehen. Nicht als offizieller Trauergast, da ich niemand von den Verstorbenen kannte, und ohne die Erlaubnis meiner Eltern. Ich besuchte die Leichenhallen oder die Wohnstuben, je nachdem, wo die Toten aufgebahrt lagen, damit die Trauernden sie ein letztes Mal sehen konnten. Sobald ich die Kirchenglocke läuten hörte, wie sie immer läutete, wenn jemand gestorben war, versuchte ich herauszubekommen, wer gestorben war und wo die Trauerfeier stattfinden würde – bei den Betreffenden zu Hause oder in der Leichenhalle. Die Leichenhalle lag etwa an meinem Heimweg, aber zu den Häusern mancher Leute musste ich mitunter in die entgegengesetzte Richtung gehen. Anfangs trat ich nicht ein; ich blieb draußen stehen und beobachtete das Kommen und Gehen, hörte nahe Verwandte und Freunde unglaublich laute Schreie und Klagelaute ausstoßen und beobachtete dann, wie der Trauerzug sich zur Kirche in Bewegung setzte. Aber dann fing ich doch an hineinzugehen und schaute es mir an. Als ich zum ersten Mal tatsächlich einen Toten sah, wusste ich nicht, was ich denken sollte. Da es niemand war, den ich kannte, konnte ich keine Vergleiche anstellen. Ich hatte die Person nie lachen oder lächeln oder die Stirn runzeln oder ein Huhn aus einem Garten scheuchen sehen. Daher schaute und schaute ich, so lange ich konnte, ohne dass irgendjemand merkte, dass ich bloß aus Neugier da war.

    Eines Tages starb ein Mädchen in meinem Alter. Ich kannte weder ihren Namen noch wusste ich Näheres über sie, außer dass sie so alt war wie ich und dass sie einen Buckel hatte. Sie besuchte eine andere Schule als ich, und am Tag ihrer Beerdigung bekam ihre ganze Schule frei. An meiner Schule konnten wir über nichts anderes reden als: »Hast du das bucklige Mädchen gekannt?« Ich erinnerte mich, einmal in der Bibliothek hinter ihr angestanden zu haben, um Bücher auszuleihen; damals sah ich eine Fliege auf ihrem Uniformkragen landen und darauf hin und her spazieren, da der Kragen flach auf

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