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Jack Holmes und sein Freund
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eBook484 Seiten6 Stunden

Jack Holmes und sein Freund

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Über dieses E-Book

New York, Anfang der Sechziger: Jack Holmes hat sich in einen Mann verliebt. Das Objekt seiner Begierde, der junge Schriftsteller Will, arbeitet gemeinsam mit Jack für ein Kunstmagazin. Die beiden werden gute Freunde, auch wenn Jacks unerfüllte Sehnsucht dadurch nur noch leidenschaftlicher und verzweifelter wird. Immer wieder kommt er Will nahe - und immer wieder fragt er sich, ob sich sein Traum je erfüllen wird. Mit Leichtigkeit und Eleganz erzählt Edmund White die Geschichte einer Freundschaft, die Jack und Will durch die Jahrzehnte trägt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum28. Nov. 2012
ISBN9783867874809
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    Buchvorschau

    Jack Holmes und sein Freund - Edmund White

    Für Austin Cooper

    Inhalt

    Erster Teil

    Kapitel 1.

    Kapitel 2.

    Kapitel 3.

    Kapitel 4.

    Kapitel 5.

    Kapitel 6.

    Kapitel 7.

    Zweiter Teil

    Kapitel 1.

    Kapitel 2.

    Kapitel 3.

    Kapitel 4.

    Kapitel 5.

    Kapitel 6.

    Dritter Teil

    Kapitel 1.

    Kapitel 2.

    Kapitel 3.

    Epilog

    Danksagung

    Über den Autor

    Impressum

    Erster Teil

    1.

    Jack, der einer exzentrischen Familie aus dem Mittleren Westen entstammte, war sich nicht ganz darüber im Klaren, was ein Gentleman anderes war, als jemand, der den Damen die Tür aufhielt und in gemischter Gesellschaft nicht fluchte. Er hatte ein Internat besucht, aber eines außerhalb von Detroit, auf das die ›Automobiler‹ ihre Söhne schickten. Man beurteilte einander nach den Autos, nicht nach Umgangsformen oder der Kleidung. Und auch wenn die Jungs Jackett und Krawatte tragen mussten, kauften die meisten ihre Klamotten von der Stange und trugen sie ungebügelt und ohne Stil. Wer sollte sich schon darum scheren, wie er angezogen war, wenn er in einer Corvette, einem Austin-Healey oder einem Thunderbird die laubbedeckten Hügel der Bloomfield Hills rauf- und runterbrettern oder sich auf der Woodward Avenue eine Wettfahrt mit einem älteren Geschäftsmann liefern konnte?

    Auch wenn Jack seine Nase gerne in Bücher steckte und auf seine Weise kultiviert war, war er an schnoddrige Jungs gewöhnt, die in einer lauten, gänzlich männlichen Welt zuschlagender Spindtüren, dreckiger Knie und gebrochener Nasen lebten. Hier wurden die Mahlzeiten in einem riesigen, pseudo-gotischen Speisesaal, den sie die »Kathedrale der Kohlenhydrate« nannten, gierig heruntergeschlungen. Im Detroit der fünfziger Jahre konnte niemand Pluspunkte sammeln, weil er belesen war oder Europa besucht hatte – na ja, ein Besuch ging in Ordnung. Reisen waren noch immer sehr kostspielig und führten selten ins Ausland. Die intelligente Tochter einer wohlhabenden Familie lebte vielleicht mal für ein Semester bei einer französischen Familie in Tours, wo man angeblich den besten Akzent hatte. Nach sechs Monaten brachte sie dann kaum einen richtigen Satz auf Französisch heraus, hatte aber fünf Kilo abgenommen und sich dunkle, hochgeschlossene Kleidung und ein überzeugendes französisches ›R‹ zugelegt (man konnte die amerikanischen Mädchen hören, wie sie sich während ihrer Heimreise auf der Queen Mary vertraulich fragten »Wie ist dein ›R‹?«). Die Jungs dachten gar nicht erst daran, sich an so etwas Qualvollem und Peinlichem wie einer anderen Sprache zu versuchen; sie würden allesamt Automobilbau an einer gewöhnlichen Universität in der näheren Umgebung studieren.

    Jack wäre ganz gerne ins Ausland gegangen, aber sein Vater, ein Chemieingenieur, konnte darin keinen Sinn erkennen. Er schickte seinen Sohn an die Universität von Michigan, weil sie auf halber Strecke zwischen seinem Haus in Cincinnati und seinem Sommerhäuschen am Walloon Lake in Michigan lag. Jack hatte sich erfolgreich in Harvard beworben und dort sogar ein Stipendium in Aussicht gestellt bekommen. Aber wie sich herausstellte, verdiente sein Vater dafür zu viel, sodass die Zusage letztlich nicht mehr als ein Lohn für Jacks Mühen war. Und Jacks Vater sagte, der Schlag solle ihn treffen, wenn je ein Sohn von ihm an einer Kommunisten-Universität wie Harvard studieren würde.

    Aber sogar an der Universität von Michigan schaffte Jack es, sich gleichzeitig als Sozialist zu bezeichnen und der südstaatlich geprägten Studentenverbindung seines Vaters beizutreten, in der sie während der Initiationszeremonie Masken mit Augenschlitzen trugen, Schwerter hielten und gelobten, die Reinheit der Frauen der Südstaaten zu beschützen. Sie hatten keine Schwarzen oder Juden als Mitglieder (die gutaussehenden, dunkelhaarigen Juden gehörten alle zur ZBT am anderen Ende der Straße), aber Jack hatte viele jüdische und chinesische Freunde (sein Hauptfach war Chinesische Kunstgeschichte), und er kannte sogar einen schwarzen Dichter, den all seine Bohemien-Freunde abgöttisch verehrten: Omar. Wenn Omar ihnen von Rilke erzählte, konnten sie Engelsflügel schlagen hören.

    Jack hatte befürchtet, dass sein Vater etwas gegen seinen Wunsch haben würde, Chinesische Kunstgeschichte zu studieren. Aber nein, er dachte, dass China die Zukunft und Jacks Wahl weise und vorausschauend sei. Was Jack seinem Vater lieber verschwieg, war die Tatsache, dass er die Malerei der mittleren Quing-Dynastie und Klassisches Chinesisch studieren wollte und kein Interesse daran hatte, das moderne Mandarin zu beherrschen. Er hatte auch nicht das Bedürfnis, nach China zu reisen; das Land seiner Träume lag ganz in der Vergangenheit. Er besuchte den Sprachkurs ein paarmal, damit sein Vater keinen Verdacht schöpfen würde, aber die seltsamen Klänge beschämten ihn so, dass er nicht in der Lage war, die Sprache laut zu sprechen. Einem seiner Dozenten half er, eine Geschichte der buddhistischen Kunst aus dem Klassischen Chinesisch zu übersetzen.

    Er war ein hochgewachsener Kerl mit Bauchmuskeln so hart wie ein Schildkrötenpanzer. Sein glattes Haar war von einer Farbe, die man als schmutzig-blond bezeichnet hätte, aber in Wirklichkeit war es immer peinlich sauber. Er benutzte das Shampoo von Breck, obwohl er wusste, dass es ein Produkt für Frauen war. Mädchen, die ihn mochten, sagten, er sähe aus wie der Junge von nebenan. Und wenn sie ihn wirklich mochten, sagten sie, dass man ihn sich als Pitcher in einem Baseball-Team vorstellen könne. Auf jedes Kompliment, jedes Interesse an seiner Person sprang er sofort an (was er anschließend jedes Mal bedauerte). Er fragte sich, ob seine merkwürdigen Eltern ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten.

    Im Internat schauten die Jungs an den Samstagabenden gemeinsam mit Schülerinnen des benachbarten Mädcheninternats Filme. Die Jungen, besonders die, die während des gesamten Schuljahres im Internat blieben, waren in dieser Gesellschaft unbeholfen wie Mönche. Es war schwer, sie dazu zu bewegen, sich mit ihren Gästen zu unterhalten, wenn nach dem Film Kekse und Apfelwein serviert wurden. Die Tagesschüler, die an den Wochenenden für gewöhnlich nicht da waren, waren wesentlich entspannter, wenn sie doch mal an den Veranstaltungen teilnahmen. Sie behandelten Frauen so, als würden sie immerhin derselben Spezies angehören, während die anderen Jungs rumdrucksten, seltsame Farben annahmen und sich gegenseitig in die Rippen pufften. Fast so, als hätten sie es mit gerade erst erstandenen Vollblutstuten zu tun: wertvoll, aber schwer zu reiten.

    Jack verstand sich mit Jungs und Mädchen gleichermaßen, weil er der klassische ›nette Kerl‹ war. Es war seine Art, völlig Fremde mit einer sehr spezifischen, fast abwegigen Frage anzusprechen. So konnte es beispielsweise vorkommen, dass er bei einer studentischen Fotoausstellung ganz unvermittelt zu einem Unbekannten sagte: »Man kann deutlich sehen, dass all diese Bilder von ein und derselben Person stammen, nicht wahr? Alle Menschen sehen aus, als kämen sie direkt aus den Dreißigern.« So seltsam diese Art der Annäherung auch sein mochte, erforderte sie doch von seinem Gesprächspartner nicht mehr als eine Meinung – als ob man sich immer schon gekannt hätte.

    Er musste nie darüber nachdenken, wie weit er mit einem Mädchen gehen wollte, da er mit allen eng befreundet war. An einem Frühlingssonntag konnte er mit seiner Freundin Annie Hand in Hand spazieren gehen; dabei schien sie so entspannt und keusch zu sein wie er selbst. Oft bot sie sogar einer Freundin an, sie zu begleiten. Dann zogen sie über das weite Gelände und machten ironische Bemerkungen über den griechischen Tempel, der von vornherein als Ruine angelegt worden war, weil umgestürzte Säulen vermeintlich pittoresker aussehen als stehende. Mal spotteten sie über den fetten, trägen Goldfisch im Jonah-Teich, mal über den edwardianischen Prunk des Verbindungshauses mit seinen seidenen Lampenschirmen und den schweren, reich verzierten Eichenmöbeln. Jack und seine Freunde drückten sich immer ironisch aus, doch oft wussten sie nicht, ob sie die Themen, über die sie sprachen, ernst nahmen oder nicht. Ironie diente ihnen nur dazu, sich überlegen statt unsicher zu fühlen.

    Auf dem College in Ann Arbor hatte er einen intelligenten New Yorker als Zimmernachbarn. Howard war ein Chaot, der im Unterricht ständig einschlief und seine Klamotten nie wusch. Abends, wenn sie beide wach waren und lernten, hörten sie immer und immer wieder Prokofjews 1. Sinfonie. Die etwas säuerlichen Variationen mozartscher Kompositionen klangen, als hätte man eine gepuderte Perücke mit Zitronensaft ausgespült. Howard war entsetzlich dürr, grinste die ganze Zeit und entblößte dabei sein breites und tiefrosafarbenes Zahnfleisch; dann beugte er seine mageren Schultern nach vorne, und sein ganzer Körper bebte vor lautlosem Lachen. Er ›mimte ein Lachen‹, wie Schauspieler sagten. Howard spottete gern, war gleichzeitig aber auch freundlich.

    Jack wusste, dass Howard, der New Yorker Jude, ihn amüsiert als einen typischen WASP betrachtete, einen weißen angelsächsischen Protestanten aus dem Mittleren Westen. Ihm war bewusst, dass beide sich selbst für ziemlich durchschnittlich, den jeweils anderen aber für einigermaßen exotisch hielten. Sie kamen bestens miteinander aus. Jack hatte bereits sechs Jahre auf einem Internat zugebracht und konnte beinahe jeden tolerieren, ja an den meisten Menschen sogar Gefallen finden. Er nahm einfach ein Stück Kreide, zog eine Linie durch die Mitte des Zimmers und sagte Howard, dass er seinen Schmutz auf seiner Seite lassen und nicht in Jacks Bereich eindringen solle. Howard zog die Schultern hoch und tat wieder so, als würde er sich, amüsiert von Jacks typischer WASP-Pingeligkeit, vor Lachen ausschütten. Jack musste schmunzeln, wenn er daran dachte, wie wenig er dem gewöhnlichen WASP nach Howards Vorstellung entsprach. Er empfand sich durch und durch als Schöpfung seiner selbst, während Howard bei ihm an Hauslehrer und Halma-Turniere dachte, an Forellen, die aus kaltem Flusswasser gefischt wurden, und an Packard-Cabrios, auf deren Rückbänken man sich unbeholfen an der Tanzpartnerin zu schaffen machte. Nichts konnte von der Wirklichkeit, von dem grotesken Chaos seiner Kindheit weiter entfernt sein.

    Von seiner Studentenverbindung wurde Jack sehr geschätzt, da er gute Noten bekam, während mindestens zehn andere wegen ihrer schlechten Leistungen bereits verwarnt worden waren. Sie waren allesamt liebenswerte, aber hoffnungslose Fälle – sie waren mittelprächtige Sportler und jämmerliche Studenten, die sogar daran scheiterten, einen Festzugswagen für die Homecoming-Parade zu organisieren. Sie schütteten sich dermaßen zu, dass sie regelmäßig auf ihre Freundinnen kotzten, einen Filmriss hatten und sich am nächsten Tag von ihren Exzessen berichten lassen mussten. Dabei schauten sie verlegen und amüsiert, als ob sie unter Hypnose auf einen Abgrund zugelaufen wären, sich nun aber an nichts mehr erinnern könnten. Die Verbindung hatte ein hübsches Haus: Pseudo-Tudor-Stil, Fachwerk an den Außenwänden und innen eine Galerie, auf der Caruso früher einmal gesungen hatte. Es war jedoch ziemlich heruntergekommen.

    Die Jungs redeten viel über Muschis, aber Jack fragte sich, wo sie ihre Bräute eigentlich flachlegten. Alle Veranstaltungen der Verbindung fanden unter Aufsicht statt, und ohnehin hatte kaum jemand von ihnen ein Auto. (Allerdings hatten ein paar Studenten der höheren Semester ein Zimmer außerhalb des Campus gemietet.) Außerdem lebten die meisten der Mädchen ebenfalls in Verbindungen und hatten strikte Sperrstunden. In den letzten beiden Maiwochen, wenn es draußen endlich wärmer wurde, setzten die Pärchen sich nachts in den Botanischen Garten ab.

    Dann gab es da noch die anderen Mädchen, die Bohème, die ständig rumalberten und sich selbst Beatniks nannten. Nur verachteten sie die Jungs aus den Verbindungen. Die Bohemiennes lebten ebenfalls in Wohnheimen, aber am Nachmittag oder an den Abenden schienen sie keine Verpflichtungen zu haben. Man erkannte diese Mädchen an ihren schwarzen Strümpfen, ihren schwarzen Rollkragenpullovern, ihrem schwarzen Freund und daran, dass sie im mittleren Raum des Studentenwerkes saßen. Jack und seine Jungs saßen im ersten Raum, Nerds und Fremde saßen im dritten; die selbsternannten Beatniks saßen stets im mittleren Raum. Dort leistete Jack ihnen oft Gesellschaft, um sich am Kaffee zu berauschen und endlos mit Wendy, Alice, Omar oder Rebekkah zu quatschen. Eigentlich hätte er für Biologie lernen oder einen Aufsatz über Buddhismus schreiben sollen, aber wenn so ein Gespräch erst mal in Gang war, konnte er sich schnell einreden, dass dieser Esprit und dieses Feuer, das Gelächter und vor allem die Theorien über das Leben und die Liebe – dass all das wichtiger und bedeutender war als schnödes Studieren. Auf dem Internat war jeder Moment des Tages von der Schulglocke reguliert worden, aber hier an der Universität hatte Jack nur wenige Veranstaltungen zu besuchen, und niemand nahm Notiz davon, wenn ein Student eine Vorlesung sausen ließ.

    Es entsprach vielleicht genau Jacks durch und durch geschmeidigem Wesen, dass sowohl die Bohemiennes als auch die Jungs aus seiner Verbindung sich mit ihm wohlfühlten und ihn als einen der ihren betrachteten. Er war ein netter Kerl, der wusste, wie er anderen gefallen konnte; einer seiner Freunde sagte, er solle Diplomat werden. Aber in seinem Herzen wusste Jack, dass das nicht seinem eigentlichen Naturell entsprach. Am Ende eines Abends mit Freunden war er regelmäßig erschöpft.

    Als er anfing zu studieren, nahm er sich ein kleines Zimmer im hinteren Teil eines alten Holzhauses. Er teilte sich das Badezimmer mit zwei anderen Jungs, aber das machte ihm nichts aus. Er war es gewohnt, in Gruppen zu leben. Einer der Jungen auf seiner Etage war ein Kunststudent, der niemals lächelte. Wenn er es doch tat, wirkte es asynchron – er begann zu lächeln, wenn alle anderen bereits wieder ein ernstes Gesicht machten. Dann ließ er ein schmerzvolles Lächeln zu, das sich nur auf einer Gesichtshälfte abspielte, als hätte er eben herausgefunden, dass menschliche Wesen es nun einmal so handhaben und dass er sich die Mühe machen sollte, es ihnen gleichzutun.

    Sein Name war Paul, und zwei- oder dreimal lud er Jack in sein Zimmer ein, auf eine Tasse Espresso, die er in einem italienischen Espressokocher auf seiner Herdplatte zubereitete.

    »Hey, toll«, sagte Jack, fasziniert davon, wie viel Aufhebens jemand um solch einen winzigen schwarzen Schluck machen konnte. Dann fügte er hinzu: »Diese großen Baseballspieler mag ich wirklich.« Dabei nickte er in Richtung einer Leinwand, die so riesig war, dass man sie nur durch geschicktes Manövrieren durch die Tür und die Treppe hinunter hätte bringen können. Manche Stellen darauf waren detailliert und realistisch ausgearbeitet (das Gesicht eines Spielers oder der Fanghandschuh eines anderen), aber der Rest war verschwommen und ertrank in ineinanderfließenden Farben – einem verwaschenen Grün, das vom Stadionboden überschwappte und sich in die Umgebung ergoss, und einem Himmel, dessen Blau die Tribünen tränkte.

    »Tatsächlich?«, fragte Paul und zog eine Braue nach oben. Aber seine verzögerte Andeutung eines Lächelns machte deutlich, dass er sich freute.

    Pauls Antworten zielten immer leicht daneben, und Jack fühlte sich in diesen Momenten nicht wohl. Er mochte komplexe Dinge nicht. Vielleicht weil seine Kindheit so stürmisch gewesen war, dass er sich nun nach ruhiger See sehnte und die Flucht ergriff, sobald er Turbulenzen am Horizont ausmachen konnte.

    Und doch fand er Paul anziehend. Seinen langen, unbehaarten Körper, teigblass, der sich hier und da zu einer großen Nase, einem schmalen, nach unten gezogenen Mund oder einem übergroßen Adamsapfel auswölbte. Er hatte keine Achselhaare, was Jack wusste, da Paul mit nacktem Oberkörper malte, oft mit nichts als seinen Jockey-Shorts bekleidet, die aussahen, als seien sie zwei Nummern zu klein, zu eng und verdächtig gelblich. Der Gummizug an einem der Beine war gerissen und baumelte herunter wie etwas, das kurz vorher noch am Leben gewesen war. Seine Brustwarzen waren lächerlich klein und dunkel: Vogelbeeren, die der Frost auf dem Gewissen hatte. Seine Rippen waren so deutlich sichtbar wie Finger, die man um eine Tasse legte. Wendy, seine breithüftige Freundin, die fast aus ihren ausgewaschenen Jeanshosen platzte und unbekümmert in ihrem ›University of Michigan‹-Pullover herumlief, mit ihrem schwarz glänzenden Pferdeschwanz, der auf ihrer Schulter saß wie ein teures Haustier, lächelte immerzu schuldbewusst. Sie wusste, dass ihr üppiger Körper ihren asketischen Liebhaber erheiterte, ihn aber auch leicht brüskieren konnte. Jeder ärgerte Wendy, und jeder liebte sie, als wäre sie ein prähistorisches Fruchtbarkeitssymbol, das man eines Tages inmitten des Teeservices gefunden hatte. Dennoch schien Paul oft zu leiden, sowohl unter Jacks berechnender Sanftheit als auch unter Wendys ständigem Pendeln zwischen Überschwänglichkeit und Schüchternheit. Er musste nur still werden und seine Freunde unnachgiebig anschauen, um sie in Verlegenheit zu bringen.

    Jack malte sich aus, dass Paul mit vierzig verbittert und zurückgezogen leben würde, aber jetzt war er gerade erst zwanzig – noch war er neugierig und schien seltsam unvorbereitet auf das Leben. Er wusste noch nicht ganz, wie er funktionierte oder was er vom Leben wollte.

    Einmal lud Paul Jack auf eine Tasse Tee ein; er malte komplett unbekleidet. Jack saß auf einem Klappstuhl, den Paul mit Zeitungen abgedeckt hatte, um Jacks Kleidung zu schützen. Jack fühlte sich unwohl; weshalb, wusste er nicht. Himmel noch mal, er hatte das hier doch nicht arrangiert. Andererseits war das vielleicht einfach die Art, wie Bohemiens dachten, oder eben nicht dachten – es bedeutete ihnen nichts, Kleidung war optional … er war sich sicher, dass sein Gesicht leuchtend rot war. Paul würde es mit Sicherheit bemerken und darüber lachen, wie spießig er war. Ja, genau das war es: Diese Veranstaltung war ein Test für Jack – und Jack würde durchfallen.

    Paul reichte ihm die Tasse und sagte: »Vielleicht stehst du mir ja mal Modell. Ich könnte natürlich nicht viel zahlen – so zwei Kröten die Stunde, etwa.«

    »Ja, vielleicht. Wenn mein Stundenplan …«

    »Schon klar, schon klar«, sagte Paul und lächelte sarkastisch, als hätte Jack eine Niederlage eingestanden.

    Als er in dieser Nacht in seinem schmalen Bett lag, das zu kurz für seinen hoch aufgeschossenen Körper war, wälzte sich Jack so oft herum, dass seine Füße schließlich in der Kälte baumelten. Schließlich legte er sich auf die Seite und zog die Knie an seinen Brustkorb. Langsam rieb er seine Füße aneinander, um sie aufzuwärmen. Er ärgerte sich über Paul, der ihn in die gleiche lächerliche Kategorie wie die dickärschige Wendy gesteckt hatte. Es wäre so einfach zu glauben, dass Paul etwas Besseres sei, mit seinem herablassenden Lächeln, seiner kühlen Arroganz, dem kobaltblauen Farbstreifen über seinen Rippen, seinen weit ausholenden Schritten, den angespannten Pobacken, einem Skrotum, so rot und geädert wie ein Herbstblatt im Regen, und dem Penis, so groß und dunkel wie ein Blutegel, den man mit Entsetzen entdeckt, mit Salz bestreut und von der Haut abzieht.

    Jack mied Paul nach dieser Begebenheit. Dann und wann hörte er Wendy lachen, während die beiden Sex hatten. Ihr Lachen drang durch zwei Türen, und ihre Ekstase erregte ihn. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich in seinem eigenen Bett wand, wie ihr Körper über die Kanten quoll, wie sie ihre Arme hob, wobei sich ihre runden Melonenbrüste in lange Kürbisse verwandelten, unten voll, oben schmal. Pauls Hüften waren gerade einmal halb so breit wie die von Wendy. Jack war der Unterschied aufgefallen. Er wurde schließlich so geil, dass er sich einen runterholte, während er sich die beiden vorstellte, Pauls Pobacken, deren Grübchen sich mit jedem Stoß wieder vertieften, und Wendy, die jauchzte, als hielte sie ein unsichtbares Tamburin in ihren Händen.

    In seiner Arbeit fand Jack ein wenig Ablenkung von seinen sexuellen Fantasien. Chinesische Kunstgeschichte machte ihm Spaß, und er war stolz auf die vielen Details, die er wusste, auch wenn sie nur ein paar ausgewählte Momente von mehr als vier Jahrtausenden betrafen. Er kannte sich gut mit antiken Bronzen aus, wusste, wie man sie gegossen hatte, indem man heute vergessene Wachstechniken nutzte; er kannte sich mit all diesen Drachen, den Wolken und Windungen aus. Er wusste alles über die Gelehrten-Malerei der Yuan-Dynastie und wie sie als eine Form des Protests gegen die mongolischen Eroberer eingesetzt wurde. Der vom Blitz versehrte Baum war der tapfere, widerständige Maler selbst. Jack kannte sich gut in der Landschaftsmalerei der Song-Dynastie aus, er wusste, wie man den ›negativen Raum‹ verwendete und wie man die drei Ebenen – Himmel, Berge und Menschen – in Relation zueinander setzte. Er mochte die akademische Kunst der Ching-Dynastie, die sich sonst niemandem erschloss. Sich Tausende von chinesischen Schriftzeichen zu merken, machte ihm dagegen gar keinen Spaß. Aber selbst dieses stupide Auswendiglernen brachte den Lärm in seinem Kopf zum Verstummen. Er fertigte sich Hunderte von Karteikarten an (mit dem chinesischen Zeichen und der richtigen Aussprache auf der einen Seite sowie der englischen Bedeutung auf der anderen) und arbeitete sie durch, wann immer er in den Räumen des Studentenwerks ein paar Momente für sich hatte. Die Leute schauten ihn neugierig an, wenn er mit seinen Karten Solitär spielte. Chinesische Kunstgeschichte ließ ihn geheimnisvoller erscheinen, was Jack gefiel.

    Sein Vater sagte, er würde ihn sein Studium nicht abschließen lassen, wenn er nicht Kurse in Maschinenschreiben und freier Rede absolvieren würde. Jack war fürchterlich schlecht darin, Vorträge zu halten; er war so schüchtern, dass sein Dozent ihn als ›unterkühlt‹ bezeichnete und sagte, er könne niemanden von gar nichts überzeugen. In ihren Beurteilungen gaben die anderen Studenten an, dass sie ihn als ›hochnäsig‹ oder ›unnahbar‹ empfanden.

    Wendy hatte eine Freundin namens Hillary, mit der sie Jack bekannt machte. Sie trafen sich in Jacks Abschlussjahr, Ende April. Genau wie Wendy hatte sie breite Hüften und langes Haar, sie trug Jeans, und in ihrem runden Gesicht zeichneten sich die Züge eines jungen Mädchens ab.

    Jack mochte es, dass sie ein wenig kräftiger gebaut war. Sie war nicht etwa übermäßig fett, nicht einmal wirklich übergewichtig. Sie hatte einen festen, athletischen Körper, konnte erstaunlich schnell über Zäune klettern und die Wiese bis zum Fluss hinunterlaufen. Sie liebte es, in ihr kleines MG-Cabrio mit dem Armaturenbrett aus Ahornholz und dem kraftvollen Motor zu springen, dessen Reifen Kiesel hinter ihnen ausspuckte. Sie war ein robuster Typ, mit ihrem sauber geschrubbten Gesicht, ihren schwarzen, nicht gezupften Brauen und Händen, die rau waren, weil sie ständig ihren Wagen wusch oder polierte oder an den Wochenenden zu Hause ihr Pferd striegelte. Aber ebenso gut konnte sie aufblühen wie eine tropische Pflanze, ein klebeblättriger, pinkfarbener Hibiskus – zumindest war das das Bild, das ihm bei all der floralen Feuchtigkeit in den Sinn kam, die er mit den Fingern erforschte und in der Dunkelheit nicht zu sehen bekam.

    Sie waren so glücklich, wenn sie sich nachts durch das hohe Gras rollten, das schwer von Tau war und nach Klee duftete. Jack sonnte sich in seiner eigenen Männlichkeit, wenn er dann auf Hillary lag. Es klang einfältig, aber er mochte seine eigenen breiten Schwimmerschultern, die schmalen Torero-Hüften und die prinzliche Taille. Er war ein Prinz, wenn er sich auf Hillary räkelte. War das unnormal, fragte er sich: sich selbst so zu betrachten, sich auf diese Weise am eigenen Körper zu erfreuen? Fand der Durchschnittstyp mehr Gefallen an seinem Mädchen als an sich selbst? Die meiste Zeit über hatte Jack ein deutlich weniger schmeichelhaftes Bild von sich selbst. Er sah sich selbst eher als einen liebenswerten Collie: groß, gutmütiges Lächeln, vertrauensvolle, warme Augen; ein etwas verlegener Ausdruck, wenn man ihn aufforderte, Kunststücke vorzuführen – Pfötchen geben, beispielsweise –, sein ›Dufter-Typ-Blick‹, wie er selbst es nannte. (Aber warum hatte sein Dozent dann gesagt, er wirke unterkühlt? Hatte er Jacks Schüchternheit falsch ausgelegt?) Dann wiederum gab es einige Freunde, die sich darüber beschwerten, dass er ›distanziert‹ sei, ja sogar ›verschlossen‹.

    Hand aufs Herz: Jack hatte schlichtweg ein wenig Angst vor Frauen, wenn sie nicht gerade Freundinnen oder Schwestern waren, Menschen, bei denen nichts dabei war, wenn sie Rücken an Rücken, wie Buchstützen, auf einem Heuwagen saßen oder während der langen Heimfahrt nach einem Konzert in der Fisher Hall aneinandergelehnt auf der Rückbank eines dunklen Autos schliefen. Frauen mochten ihn. Er war für sie oft wie ein kleiner, manchmal wie ein großer Bruder; wenn es ältere Damen in seinem Umfeld gegeben hätte, wäre er der Typ ›guter Neffe‹ gewesen. Er sprach mit den Mädchen nicht über ihre Haare oder ihre Kleider, nichts, außer vielleicht mal ein »Du siehst heute wirklich nett aus, Cindy«. Er war nicht der klassische Charmebolzen, auch wenn er in seiner Verbindung den Ruf hatte, auf Frauenärsche zu stehen. Doch dieser Ruf, ein Verführer zu sein, beruhte auf nichts als Gerüchten über seinen großen Schwanz und den Abend, an dem man ihn und Hillary zusammen im Treppenaufgang des Verbindungshauses gesehen hatte, wie sie miteinander rummachten, beide sturzbetrunken von Drambuie Whisky-Likör.

    Hillary war eine der Frauen, mit denen ihm der Umgang leicht fiel. Sie wollte nicht ›das ganze Programm‹, das hatte sie ihm sogar gesagt. Er erinnerte sich daran: Sie waren an all den Wohnungen der Verbindungshäuser vorbeispaziert, an einem Dienstagnachmittag, kein anderer Fußgänger weit und breit. Ohne ihn anzuschauen sagte sie: »Jack, ich muss dir etwas erzählen. Weißt du, was Spasmophilie ist?«

    »Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher.«

    »Tja, ich habe das jedenfalls. Und deshalb ist Sex auch ein Problem für mich.«

    »Wirklich? Mach dir keine Sorgen …«

    »Es ist eine Art Panikattacke. Meine Vagina verkrampft sich. Mein Therapeut sagt, es ist eine Form der Hysterie, und selbst wenn ich den Eindruck habe, mich komplett zu entspannen, behauptet er, dass ich mich entweder hysterisch oder panisch fühle oder verkrampfe. Nicht beides gleichzeitig. Er sagt, mein Körper verkrampft sich, damit ich die eigentliche Panik nicht spüre. Die bewusste Panik.«

    Sie musterte ihn ganz still und sprach das Wort ›bewusst‹ wie einen Fachbegriff aus, den Jack vielleicht nicht verstehen würde.

    »Wow, das ist faszinierend. Es ist doch erstaunlich, wie …«

    »Meine Vagina verkrampft. Mein Hausarzt, nicht mein Therapeut, sagt, dass es vermutlich ein Mangel an Calcium oder Schlaf ist. »Er spricht von …«, an dieser Stelle kreischte sie fast vor Lachen, »… meinen neuro-vegetativen Funktionen. Aber am Ende reden wir doch von einer verkrampften Vagina.«

    »Nichts läge mir ferner …«

    »Ich sollte es vielleicht mit Beruhigungsmitteln versuchen. Miltown, zum Beispiel. Kennst du dieses Gedicht von Robert Lowell? ›Von Miltown gezähmt, liegen wir auf Mutters Bett.‹ Sehr trendy, oder? Ist das deine Vorstellung von Poesie?«

    »Ich fürchte, viel weiter als bis zu Wallace Stevens bin ich nicht gekommen. Ich hatte ihn nie gelesen, bis ich seine Gedichte mit aufs Scheißhaus genommen habe. Da saß ich dann wie ein Verrückter und konnte mich nicht mehr einkriegen. Ich habe die ganze Zeit geblökt: ›Ja, das ist gut. Gott, das ist so gut.‹«

    Hillary lachte so sehr, dass sie mitten auf dem Campus stehen blieb und sich an Jacks Schulter klammerte. Wäre jemand vorbeigefahren, hätte er wohl gedacht, sie würde weinen oder hätte eine Panikattacke.

    »Lach nicht, ich meine es ernst«, sagte Jack. »Endlich hatte ich die wahre, reine Poesie gefunden. Gedichte, die keinerlei Bedeutung haben. Ich saß auf dem Scheißhaus und dachte mir ›Heureka!‹, verstehst du? Es war abstrakt-expressionistische Poesie, könnte man sagen, und ich saß da auf dem Töpfchen und habe mir die Begeisterung aus dem Leib geschissen und …«

    »Hör auf!«, flehte Hillary ihn an. »Ich kann nicht mehr! Aus dem Leib geschissen? Oh Gott!«, prustete sie.

    »Aber zwei Tage später hat mein Englischprofessor das Missverständnis aufgeklärt. Dieser verfluchte …« – und Jack senkte seine Stimme, als hätte er Angst, jemand könne ihn hören; er fluchte nie – »dieser verfluchte Wallace Stevens hat einfach zu viel Bedeutung, wie sich herausstellte. Ein einziges metaphysisches Geschwafel, auch wenn seine Sprache in etwa so rätselhaft ist wie ein Abzählreim.«

    Sie holten beide tief Luft und schleppten sich weiter durch den schwülen Tag, während ab und an ein Auto schimmernd an ihnen vorbeirauschte. Sie fühlten sich, als liefen sie auf Klebstoff, als kämen sie kein Stückchen voran. Ein großes Eichhörnchen flitzte erst auf sie zu, dann einen Baumstamm hinauf. Jack war irgendwie erleichtert, dass Hillary ein gesundheitliches Problem hatte, das sie davor bewahren würde, die Dinge zu überstürzen. Sie fühlten sich ermattet, als wäre etwas in ihnen erloschen. Jack war stolz auf seine witzigen Kommentare über Wallace Stevens.

    Nach dieser Unterhaltung existierte zwischen ihnen so etwas wie eine unausgesprochene Abmachung. Wenn sie allein waren und ein paar Bier getrunken hatten, küssten sie sich ausgiebig; Jack konnte ihr das Oberteil ausziehen, er durfte ihren Büstenhalter öffnen, um Hillarys große, extrem sensible Brüste zu streicheln und zu küssen und ihre Brustwarzen sanft zu umkreisen. Dann und wann, wenn die Chemie stimmte, kam es vor, dass er ihre Jeans aufknöpfte und ihr seidenes Spitzenhöschen beiseiteschob. Dann führte er einen Finger in diese feuchte Wärme ein, von der sie sagte, dass sie sich jederzeit über seinem Fingerknöchel zusammenkrampfen könnte, wenn sie auch in diesem Augenblick offen und einladend war.

    Einmal fuhr sie mit ihrer Hand erstaunt über seine Erektion, die sicher unter seiner Hose weggesperrt war. Halb vorwurfsvoll und halb bewundernd sagte sie: »Jack, das ist ein verdammt großes Teil. Es ist riesig.«

    Jack vermutete, dass sein Penis oberer Durchschnitt war. Manchmal starrten ihn andere Jungs unter der Dusche an, und er vermutete, dass sie ein wenig schockiert oder auch fasziniert waren. Die anderen Jungs in seiner Verbindung tuschelten darüber. Und jetzt sprach auch Hillary ihn darauf an. »Selbst wenn ich keine Spasmophilie hätte, hätte ich Angst davor, es mit dem ganzen Teil aufzunehmen. Vielleicht wäre es was für eine ältere Frau, eine Frau mit Erfahrung.«

    »Ach komm«, wiegelte Jack ab und errötete in der Dunkelheit. »Lass uns weitermachen …«

    Später, als er allein in seinem Bett lag, schaltete er das Licht an, während er sich einen runterholte, und schaute sich das verfluchte Teil tatsächlich an. Er konnte sehen, dass es im Verhältnis zum Rest seines Körpers beeindruckende Proportionen hatte.

    Hillarys Kommentar geisterte hartnäckig in seinem Kopf herum. Er war nett zu ihr gewesen, als sie ihm von ihrer Spasmophilie erzählt hatte; er hatte nur mit den Schultern gezuckt, als mache es ihm nichts aus. Er hatte blöde Witze über Wallace Stevens auf dem Scheißhaus gemacht, nur um das Thema zu wechseln, aber sie hatte ihn behandelt, als wäre er ein Monster. Er beschloss, seine Ausstattung einfach aus dem Blickfeld zu schaffen, wie einen frechen, zu hoch gewachsenen Lümmel, der den Unterricht störte, bis man ihn in die Ecke stellte, mit dem Gesicht zur Wand. So würde er es mit seinem Schwanz machen.

    Mit dem Geld, das ein Onkel ihm zum Abschluss geschenkt hatte, kaufte Jack eine Kiste Champagner und veranstaltete eine Party in seinem winzigen Zimmer. Auch Paul öffnete sein Zimmer, und Wendy servierte ein wenig ›Finger Food‹, wie sie die kleinen Sandwiches nannte, von denen sie die Kruste abgeschnitten hatte. Auch wenn Paul vorgab, dass die Meinungen anderer Studenten ihn vollkommen kaltließen, fiel Jack auf, dass er vier große Leinwände aufgestellt hatte – die Baseball-Bilder und eine Interpretation von Larry Rivers’ Washington Crossing the Delaware, das ja genaugenommen selbst eine Kopie war, nicht wahr? Howard, sein alter Zimmernachbar, kam vorbei, schüttelte sich in seinem stummen Lachen und goss seinen Spott sanftmütig über die anderen. Hillary, die im vergangenen Sommer in Málaga Flamenco gelernt hatte, schnippte mit den Fingern, stampfte auf den Boden und sah auf sehr stilvolle Weise wütend aus, bis sich die Nachbarn von unten beschwerten und sagten, dass der Putz von der Decke auf ihre Möbel riesele. Sofort verhielten sich alle ruhig.

    Und dann, von einem Tag auf den anderen, war der Campus plötzlich leer. Ann Arbor verwandelte sich von einer geschäftigen Stadt in ein verschlafenes Nest – und Jack hatte keinerlei Pläne. Ein paar Leute, die er kannte, wollten nach New York ziehen. Es würde eine einzige Party werden, sagten sie. Er bewarb sich ein weiteres Mal in Harvard, und wieder wurde er angenommen, für einen Promotionsstudiengang in Ostasiatischer Kunstgeschichte. Sein Lieblingsprofessor aus Michigan, ein Deutscher namens Max Loehr, war von Harvard abgeworben worden und drängte Jack, ihm zu folgen, um ein paar ›wichtige Untersuchungen‹ über das Buddha-Bildnis im alten Gandhara sowie in den Sui- und Tang-Dynastien anzustellen.

    In diesen erschreckend ruhigen Tagen im späten Mai in Ann Arbor stellte Jack fest, dass er keine echten Freunde hatte. Hillary mochte ihn, sicherlich, aber sie war den Sommer über nach Kennebunkport abgehauen, wo sie segeln wollte – und man konnte nicht gerade behaupten, dass sie ihn eingeladen hätte, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie hatte ihm nie wirklich vertraut, nachdem sie seinen Schwanz angefasst hatte (so verrückt das auch klang, es war wahr). Jack war sich sicher, dass ihre Furcht vor seiner Größe hinter ihrer Ablehnung steckte; er redete sich das keineswegs ein. Paul war den Sommer über nach New York gegangen, um zu malen. Er hatte gesagt, dass er die älteren Maler treffen wolle, die immer noch im Cedar Tavern herumhingen – sogar im Life-Magazin hatte es einen Artikel über sie gegeben. Jack fand, dass es nach einem ziemlichen Klischee klang; zumal, wenn der Laden es sogar schon ins Life geschafft hatte. Im Herbst würde Paul dann ein Studium der Malerei in Yale aufnehmen, auch wenn er sagte, dass er sich schämen würde, das zuzugeben – als ob ein echter Maler noch Anleitungen nötig hätte. Paul sagte, dass ein echter Maler weiter nichts bräuchte als Scotch, widrige Umstände, Einsamkeit und eine gute Frau, die auf Zehenspitzen um ihn herumschlich und das Essen kochte. Aber Paul war sich seiner selbst nicht so sicher, wie er andere gerne glauben machte; er brauchte das Siegel der Anerkennung einer Universität wie Yale.

    »Und außerdem«, sagte er, »ist das heute eine wirklich radikale Fakultät. Die radikalste im ganzen Land. Motherwell unterrichtet dort, glaube ich, und Cy Twombly, und ein paar andere von den wirklich großen Bebop-Talenten.« Paul mochte Bebop-Jazz und hatte die Bedeutung des Wortes ausgeweitet; er meinte damit alles, was Avantgarde war.

    Und dann war Paul verschwunden, mit seiner geheimnisvollen Art, seinem schmerzvollen, asynchronen Lächeln und seinen großformatigen Bildern, die er nach einigem Hin und Her vom Rahmen gezogen, zusammengerollt und in festen Pappröhren nach Hause geschickt hatte.

    Jack ging in Pauls leeres Zimmer und setzte sich auf sein Bett mit der blanken, fleckigen Matratze. Ohne Paul, ohne Wendys schuldbewusstes Lächeln, ihre pralle Reife und ihr Schamgefühl, ohne die blendend weißen Trikots der Baseballspieler, die in das Grün des Rasens verliefen, ohne den Geruch von kochendem Espresso, ohne den kobaltblauen Streifen, der über Pauls Rippen geworfen war wie eine Kriegsbemalung, wirkte das Zimmer klein und leblos und so schäbig wie die zurückgelassenen zerrissenen Unterhosen in der Ecke. Ob sich Paul in Yale überhaupt um so etwas wie Unterhosen scheren würde?

    2.

    Zwei Mädchen, die Jack aus dem mittleren Raum des Studentenwerks kannte, zogen nach New York und mieteten ein großes Apartment in der Cornelia Street in Greenwich Village. Sie sagten, Jack könne bei ihnen wohnen, so lange er wolle. Er hielt es für ein verstörendes Zeichen; sie mussten sich ausgesprochen sicher mit ihm fühlen, wenn sie nicht auch nur auf die Idee kamen, dass seine Anwesenheit ihrem Ruf schaden könnte. Aber natürlich waren sie Bohemiens und dachten über solche Dinge anders.

    Eine von ihnen war Alice, die von einer alten Südstaatenfamilie abstammte, auch wenn sie nichts Damenhaftes an sich hatte. Sie kaute Fingernägel, trug Hosen, schminkte sich nie und trank am Abend jede Menge Scotch. Allerdings liebte sie die Jagd und das Angeln, und sie besaß sogar eine kleine Jagdhütte irgendwo in Virginia. Ihre eigene Familie und deren Geschichte faszinierte sie, und sie sprach davon, eine Dokumentation darüber zu drehen. Sie hatte offenbar ein sicheres Einkommen, denn obwohl sie noch nie einen Job gehabt hatte, schien sie immer viel zu tun zu haben. Manchmal half sie einer bekannten lesbischen Broadway-Produzentin aus, indem sie ihr Geld lieh oder Investoren heranschaffte. Wer sie nicht kannte, nahm an, dass Alice lesbisch war, was jedoch nicht zutraf. Sie schlief mit berühmten Schriftstellern und Jazz-Musikern, wenngleich sie nie über ihre Partner sprach und jede Öffentlichkeit scheute.

    Es beeindruckte Jack, dass New York ein Ort war, an dem man ganz beiläufig sagen konnte, dass man eine Lesbe als Chef hatte, ohne dass jemand mit der Wimper zuckte oder nach Details fragte.

    Alices Mitbewohnerin Rebekkah war in Greenwich Village gezeugt worden, wie sie gerne betonte, obwohl sie in Brooklyn aufgewachsen war. Sie war die beste Autorin, die die Universität von Michigan in den letzten Jahren hervorgebracht hatte, aber sie wollte lieber Schauspielerin sein. Sie und Alice mieteten ein Loft in der Bleecker Street an, in dem sie an manchen Abenden Improvisationstheater veranstalteten. Sie hatten auch die Idee, Stücke zu Texten von einigen der Lieblingsautoren von Alice aufzuführen, sowohl von den Romanciers als auch von den Dichtern. Rebekkah war herrlich warmherzig, freundlich und originell. Jack konnte nie vorhersagen, was sie

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