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Die Stadt, die es nicht gibt
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eBook545 Seiten6 Stunden

Die Stadt, die es nicht gibt

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Über dieses E-Book

Fern aller Zivilisation, an einer einsamen Küste, liegt Madina. Für die Bewohner der Stadt ist Madina die ganze Welt. Anouk dürfte demnach eigentlich nicht existieren. Sie sieht nicht nur fremd aus, sondern wurde auch nicht in der Stadt geboren. Als Kind wurde sie in der Wüste gefunden und hat behauptet aus "Ozea" zu stammen, einer Stadt, die in Madina vor allem mit düsteren Märchen in Verbindung gebracht wird. Für die abergläubischen Bewohner der Stadt ist klar, dass Anouks Anwesenheit Unglück über Madina gebracht hat. Je mehr die Stadt zerfällt, umso größer wird der Hass, der ihr entgegen schlägt. Verborgen in den Geheimgängen der City Hall stößt sie auf Wissen, das die Stadt retten könnte, aber wer glaubt schon dem Geist aus der Wüste? Gemeinsam mit ihrer Adoptivschwester Freya und ihrem besten Freund Helios macht sie sich auf die Suche nach Ozea, aber die Reise über das Meer entpuppt sich als gefährlicher als erwartet und ihr Ausgang ist ungewiss. Klar ist nur, dass Madina nicht mehr viel Zeit bleibt, doch je weiter sie sich von der Stadt entfernen, umso unsicherer ist sich Anouk, ob die Menschheit es überhaupt verdient hat, gerettet zu werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberFranziska Ways
Erscheinungsdatum1. Sept. 2021
ISBN9783985940103
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    Buchvorschau

    Die Stadt, die es nicht gibt - Franziska Ways

    Anouk Bariya

    Der heiße Sand unter meinen Füßen knirschte bei jedem meiner Schritte. Schritt für Schritt trat ich neue Sandlawinen los, die sich wie Wellen im Meer die Sanddünen hinab ergossen.

    Der Horizont um mich herum flimmerte durch die Hitze und vor meinen Augen tanzten längst kleine Punkte. Mein ganzer Körper schrie vor Anstrengung und jede Bewegung fühlte sich an, als wären meine Arme und Beine aus Blei gegossen.

    Ich war froh über die hoch geschnürten Lederstiefel, die bis kurz über mein Knie reichten und meine Haut so vor Verbrennungen schützten. Der Aufstieg war mühsam und ich war schon zu lange unterwegs, um sagen zu können, wie lange genau.

    Meine Bewegungen waren fahrig und ich verlor immer wieder den Halt, rutschte ein paar Meter zurück und musste den Hang erneut besteigen. „Nur noch ein paar Schritte", redete ich mir mit zusammen gebissenen Zähnen selbst ein.

    Unter anderen Umständen hätte ich die hohen Dünen gemieden und mir einen Weg um sie herum gesucht, jedoch hatte ich bereits vor einigen Stunden einen großen Fehler begangen. Ich hatte meinen Weg aus den Augen verloren. Nur für einen kurzen Augenblick, aber lange genug, um nicht mehr zu wissen, woher ich gekommen war oder wohin ich musste.

    Die Wüste war ein Labyrinth und ständig in Bewegung. Der Wind blies heute unerbittlich und verwischte meine Fußabdrücke noch während ich sie machte. Endlich erreichte ich den höchsten Punkt der Düne. Mit meinen Händen griff ich in den Sand. Ein verzweifelter Versuch, Halt zu finden.

    Meine Hände und Arme steckten in langen Handschuhen, ganz ähnlich meinen Stiefeln. Dunkle Lederriemen fixierten sie kurz über meinen Ellenbogen und bedeckten den Großteil meiner Haut. Das Leder, inzwischen durch das viele Tragen weich und biegsam geworden, war eigentlich viel zu warm für die Hitze der Wüste. Es war jedoch das einzige Material, das genug Schutz vor Verbrennungen und anderen Verletzungen und gleichzeitig ausreichend Bewegungsfreiheit bot.

    Der Sand und das Geröll der harschen Landschaft beherbergten nicht nur scharfes Gestein, sondern auch eine Vielzahl an giftigen Schlangen, Skorpionen und Insekten. Hier, fern der Stadt, gestochen oder gebissen zu werden, käme einem Todesurteil gleich.

    Schnaufend richtete ich mich auf und zupfte die kurze, weiße Toga zurecht, damit sie wieder beide meiner Schultern bedeckte. Der Stoff umschmiegte meinen Oberkörper so lose, dass er ständig verrutschte. Er reichte an den Armen bis kurz vor die Handschuhe und endete an den Beinen eine Handbreite über den Knien. Das Kleid war vollkommen ungeeignet für die Wüste und ich ärgerte mich darüber, nicht weiter voraus gedacht zu haben.

    Ich hatte nicht geplant, so weit zu laufen. Aber wenn ich ehrlich war, plante ich das nie und fand mich trotzdem ständig in der gleichen Situation wieder. Egal wie oft ich mir vornahm, es endlich aufzugeben. Aber dann stand ich doch wieder an den Stadttoren, den Blick auf die Sanddünen geheftet, als würden sich dort die Antworten auf die Fragen finden, die mich nachts nicht schlafen ließen.

    Wieder rutschte ich aus. Der raue Sand kratzte über meine wunde Haut und ich rang vor Schmerzen nach Luft. Dort, wo der Stoff meine Haut nicht bedeckte, prangten längst dunkelrote Streifen. Sie sahen aus wie Kriegsbemalungen. Lio würde wahrscheinlich vor Neid grün anlaufen, wenn er sie sah, während Freya mir einen langen Vortrag darüber halten würde, wie leichtsinnig es gewesen war, allein die Stadt zu verlassen. Oder überhaupt die Stadt zu verlassen.

    Falls ich zurückfand.

    Bei dem Gedanken kroch eine Gänsehaut über meine Arme. Ein Frösteln überkam mich. Oder war es ein Windzug?

    Ich riss mit Mühe den Kopf nach oben und scannte meine Umgebung. Die Dünen tanzten vor meinen Augen und es fiel mir schwer, stehen zu bleiben. Da war es wieder. Unverkennbar, ein leichter Windzug. Ich drehte den Kopf in die Richtung, aus der er kam und kniff meine Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. In der Ferne glitzerte und schimmerte etwas. Vor Erleichterung knickten meine Beine ein und ich landete auf meinen Knien. Ich warf einen Blick in den Himmel und suchte nach der Sonne. Sie stand tief. Mein Herz setzte einen Schlag aus.

    Bald würde es Abend werden. Maximal noch eine, wenn ich Glück hatte eineinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang. Die Sonne zeigte mir gleichzeitig aber auch den Weg. Die Sonne ging immer im Westen unter. Die Stadt lag im Osten, genau dort, wo das Schimmern den Horizont erhellte. Mein Atmen rasselte, als ich versuchte, die Panik zu unterdrücken, die mich zu überkommen drohte.

    Maximal 90 Minuten, eher weniger, bis sie die Tore schlossen.

    Ich griff an den Lederriemen an meiner Hüfte und versicherte mich, dass mein Messer noch in seinem Holster steckte, dann zog ich meine Wasserflasche aus der Halterung an der anderen Seite und trank die letzten Reste Wasser. Die warmen Tropfen brannten fast schon in meiner ausgetrockneten Kehle.

    Wenn ich es nicht rechtzeitig zurückschaffte, hätte ich ohnehin keine Zeit mehr, zu verdursten. Die nächtliche Wüste hatte effektivere Möglichkeiten, dich zu töten. Es gab also keinen Grund mehr, Wasser zu sparen. Ich steckte die Flasche zurück, atmete tief ein und sprang mit den Füßen voran die Düne hinunter.

    Die ersten paar Meter glitt ich mit den Schuhen über den Sand, wie ein Boot über die Wellen und überschlug mich dann fast, als ich das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Ich ignorierte den Schmerz, rappelte mich wieder auf und rannte weiter, immer dem Glitzern entgegen, das abwechselnd hinter Dünen verschwand und dann wieder aus der Versenkung kam, fast so, als würde es sich über mich lustig machen. Mein Schatten wurde mit jedem meiner Schritte länger und die abkühlende Luft ließ meine verschwitze und mit Sand überzogene Haut frösteln.

    Einzelne braune Haarsträhnen hatten sich aus meinem dicken, aufwendig geflochtenen Zopf gelöst und klebten an meinen Wangen und meinem Hals. Das Brennen meiner Lunge führte einen stummen Kampf mit dem Tränen meiner Augen und dem Schreien meiner übermüdeten Muskeln.

    Die Sterne waren bereits sichtbar und lieferten ein funkelndes Farbspiel mit dem lilafarbenen Himmel der Abenddämmerung, als ich über die letzte Sanddüne vor den Toren der Stadt taumelte und japsend und mit winkenden Armen panisch auf das sich schließende Tor zu rannte.

    Die Mauer war gut fünf Meter hoch und aus massivem weißen Stein gebaut. Ein Ende war auf keinen der beiden Seiten in Sicht. Das Quietschen der alten Scharniere des riesigen Stadttores wurde lauter, je näher ich kam. Unaufhaltsam kamen die beiden Flügel des Tores aufeinander zu.

    Wenn die Wächter mich bemerkt hatten, dann war es ihnen zumindest egal. Im letzten Augenblick rutschte ich seitlich durch das Tor und kam unsanft auf den harten Pflastersteinen dahinter zur Landung.

    Das Pfeifen der Meerbriese, die durch den letzten Schlitz im Tor zog, sowie das darauffolgende Donnern der aufeinandertreffenden Torflügel dröhnten in meinen Ohren.

    Vor Erleichterung liefen mir Tränen die Wangen herunter.

    „Anouk!"

    Verschwommen machte ich eine Gestalt aus, die die Wendeltreppe an der Mauer nach unten hetzte und deren langes, blaues Gewand wie eine Fahne hinter ihr her wehte. Im nächsten Moment umklammerte meine Schwester meinen verschwitzen und dreckigen Oberkörper und zog mich nach oben.

    Freya. Sie hatte wohl auf der Stadtmauer nach mir Ausschau gehalten. Natürlich hatte sie das.

    Ihr dunkelblondes, welliges Haar hing wild um ihr Gesicht und in ihren grünen Augen blitzte gleichzeitig Wut und unheimliche Erleichterung. Die kleine Falte über ihrer Nasenspitze glättete sich leicht, als sie ihr Gesicht erst in meiner Halsbeuge vergrub und mich dann grob von sich weg und zurück auf den Boden stieß.

    „Bist du wahnsinnig? Ihre Stimme zitterte und brach fast vor Wut. „Wenn du dich umbringen willst, dann gibt es dafür auch einfachere Wege. Und ihr!

    Erst jetzt bemerke ich die beiden Wächter, die zu uns getreten waren. „Seid ihr blind, taub oder einfach nur schwer von Begriff? Ihr habt sie doch auch schon seit fünf Minuten gesehen!".

    Die beiden groß gewachsenen Männer verzogen keine Miene, sondern zuckten nur simultan mit den Schultern.

    „Wir haben unsere Anweisungen. Miss Bariya kennt das Gesetz."

    Der größere der beiden sprach mit einer kalten, aber tiefen Stimme und mustert mich dabei eisig. Ich fühlte seine Blicke von meinen engen, verschrammten Schuhen, über die braun gebrannte, zerschrammte Haut meiner Oberschenkel, bis zu meinen zerkratzen, sandverkrusteten Wangen und dem Chaos meiner langen braunen Haare wandern. Eine der dunkelblauen Haarsträhnen, die ich schon von klein auf wie eine Pigmentstörung mit mir herumtrug, war aus dem Zopf gerutscht und ich schob sie peinlich berührt wieder hinter mein Ohr.

    Der Blick des Wachmanns wurde noch eine Spur kälter und er verzog missbilligend das Gesicht. Er hob die Stimme, als wolle er noch mehr sagen, der drohende Blick meiner Schwester hielt ihn jedoch davon ab.

    Ich wusste genau, was er gesagt hätte, wären wir allein gewesen.

    „Wo ist das Problem? Die Hexe kam aus der Wüste und kann da auch gerne bleiben. Und all ihr Unglück mit ihr."

    Ich hatte es die Leute oft genug sagen hören. Stattdessen drehte er sich schnaufend um und verließ den Vorplatz. Der zweite Wachmann hatte nicht so viel Anstand. „Wüstenhexe", grummelte er leise und spuckte dann auf den Boden vor meinen Füßen, bevor er auf der Stelle kehrtmachte und wieder auf seinen Posten an der Stadtmauer verschwand.

    Freya seufzte leise. Sie griff nach meiner Hand und zog mich nach oben. Stützend schob sie ihren Arm unter meine Schulter und wir begannen schweigend, nach Hause zu laufen. Die Sonne war inzwischen ganz hinter dem Horizont verschwunden, der Mond und die Sterne schienen aber so hell, dass Madina in all seiner Pracht erstrahlte. Der weiße Stein, aus dem sämtliche Gebäude gebaut worden waren, schimmerte verheißungsvoll im Mondlicht.

    Die meisten Anwohner waren bereits auf dem Weg zurück in ihre Häuser. Müde, aber ausgelassene Stimmen erfüllten die Luft. Der salzige Geruch des Meeres stieg mir in die Nase und ich atmete tief ein, um ihn festzuhalten. Das Schimmern, das ich von der Düne aus gesehen hatte, war nicht die Mauer der Stadt gewesen und auch nicht die Häuser der höheren Ränge, sondern die Reflexion der Sonne in den Wellen des Meeres, das Madina wie eine zweite Mauer schützte und die gesamte Länge der Küste säumte.

    Die Stadt war in einen Hang gebaut worden. Die Mauer wurde damals dort errichtet, wo die steinerne Landschaft bereits begann abzufallen. Hier oben war der höchste Punkt der Stadt.Von hier aus hatte man einen perfekten Blick auf all die Häuser und das Meer.

    Die Gebäude waren wie Stufen in den Stein gebaut worden. Fischerboote lagen an der Küste vor Anker, genauso wie die Käfige, in denen die Farmer all die Muscheln und Seepflanzen züchteten, die Madinas Bevölkerung mit Nahrung versorgten.

    Wir folgten den steilen Pfaden, bis sich die Pflastersteine der Stadt wieder in Sand verwandelten. Unser Haus lag sehr tief in der Stadt, in der ersten Reihe am Strand. Die Häuser hier waren schön und vor einigen Jahren hätten wir uns ein Leben hier nur schwer leisten können. Durch den steigenden Meeresspiegel flüchteten jedoch immer mehr Bewohner der Stadt in die Nähe der Stadtmauern. Zu oft kam es zu Überschwemmungen und niemand wusste wirklich, wie lange der unterste Ring überhaupt noch bewohnbar sein würde.

    Freya hätte problemlos in einem der teuren Häuser leben können. Sie war Marcus Solandis Tochter und damit die einzige Nachfolgerin des einflussreichsten Mannes der Stadt. Er war der gewählte Anführer der fünf Familien, die gemeinsam die Regierung bildeten, die in Madina für Ordnung sorgte. Aber Freya wollte davon nichts wissen. Stattdessen hatte sie sich dafür entschieden, in einem günstigen Moment hier ein Haus zu kaufen. Mir zuliebe. Weit weg von all dem Trubel der Stadt.

    Ich fühlte mich automatisch ruhiger, als wir zuhause ankamen. Das Haus bestand eigentlich nur aus zwei Räumen. Der größere der beiden war der Wohnraum, in dem wir uns die meiste Zeit aufhielten und auch schliefen. Hier befand sich unsere kleine Küche, der Esstisch und unser Bett.

    Dorthin führte mich Freya jetzt und drängte mich dazu, mich hinzusetzen. Ich leistete murmelnd Widerstand und deutete auf einen der Holzstühle ganz in der Nähe. Ich war immer noch staubig und die Vorstellung, die Nacht in einem Bett voller Sand und Dreck zu verbringen, gefiel mir nicht. Der Stuhl knarzte unter meinem Gewicht und ich seufzte erleichtert, während sich meine übermüdeten Beine langsam entspannten.

    Freya begann, die Schnürung meiner Stiefel zu lösen. Sie klebten fast an meiner hellen Haut. Hässliche Blasen hatten sich an den Knöcheln gebildet. Ich löste selbst die Schnallen meiner Handschuhe. Auch hier war meine Haut fast so hell wie der Kalkstein des Hauses, in dem wir uns befanden.

    Meine Haut war nur eines der vielen Dinge, die mich von den Menschen Madinas unterschieden. Meine zu dunklen Haaren mit den blauen Strähnen und meine viel zu hellen, blauen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin waren die anderen. Dort, wo meine Haut der Sonne ausgesetzt war, war die Blässe weniger auffällig, aber meine Haut wurde selten braun. Stattdessen schien sie in der Sonne regelrecht zu verbrennen und färbte sich leuchtend rot. Ich war geradezu allergisch gegen Sonnenlicht.

    Ich schlüpfte aus der Toga und betrachtete mich im Spiegel. Wie erwartet zierte ein schmaler, roter Streifen meine Oberschenkel sowie meine Oberarme. Auch mein Gesicht war durch die Sonne gerötet, was meine Augen nur noch unnatürlicher wirken ließ. Tagsüber ging ich kaum ohne die Stiefel oder die Handschuhe aus dem Haus.

    Die Verbrennungen durch die Sonne waren zu schmerzhaft und auch die abfälligen Blicke der anderen beim Anblick meiner seltsamen Haut hatten mich eines Besseren belehrt.

    Sie nannten mich den Geist aus der Wüste.

    So muss es sich für sie angefühlt haben, als Gaia vor all diesen Jahren mit einem kleinen Kind auf dem Arm morgens vor den Toren der Stadt gestanden hatte. Als wäre ihnen ein Geist erschienen. Gaia hatte nicht nur die Nacht vor den Toren überlebt, sondern auch noch dieses fremdartige Mädchen mitgebracht, dessen Haut schon aus der Ferne zu leuchten schien und dessen Haar die Farbe eines Gewittersturms hatte.

    Ich war zu klein gewesen, um mich daran zu erinnern. „Anouk war der Name, den ich Gaia genannt haben soll, als sie mich danach fragte. Den Nachnamen „Bariya hatte sie mir gegeben. Das arabische Wort für „Wüste".

    Das war ich. Anouk Bariya, der Geist aus den Dünen, laut meinen eigenen Worten geboren in Ozea, der Stadt, die nicht existiert.

    Der Stadt aus den alten Märchenbüchern.

    Der Stadt, in der all die Geschichten spielten, die man seinen Kindern erzählte, damit sie nachts vor dem Einbruch der Dunkelheit nach Hause kamen.

    Vielleicht hatten die Menschen in Madina auch deswegen von Anfang an Angst vor mir gehabt. Nichts Gutes kommt jemals aus der Wüste.

    Nur Tod und Unglück und Verderben.

    Aber Gaia war die Frau des Ältesten und fest dazu entschlossen, mich bei sich zu behalten. Freya war damals bereits auf der Welt gewesen und nur knapp drei Jahre älter als ich. Gaias ständiger Drang, mich zu beschützen, wurde früh zu ihrem eigenen. In den Jahren, nachdem sie mich fand, verlor Gaia mehrere Kinder noch während der Schwangerschaft. Als sie dann plötzlich krank wurde und innerhalb weniger Wochen verstarb, verbreiteten sich die Gerüchte wie ein Lauffeuer.

    Wenn eine junge Frau plötzlich so abbaute, dann konnte dies doch nur die Schuld des Geistermädchens sein.

    Während sich die Stadt immer weiter von mir entfernte, wuchsen Freya und ich immer enger zusammen. Sie hätte alles sein, alles aus ihrem Leben machen können. Aber sie entschied sich dafür, meine Schwester zu sein und machte sich damit selbst zur Ausgestoßenen, auch wenn der Name ihres Vaters sie bis zu einem gewissen Grad schützte. Trotzdem bedeutete meine Nähe für sie soziale Ausgrenzung. Jeder hatte zu viel Angst davor, das Unglück könnte ansteckend sein.

    Eine Hand berührte meine glühenden Schultern und riss mich aus meinen Gedanken. Freya umschlang meinen Oberkörper und betrachtete mich über die Schulter im Spiegel. Sie war nur ein paar Zentimeter größer als ich. Heute stand ich jedoch so gekrümmt, dass sie über mir thronte wie eine Nymphe über einem Kobold.

    „Schau dich nicht so selbstkritisch an. Du bist dazu bestimmt besonders zu sein."

    Ich verdrehte die Augen. „Besonders sandig?"

    Freya lachte. „Tja, Wüstenprinzessin, zumindest das kann man ändern." Meine Stimmung hellte sich sofort etwas auf.

    Die meisten Bewohner der Stadt fürchteten sich vor dem Meer. Ich hatte nie verstanden, warum. Ohne das Meer gäbe es Madina nicht. Der Ozean versorgte uns nicht nur mit Fisch und Wassergewächsen, sondern speiste auch unsere Filteranlagen und damit unser Trinkwasser.

    Die großen Wasserturbinen, die wie Zeugen einer anderen Zeit an der Küste verteilt lagen, waren großteils noch funktionsfähig. Wie abgebrochene Zähne eines lange ausgestorbenen Tieres thronten sie im seichten Wasser. Wir schliefen abends mit dem Rauschen des Meeres und dem Summen der Turbinen ein und wenn wir morgens aufwachten, war es das erste, das wir hörten.

    Solange die Turbinen liefen, war alles in Ordnung. Solange funktionierte unsere Trinkwasseranlage und die Stromversorgung der Stadt, die nachts unsere Häuser beleuchteten.

    So lange funktionierte der elektrische Zaun, der Teil der Mauer war, die uns nachts am Leben hielt.

    So wichtig wie die Turbinen waren, so beunruhigend war es aber auch, dabei zuzusehen, wie der Rost sich Jahr für Jahr mehr durch das Metall der Außenhüllen fraß.

    Das Wissen unserer Vorfahren war schon vor langer Zeit verloren gegangen. Niemand wusste mehr, wer die Maschinen gebaut hatte, die Energie aus der Bewegung des Wassers gewinnen konnten und auch nicht, wie man sie reparierte oder ersetzte. Madina war eine Stadt der Taten, nicht der Worte.

    Jeder gab weiter, was er konnte. Die Fischer brachten ihren Lehrlingen bei, Netze zu flechten und erzählten ihnen alles über die Brutzeiten der Fische und die besten Techniken für den Fang jeder bekannten Fischart.

    Die Tinker suchten Lehrlinge, denen sie beibringen konnten, welche Rohstoffe schnell wuchsen und welche am besten für den Bau von Möbeln geeignet waren.

    Die Farmer bauten Wassergewächse an und züchteten Muscheln. Auch hier gab es Wissen, das verloren gehen würde, wenn niemand sich bereit erklärte, ihr Schüler zu werden. Das Problem war jedoch, dass es kaum Lehrlinge gab.

    Das letzte Kind war vor etwa fünf Jahren geboren worden und auch davor war die Geburtenrate alles andere als hoch gewesen. Gaia war nicht die einzige Frau, die mit Fehlgeburten zu kämpfen hatte. Es war fast so, als wäre Madina vergiftet. Auch hierfür gaben manche Bewohner Madinas mir die Schuld. Alles wäre schlimmer geworden, als ich in die Stadt gekommen war. Von Gaia wusste ich, dass das Problem schon älter gewesen war als sie selbst. Schon ihre Mutter hätte Probleme damit gehabt und mit jeder Generation seien diese größer geworden und hätten mehr Paare betroffen.

    Immer weniger Frauen bekamen Kinder und immer mehr dieser Kinder waren später selbst nicht mehr in der Lage, Kinder zu bekommen. Es war eine Abwärtsspirale, die langsam Madinas Ende ankündigte. Gerade deswegen unternahm wahrscheinlich auch niemand etwas gegen den rapiden Wissensverlust, der die Stadt bedrohte. Mehr als 80 Prozent aller Einwohner Madinas waren über 60 und mit beinahe jeder weiteren Beerdigung gingen mehr Berufsfelder verloren.

    Der Sand knirschte zwischen meinen Zehen, als ich auf das Wasser zu lief. Sanfte Wellen rollten an den Strand und versickerten im feuchten Boden. Als meine Zehen endlich das Wasser berührten, kroch eine Gänsehaut über meinen Körper und ich seufzte erleichtert.

    Das Wasser war angenehm. Nicht zu kalt, aber kalt genug, um in der Hitze der Wüste noch erfrischend zu sein. Ich watete noch ein paar Schritte tiefer ins Wasser, hob die Arme über den Kopf und tauchte dann mit viel Schwung unter.

    Für einen Moment erstickte das Gurgeln und Tosen des Meeres sämtliche Geräusche um mich herum. Ich fuhr mit den Fingern durch den weißen Sand des Meeresbodens, drehte mich langsam auf den Rücken und beobachtete das Licht des Mondes, das durch die Wasseroberfläche fiel und bei jeder Welle verschwamm und sich dann neu zusammensetzte.

    Ich konnte fast körperlich spüren, wie der Sand der Wüste von meiner Haut und aus meinen Haaren gewaschen wurde und mit ihm all die Unruhe, die mein Herz so eng umschlungen hielt.

    Tochter des Sturms

    In dieser Nacht schlief ich ein, noch bevor mein Kopf das Kissen berührte. Die Hitze der Wüste immer noch auf der Haut, das Salz des Meeres auf meinen Lippen, rauschte das Blut in meinen Ohren mit den Wellen des Ozeans um die Wette und trug mich mit sich fort. In meinen Träumen war es immer das Wasser, das mich anzog, und nicht die Wüste.

    Ich konnte nicht genau sagen, was mich geweckt hatte, als ich ein paar Stunden später aus dem Schlaf hochschreckte. Freya schlief tief und fest neben mir, den Kopf an meiner Schulter. Ich lauschte angestrengt in die Stille hinein und versuchte zu begreifen, was genau ich da hörte.

    Das Meer klang wütender als sonst, aber da war noch etwas anderes. Ein tiefes Ächzen, fast schon Heulen in der Ferne, das durch die Geräusche des Meeres beinahe ganz verdeckt wurde. Zu leise, um mich geweckt haben zu können, aber nun, wo es mir aufgefallen war, auch zu seltsam, um es zu ignorieren.

    Ich schlug die Decke beiseite, setzte die nackten Füße zaghaft auf den kalten Dielenboden und rutschte vorsichtig aus dem Bett. Freya murmelte leise im Schlaf und ihre Hand streifte mich suchend, bevor sie sich wieder entspannte und weiterschlief. Nur im Nachthemd bekleidet verließ ich das Haus.

    Ein kalter Wind schlug mir entgegen und die Härchen an meinen Armen stellten sich unwillkürlich auf. Nachts war es hier immer kälter, aber heute war das Wetter besonders rau. Der Mond am Himmel wurde durch dicke schwarze Wolken verdeckt, was es schwer machte, viel zu erkennen. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit und tauchte den Strand in grelles Licht. Der Anblick des Meeres ließ mich taumeln und ich hielt mich an der Veranda fest.

    Es regnete zwar nicht - das tat es selten - aber starke Windböen zogen über das Land und peitschten die Wellen in bedrohliche Höhen. Der Großteil des Strandes stand unter Wasser und die Fischerboote, die plötzlich weit entfernt vom Ufer schienen, schaukelten bedrohlich in der Ferne und wären wohl davon gerissen worden, hätte man sie nicht ordentlich gesichert.

    Donner dröhnte in meinen Ohren, so laut, dass meine Beine vor Schreck nachgaben. Jetzt wusste ich auch, was mich zuvor geweckt hatte. Selbst der Sturm wirkte fast leise in den Sekunden danach. Wieder hörte ich das seltsame Ächzen und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, woher es kam. Ein weiterer Blitz, direkt gefolgt von einem zweiten, zog über den Himmel.

    Mein Herz schien auszusetzen und das nicht nur wegen des Donners, der Sekunden danach folgte, viel lauter als beim Blitz zuvor.

    Es waren die Turbinen. Der Wind und die Wellen zerrissen die alten und rostigen Metallverkleidungen als wären sie aus billigen Leinen gefertigt.

    Eine große Platte löste sich, wurde vom Wind in die Luft gehoben und krachte dann scheppernd in eines der Fischerboote. Ein panischer Schrei kam mir über die Lippen und im nächsten Moment rannte ich die Häuser des unteren Rings ab, trommelte mit beiden Fäusten panisch gegen die Türen und versuchte zu wecken, wen ich nur konnte. Giftige Blicke schlugen mir reihenweise entgegen.

    „Die Turbinen! Sie werden weggespült!", meine Stimme zitterte und brach vor Panik und klang durch das viele Schreien rau und heiser.

    Meine Worte wischten den Hass aus den meisten Gesichtern und ersetzten ihn durch blanke Panik. Jeder wusste was ein Verlust der Turbinen für uns alle bedeuten würde. Die Verandalichter der Häuser gingen nach und nach an und flackerten nervös. Kreidebleich eilten meine Nachbarn aus ihren Häusern. Ihr Schreien weckte auch viele Bewohner der oberen Ringe und innerhalb kürzester Zeit hatte sich eine große Menschentraube am Strand versammelt.

    Freya bahnte sich verschlafen und zitternd ihren Weg zu mir und umschlang meinen Arm mit ihrem. Ihre grünen Augen waren so weit aufgerissen, dass sie plötzlich viel jünger wirkte neben mir. Ihre Haare flogen im Wind. Sie trug einen Mantel über ihrem Nachthemd und zitterte leicht.

    „Was ist los?", wollte sie besorgt wissen.

    „Die Turbinen- " Ich brach ab, als mir bewusst wurde, wie viele Augen mich gerade anstarrten und setzte mit lauterer Stimme neu an, damit mich auch die anderen hören konnten.

    „Der Sturm zerstört die Turbinen und spült die Bauteile ins Meer. Wir müssen sie absichern!".

    Ein Raunen und ungläubiges Murmeln ging durch die Gruppe.

    „Woher willst du das wissen? Es ist so dunkel, man kann überhaupt nichts erkennen!", schrie mir eine Frau entgegen.

    „Das ist nicht der erste Sturm in Madina. Die Turbinen waren schon immer da und werden auch immer da sein!" Der alte Fischer Caruso Samak schrie gegen den Wind an und drehte sich gleichzeitig weg, um zu gehen. Einige der Älteren folgten ihm.

    Wieder löste sich ächzend eine Platte von einer Turbine und krachte gegen eines der Häuser am Strand, ganz in der Nähe unserer Versammlung. Gleichzeitig erloschen sämtliche Lichter der Häuser des vierten Strandabschnittes bis hoch zur Stadtmauer. Panisch stoben die Menschen auseinander und begannen durcheinander zu schreien. Ich versuchte es noch einmal:

    „Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren! Wir müssen die Turbinen sichern!" Ich hasste wie hoch meine Stimme in diesem Moment klang. Wieder schlug mir Ablehnung entgegen.

    „Wie stellst du dir das vor? Das würde uns alle umbringen!"

    „Da draußen überlebt doch keiner!"

    „Vielleicht will sie ja genau das! Ich wette, sie hat den Sturm überhaupt erst gerufen."

    Ich versuchte, die Worte zu ignorieren, auch wenn es schwer war, aber meine Stimme versagte mir.

    „Wenn wir die Turbinen verlieren, dann verlieren wir alles!, kam Freya mir zur Hilfe. „Wir haben keine Zeit zu diskutieren!

    Ihre Worte klangen stark und bestimmt und ich bewunderte sie unheimlich dafür. Es kam selten vor, aber in Momenten wie diesen merkte man die Generationen von Anführern, die vor ihr gekommen waren.

    Mit etwas mehr Mut, aber auch Zorn, sprach ich weiter.

    „Wir haben zwölf Turbinen und brauchen mindestens fünf Menschen, um jede Turbine absichern zu können. Wenn jeder bei der Turbine mithilft, die den eigenen Strandabschnitt versorgt, können wir das schaffen."

    Es war anstrengend, gegen den Lärm des Sturms anzukommen.

    „Wir können die Fischernetzte verwenden, um die Turbinen darin einzuwickeln. Die Boote sind ganz in der Nähe der Turbinen festgemacht, das ist schaffbar!"

    Eine männliche Stimme kam mir zur Hilfe.

    „Anouk hat Recht. Das wäre doch nicht der erste Sturm, den wir Fischer und Farmer auf dem Meer verbringen!".

    Ich hätte Helios ohne den dunklen Lidstrich fast nicht erkannt. Jetzt stand mein bester Freund direkt neben mir und funkelte mich motiviert an. Die Angst, die sich hinter seinen grünen Augen verbarg, konnte er trotzdem nicht vor mir verbergen.

    Die Menschenmenge hatte sich inzwischen gelichtet. Viele waren in ihre Häuser zurückgegangen. Die Angst vor der stürmischen See war zu groß. Die Verbliebenen waren vorwiegend Fischer sowie ein paar wenige Farmer. Mit einem Kopfnicken gaben sie einander das Signal und teilten sich auf. Übrig blieb nur noch der Strandabschnitt, an dem wir wohnten, aber selbst mit Helios und zwei der verbliebenen Farmer waren wir trotzdem zu wenige.

    Freya stand unsicher neben uns und wich einen Schritt zurück, als mein Blick auf sie fiel. Von ihrer vorherigen Überzeugung war nicht mehr viel übriggeblieben.

    „Anouk, nein. Ihre Augen waren vor Schreck aufgerissen und ihr ganzer Körper schien unter Spannung zu stehen. „Ich kann das nicht. Du bist die Seglerin. Ich hätte keine Ahnung, was ich machen soll. Ihre Stimme bebte und wurde vom Wind fast davongetragen.

    „Ich kann das nicht", stammelte sie noch einmal.

    Ich streckte meine Hand nach ihr aus.

    „Freya, bitte."

    Ich wusste, dass sie mir eine Bitte niemals ausschlagen würde.

    Helios, Freya und ich blieben zusammen und wurden von zwei weiteren Männern, Andre und Zarun, begleitet. Wir bahnten uns unseren Weg zu den Booten. Wo normalerweise Strand und Stege gewesen wären, war nun alles überflutet und wir kämpften uns mühsam durch hüfthohes Wasser.

    Bei jeder Welle schlug uns Salzwasser in unsere Gesichter und gegen unsere Brustkörbe. Nach wenigen Metern waren wir triefend nass. Das einzige Licht, das uns leitete, war das schwache Flackern der Häuser am Strand sowie das grelle Leuchten der Blitze, die immer wieder den Horizont erhellten. Freya griff nervös nach meiner Hand und hielt eisern meine Finger umschlungen.

    „Wie weit ist es noch?", brüllte sie gegen den Wind an, in der Hoffnung, ich könnte mehr sehen als sie selbst. Sie atmete vor Panik so laut, dass es mir selbst im Lärm des Sturmes noch ein schlechtes Gewissen bereitete.

    „Wir müssten bald-", ich stolperte nach vorne und riss sie beinahe mit mir, als mein Fuß an etwas hängen blieb und ich im selben Moment auf glattem Grund ausrutschte. Kurz schluckte ich salziges Wasser, bevor ich mich wieder aufrappeln konnte. Meine Hände ertasteten Holz. Wir hatten den Steg erreicht.

    Der nächste Blitz bestätigte meine Vermutung. Das große Fischerboot, auf dem ich tagsüber immer arbeitete, schaukelte wenige Meter vor uns wild im Wind.

    „Seid vorsichtig! Das Holz des Steges ist unheimlich glatt und das Meer dahinter viel tiefer!".

    Meine Hände bekamen das Seil der Stegbegrenzung zu fassen, das normalerweise dazu diente, Fischer davor zu schützen, ins Meer gespült zu werden. Jetzt war es selbst halb unter Wasser. Eng hintereinander hangelten wir uns an dem Seil entlang, bis wir endlich das Schiff erreichten. Der Einstieg erwies sich als schwieriger als erwartet. Das Schiff trieb viel höher als sonst und lehnte sich durch das zu kurz gewordene Ankerseil stark auf eine Seite. Während uns diese Neigung den Einstieg einerseits erleichterte, schwankte das Boot gleichzeitig stark in unsere Richtung und drohte bei jeder Welle zu kentern.

    Mit pochendem Herzen kletterten wir nacheinander an Bord. Freya stieg zuerst ein und wurde von den Übrigen dabei unterstützt. Ihr ganzer Körper schien vor Kälte und Angst zu zittern, aber sie beklagte sich nicht. Ich folgte als nächstes. Das Holz des Bootes war schmierig und glatt und ich fand kaum richtigen Halt. Hätte mich Helios nicht von hinten abgesichert, wäre ich ziemlich sicher abgerutscht und von den pechschwarzen Wellen davon gespült worden.

    Endlich waren wir alle an Bord. Mein Blick fiel Richtung Ufer und ein Wimmern kam über meine Lippen. Die ganze Stadt war inzwischen durch die Unruhe wachgeworden. In vielen Häusern in der Nähe der Stadtmauer brannte Licht, aber das war inzwischen kein Hinweis mehr darauf, ob jemand zuhause war oder nicht.

    Die Stadt wurde nicht nur in 12 Ringe parallel zum Meer eingeteilt, sondern auch in gleichmäßige Streifen vom Meer weg und zur Mauer hin. Zusammen ergaben diese Unterteilungen ein Muster, das an das Spielfeld des Spiels „Schiffe versenken" erinnerte.

    Freyas und mein Haus befand sich zusammen mit etwa 15 anderen Häusern im Cluster 1F. „1 beschrieb den ersten Ring zum Meer und „F den sechsten Energieversorgungsstreifen, der durch die Turbine F gerade nur noch schwach flackernd erleuchtet wurde.

    Die Versorgungsstreifen A, D, G, H und K waren dagegen in tiefe Dunkelheit getaucht. Fünf kerzengerade, schwarze Streifen, die einfach so in der Stadt zu fehlen schienen, als hätte man sie ausradiert.

    Für einen kurzen Moment drohte mich die Panik zu übermannen: Auch die Stadtmauer war in diesen Abschnitten in Dunkelheit gehüllt. Die Lichter der Sicherheitsposten waren erloschen und wahrscheinlich war auch der elektrische Zaun in diesen Bereichen außer Betrieb. Unser Streifen war nicht mehr weit davon entfernt, den anderen zu folgen. Die Lichter flackerten schwach, fast wie Kerzen in einem Raum ohne Sauerstoff.

    „Wir müssen uns beeilen!", schrie Helios unserer Gruppe entgegen. Überrascht stellte ich fest, dass wir inzwischen nur noch zu viert warten.

    „Wo ist Andre?" So nahe an der Turbine war das Krächzen des Metalls ohrenbetäubend laut. So laut, dass die anderen mich kaum hören konnten. Zarun, der sich bereits am Ankerseil zu schaffen machte, gab mir zu verstehen, dass er schon vor einer Weile umgekehrt war.

    „Er ist kein guter Schwimmer und hat unterschätzt, wie tief das Wasser ist! Wir sind auf uns gestellt." Zarun sprach ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Er war schon um die fünfzig Jahre alt und strahlte meistens eine unheimliche Ruhe aus.

    Ich griff ebenfalls mit an das Ankerseil. Zarun begann, langsam die Schlaufen zu lösen und ich verstärkte meinen Griff um das Seil. Meine Finger waren vor Kälte taub und ich konnte sie kaum schließen. Wir wollten es nur etwas lockern, um das Schiff aus seiner Schieflage zu holen. Eventuell kamen wir so auch etwas näher an die Turbine heran. Währenddessen machten Helios und Freya das Fischernetz fertig. Ein Ruck ging durch das Seil, als Zarun den Knoten endlich gelöst hatte.

    Ich schrie vor Schreck und Schmerzen auf und stemmte mich mit vollem Körpergewicht gegen die Reling. Das dicke Seil grub sich in meine Haut und ich konnte fühlen, wie warmes Blut meine Handfläche entlang floss. Auf meiner kalten Haut fühlte es sich fast heiß an. Tränen schossen mir in die Augen. Zarun ging es nicht besser.

    Helios und Freya ließen das Netz fallen und eilten panisch zu uns. Die schmalen Finger der beiden griffen ebenfalls nach dem Seil und mit vereinter Kraft gelang es uns, die Leine nach und nach zu verlängern. Wir durften das Seil auf keinen Fall verlieren. Bei diesem Sturm wusste niemand, wie weit es uns hinaustreiben würde und die Bucht war umgeben von Felsen und Geröll.

    Das Schiff wurde jetzt schon Stück für Stück aufs

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