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Widerstand
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eBook552 Seiten6 Stunden

Widerstand

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Über dieses E-Book

Nach dem letzten Opfer verlassen Georgie und ihre Mitstreiter Südtirol und begeben sich in ihr zweites Geheimquartier nach Harbour Island. Ihre Ankunft sorgt auf der karibischen Insel für großes Chaos: Das Wetter spielt verrückt und Menschen verschwinden spurlos. Während die Malakhim auf ihre Verurteilung warten, kommt es zu großen Spannungen zwischen Ihnen.
In all dem Durcheinander erscheint eine verloren geglaubte Person in Georgies Leben, die ihr Dasein als Halbengel in neue Bahnen lenkt.
Die Grenzen verschwimmen und die junge Malakhim weiß nicht mehr, wem sie ihr Vertrauen schenken kann. Freunde werden zu Feinden, Feinde zu Freunden und das Böse kommt seinem Ziel stetig näher.
Als Georgie darüber hinaus auch noch eine erschütternde Erkenntnis über das letzte Opfer macht, ist sie bereits mitten drin - gefangen in der Schlacht zwischen Licht und Dunkelheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberTalawah Verlag
Erscheinungsdatum29. Sept. 2018
ISBN9783947550197
Widerstand
Autor

Hawa Mansaray

Hawa Mansaray wurde 1992 im sonnigen Sierra Leone geboren und wuchs in den Städten Nürnberg und Fürth auf. Schon von klein an begeisterten sie Märchen, insbesondere von Hans Christian Andersen und der Gebrüder Grimm. Mit 11 Jahren begann sie eigene Kurzgeschichten zu verfassen und inzwischen ist das Schreiben ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wenn sie nicht gerade schreibt, zeichnet sie unter dem Pseudonym "Hawa Ray" leidenschaftlich gerne Portraits.

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    Buchvorschau

    Widerstand - Hawa Mansaray

    Hawa Mansaray wurde 1992 im sonnigen Sierra Leone geboren und wuchs in den Städten Nürnberg und Fürth auf. Schon von klein an begeisterten sie Märchen, insbesondere von Hans Christian Andersen und der Gebrüder Grimm. Mit 11 Jahren begann sie eigene Kurzgeschichten zu verfassen und inzwischen ist das Schreiben ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wenn sie nicht gerade schreibt, zeichnet sie unter dem Pseudonym „Hawa Ray leidenschaftlich gerne Portraits. Mit „Engelserwachen ist nun ihr Debüt und gleichzeitig der Auftakt zu Hawa‘s Urban-Fantasy-Reihe „Malakhim" im Talawah Verlag erschienen.

    Für meine Familie und Freunde

    und für alle, die an mich glauben

    Drei gewaltige Blitze durchzuckten den nächtlichen Himmel und erhellten das Firmament über Harbour Island . Die beschauliche Ruhe, in der die Insel vor wenigen Augenblicken noch geschwelgt hatte, war mit einem Mal vorbei. Selbst das Meer spürte die unmittelbare Veränderung: Seine Wellen rauschten nicht mehr sachte, sondern stiegen an und überschlugen sich.

    Trüber Smog bildete sich am Himmel und schien die Sterne mit ihrem rapiden Wachstum vertreiben zu wollen. Mal färbte er sich schwarz, mal rot wie frisches Blut. Nachttiere begaben sich in Sicherheit. Sie ahnten die Gefahr, die sich über ihnen zusammenbraute. Eine Gefahr, die dermaßen zerstörerisch war, dass die gesamte Insel, mit ihr die Natur und die Tiere, zu erzittern begann. Es schien wie der Anfang des Jüngsten Gerichts.

    Ein Lichtpunkt zeichnete sich inmitten des wabernden Nebelschleiers ab, so zart, dass kein menschliches Auge der Welt fähig wäre, ihn zu Gesicht zu bekommen. Ihre Farbe nahm von Minute zu Minute an Intensität zu, bis sie sich zu einem Leuchten steigerte. Helle Funken entstanden, die aufflammten. Die züngelnde Flamme ernährte sich wiederum von den Rauchfahnen um sie herum, sodass der Himmel bald einem lodernden Inferno glich.

    Aus ihren Funken formte sich eine Gestalt so schön wie die Erde selbst und doch grausamer als die gesamte Menschheit zusammen. Ihr Inneres war von Flammen durchzogen, ihr Herz hingegen frostiger als Eiszapfen im Winter. Gigantische Flügel wuchsen aus ihrem schlanken Rücken hervor, die jeden Engel hätten staunen lassen. Dabei lösten sich einzelne, schwarze Federn von ihnen, die kurz in der Luft verweilten und sich daraufhin im ganzen Ort verteilten. Auf den Dächern der edlen und bescheidenen Häuser, auf Palmenblättern und Gräsern sowie auf dem feinen rosa farbenen Sand. Sobald sie mit ihnen in Berührung gerieten, zersetzten sie sich zu Staub.

    Mit den Augen eines weisen Mannes und eines scharfsinnigen Falken ließ die Gestalt den Blick über die Ortschaft gleiten. Ihre Lippen formten sich zu einem infernalischen Grinsen, als ihre Augen auf die Person stießen, nach der sie gesucht hatten.

    Die Zeichen der Zeit sprachen für sich. Der Tag der Vergeltung rückte von Stunde zu Stunde näher. Das Wesen spürte mit jeder Faser seines teuflischen Körpers, dass seine Zeit gekommen war. Jahrhunderte nach dem Zwist, Jahrhunderte nach dem uralten Schwur.

    Seine Rache stand bevor. Während dieser unerträglich langen Zeit des Wartens hatte ihn sein Hass ernährt. Der Hass gegenüber dem Schöpfer, den er einst bedingungslos geliebt hatte.

    Schon bald würde die Stunde der Vergeltung schlagen. Die Vergeltung dafür, dass der Allmächtige die Menschen über ihn gestellt hatte, und dafür, dass er sie überhaupt erschaffen hatte.

    Bald würde er der Herrscher des Himmelreichs sein. Bald. Bis dahin stand noch eine Kleinigkeit bevor.

    Seine teuflischen Augen wurden schmal wie die Augen einer Katze in der Dunkelheit. In seiner schwarzen Iris spiegelte sich das schlafende Gesicht eines jungen Mädchens wieder, dessen Aura heller strahlte als alles, was er jemals gesehen hatte. Ja, bald würde er der Herrscher des Himmelreichs sein. Doch bis dahin musste er sich etwas Wichtiges zurückholen. Etwas, das einst ihm gehört hatte.

    Brennender Schmerz durchschoss meinen Körper, während sich die Angst wie eine Schlinge um meinen Hals legte. Ich fürchtete mich zu Tode, zitterte und schwitzte gleichermaßen. Die unerträgliche brennende Hitze raubte mir den Atem, lähmte mich. Die Kraft, mich von diesen Qualen zu befreien, war mir verloren gegangen.

    Meine Umgebung war flammend rot, die Luft beißend und meine Kehle staubtrocken. Um mich herum erahnte ich schemenhafte Gestalten, die mit ihren schmerzverzerrten Fratzen und ihren Krallen ähnlichen Händen nach mir griffen. Ich riss den Mund auf, doch kein Schrei entrang sich meiner Kehle. Ihre Berührungen fühlten sich an wie Messerstiche. Höllenqualen …das waren Höllenqualen!

    Erneut griff eine Hand nach mir, diesmal verspürte ich keine Schmerzen. Mit einem einzigen kräftigen Ruck zog sie mich aus der feuerroten Brunst, heraus aus der Hitze, heraus aus der Pein.

    Ich fand mich in einem bekannten Ort wieder: Phoenix, Arizona – meine einstige Heimat. Die Nacht war hereingebrochen, und die Straßen waren menschenleer. Einzig der Mond ragte in seiner vollen Größe auf. Sein fahles Licht durchbrach die finstere Nacht und erhellte die Seitenstraßen. Mein Blick fiel auf eine Gestalt, die am Boden lag und vom Licht des Mondes erfasst wurde. Ein Mensch, mit dem Bauch nach unten.

    Mein Inneres sagte mir, dass ich diese Person kenne und auf sie zugehen solle. Obwohl sich alles in mir sträubte, machte ich einen unsicheren Schritt nach vorn. Dann einen weiteren. Locken. Braune Haare. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging die letzten Schritte auf den leblosen Körper zu. Alle meine Muskeln waren angespannt und zum Angriff bereit, falls sich die Person unverhofft auf mich stürzen würde.

    Ich kniete mich neben sie hin und drehte sie behutsam auf den Rücken. Das erste, was ich sah, war das Blut. In mir stieg ein Gefühl von Übelkeit auf. Als nächstes fiel mein Blick auf das Gesicht. Türkise Augen, Davids Augen. Ich schrie auf.

    Ruckartig richtete ich mich im Bett auf und spürte die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Mein Puls raste, als wäre ich einen Marathon gelaufen, und meine Brust hob und senkte sich in einem unregelmäßigen Takt.

    Unruhig glitt mein Blick umher. Das Fenster vor mir war gekippt, die durchsichtigen Musselinvorhänge waren zurückgezogen. Ich sah hinaus in die Dunkelheit und bemerkte den Mond, der genauso dominant herausragte wie in meinem Traum.

    Sein Licht warf gespenstige Schatten auf den Strand, und für einen Augenblick nahmen sie für meine gerade erwachten Augen die Gestalt von Dämonen an, die fröhlich umher tanzten und großen Spaß zu haben schienen.

    Das sanfte Meeresrauschen wurde von dem Regen dominiert, und der Geruch von aufgeweichter Erde und feuchtem Sand drang mir in die Nase. Übertönt wurde das Prasseln wiederum vom Ticken der Schrankuhr, die auf der gegenüberliegenden Wand meines Zimmers stand.

    Ich betrachtete den geräumigen Raum, während ich mir fahrig über das Gesicht fuhr, das schweißnass war. Ich erkannte einen antiken, viertürigen Kleiderschrank, der reiche Verzierungen und einen Spiegel besaß. Ein Schlüssel aus Messing steckte in einer der Türen.

    Neben dem Schrank befand sich eine Holztruhe in elegantem Design. Auf einem farblich angepassten Hocker lag ein Berg von Hemden, T-Shirts und Röcken, die ich am Tag zuvor aussortiert hatte.

    Ich brauche keine Angst zu haben! Ich bin zu Hause, redete ich mir beschwichtigend zu und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß und die Tränen vom Gesicht. Dennoch wollte das Zittern, das meinen gesamten Leib beherrschte, nicht nachlassen.

    Seit zehn Nächten schon!, stellte ich verzweifelt fest. Seit zehn Nächten sucht mich ein und derselbe Albtraum heim, und es scheint kein Ende nehmen zu wollen.

    Es fing immer mit der unerträglichen Hitze und den grauenhaften Schmerzen an und wurde mit dem Anblick von Davids Leichnam beendet. Sobald ich aus dem Albtraum erwachte, empfing mich eine große, bedrohliche Angst, als ob das Horrorerlebnis noch nicht vorüber war, und ein weiterer Schock auf mich wartete.

    Abermals fuhr ich mir über das Gesicht.

    Ich schüttelte diese beunruhigenden Gedanken vorerst ab und griff nach dem Glas Wasser, das auf meinem Nachtkästchen stand. Zur gleichen Zeit traf mich ein stechender Schmerz in meiner rechten Schultergegend. Ich stieß einen leisen Schrei aus und ließ das Glas fallen. Ein dunkler Wasserfleck bildete sich auf meinen Lacken und der Decke.

    Wie in Trance starrte ich auf die Sauerei, die ich angerichtet hatte, und führte die linke Hand langsam zu meiner rechten Schulter. Meine Finger zitterten, als sie über die betroffene Stelle fuhren. Es schmerzte, als hätte sie jemand auf eine glühende Herdplatte gelegt.

    Ich ließ die Hand sinken, die nach wie vor bebte. Dann entfernte ich das nasse Laken und wechselte es gegen ein neues aus. Die Decke legte ich zum Trocknen auf die Heizung. Immer mal wieder berührte ich meine brennende Schulter und schüttelte irritiert den Kopf. Ich lehnte mich an die Heizung und fühlte, wie der Schmerz erst nachließ, aber dann stetig anstieg. Meine Sicht verschwamm. Den Raum nahm ich nur noch als nebelhaftes Bild wahr. Ich blinzelte mehrmals und zuckte unter dem aufkommenden Schmerz zusammen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, es pulsierte im Takt mit meinem Herzschlag. Poch. Poch. Poch. Panische Angst ergriff mich, und ich hatte das Gefühl, wieder in meinem Albtraum zu stecken. Mein Atem beschleunigte sich. Stöhnend rieb ich mir die Augen, die plötzlich brannten und juckten, und blinzelte erneut. Dann sank ich auf den Boden vor der Heizung. Ich war mir sicher, dass ich kurz davor stand durchzudrehen. Meine Finger hatten sich tief in mein Pyjama gegraben, als ob ich den Schmerz dadurch lindern könnte. Die Haare klebten mir im Gesicht.

    Jäh nahm es ein Ende. Ungläubig wartete ich ab und berührte nach etwa zehn Minuten die Stelle, die mich gerade noch um den Verstand gebracht hatte. Kein Pochen. Kein Brennen. Keine Schmerzen.

    Ich erhob mich mit wackligen Beinen. Meine Sicht war wieder klar, der Schleier hatte sich verzogen. Ich stolperte ins Bad, das sich auf derselben Etage wie mein Zimmer befand. Mit zittrigen Händen tastete ich nach dem Lichtschalter.

    Als sich das Bad erhellte, starrte mir ein ängstliches Mädchen aus dem großen Badezimmerspiegel entgegen. Ich sah blass und unausgeschlafen aus.

    „Was passiert mit dir, Georgie?", murmelte ich und ging auf den Spiegel zu. Starr blickte ich auf die Innenfläche des Waschbeckens, das mit kleinen Kacheln im Rautenmuster versehen war. Zuerst wusch ich mir ausgiebig das Gesicht und strich mir anschließend die Strähnen hinter die Ohren, bevor ich den Mut aufbrachte, meinen Pyjama auszuziehen und die rechte Rückenhälfte vor den Spiegel zu halten. Mir stockte der Atem.

    Etwas, das wie drei ineinander gelegte Rauten mit einem Punkt in der Mitte aussah, zierte meinen oberen Rückenbereich. Die Stelle war angeschwollen und von rötlicher Farbe durchzogen. Es sah aus wie eine Vernarbung unter der Haut, war dafür aber viel zu präzise.

    Das Zittern setzte wieder ein. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um mich zu sammeln.

    Nach zehn gezählten Sekunden öffnete ich die Lider und blickte in den Spiegel. Mein braunes Haar stand mir wirr in allen Richtungen ab, die Wangenknochen stachen im Gesicht hervor. Ich hatte abgenommen.

    Irgendwann wandte ich den Blick ab. Ich ertrug die Farbe meiner Augen nicht. Stechendes Gold. Ein Beweis dafür, wer ich war. Nein, was ich war. Ein Halbengel, eine sogenannte Malakhim, bestehend aus menschlicher Seele und engelsgleicher Kraft.

    Ich riss mich zusammen, zog mich wieder an und schlich zurück in mein Zimmer. Insgeheim hoffte ich, dass niemand mein Poltern mitbekommen hatte. Meine Mitstreiter hatten momentan genug um die Ohren.

    Wir hatten keine Reaktion aus dem Himmelreich bezüglich unseres Regelverstoßes erhalten. Es herrschte kaltes Schweigen. Weder die Erste Triade noch das Absolute Gericht hatten uns vor das Heilige Gericht gezerrt, so wie es bei Cedric der Fall gewesen war.

    Moriel war seit mehreren Tagen spurlos verschwunden.

    Aufgrund des andauernden Regenwetters waren meine Mitstreiter und ich des Öfteren ins Paradies geflüchtet und hatten dort, außer den unzähligen Seelen, keinen Todesengel zu Gesicht bekommen. Selbst Dalilah traf ich nicht mehr an.

    Wir warteten jeden Tag auf ein Zeichen, eine Botschaft, irgendetwas. Doch die Engel schienen uns so böse zu sein, dass sie uns mit Nichtachtung straften. Es zerrte an unseren Nerven. Wir wussten alle, dass uns etwas Schlimmes bevorstand, aber was das war, vermochte uns niemand zu sagen.

    Jede Nacht stellte ich mir dieselbe Frage: Würden wir vor das Heilige Gericht kommen?

    Chiara sprach ungern darüber, aber mir blieb ihre sorgenvolle Miene nicht verborgen. In ihren Augen sah ich die Hoffnung, nicht angeklagt zu werden oder zumindest ein mildes Urteil zu erhalten, da wir Jonathan gerettet und die letzte Prophezeiung verhindert hatten.

    In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf mein Bett und zog die Beine an. Erneut fiel mein Blick auf den Kleiderschrank. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass alle Möbelstücke im Haus wild zusammengewürfelt worden waren. Nichts passte zueinander, und trotzdem hatte es Stil.

    Mein Bett war aus einem robusten Massivholz und am Kopf- und Fußteil stilvoll verarbeitet. Auf beiden Seiten des Bettes stand je ein Nachtschrank. Ich besaß sogar einen eigenen Flachbildfernseher, der aber so gut wie nie benutzt wurde.

    Ich vermisste Südtirol nicht. Um ehrlich zu sein, war ich froh darüber, von dort weggekommen worden zu sein. Zu erdrückend und kalt war die Stimmung gewesen. Zu viele negative Erinnerungen verbanden mich mit diesem Ort.

    Vorsichtig berührte ich meine Schulter, als ob ich darauf warten würde, dass das Pochen von Neuem begann. Ich lehnte mich zurück und legte meinen Kopf auf das weiche Kissen. Draußen regnete es unaufhörlich.

    Das kann doch alles nicht wahr sein! Woher kam dieses sonderbare Mal auf meiner Schulter plötzlich? Was ging hier vor sich? Die ganze Sache bereitete mir große Angst. Ich wollte auf keinen Fall mehr diesen furchtbaren Schmerzen ausgesetzt sein. Ich wollte so viel: eine Meldung aus dem Himmelreich. Das Auftauchen von Moriel. Einen weisen Rat von Dalilah. Das Ende des Regens und der Albträume. Es hatte alles doch so gut begonnen!

    Zwei Monate waren vergangen, seitdem wir Ren und Jonathan aus den Fängen Arazels befreit hatten. Nach Anraten von Moriel hatten wir Bozen verlassen und waren in die Bahamas gezogen. Harbour Island war eine kleine Insel an der nordöstlichen Küste Eleutheras und war für seine sonnigen Temperaturen und pinkfarbenen Strände bekannt. Die Insel galt als beliebter Ort für die Reichen und Schönen, die hauptsächlich in den exquisiten Luxusresorts anzutreffen waren.

    Unser Ferienhaus befand sich nicht weit vom Strand entfernt. Angereiht neben anderen schicken Ferienhäusern und 5-SterneHotels. Die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen war überall zu spüren, und eine karibische Familie, die seit Generationen auf der Insel lebte, hatte uns gleich nach unserer Ankunft zum Essen eingeladen.

    Der Vater, Joshua, ein Mann mit stattlichem Körperbau und strahlendem Lächeln, war der Besitzer der Strandbar, die wir wenige Stunden nach unserer Anreise besucht hatten. Seine Frau Emilia, die dort als Kellnerin arbeitete, war mit Chiara ins Gespräch gekommen, und ehe wir uns versahen, waren wir zum Abendessen eingeladen worden.

    Womöglich hatten sie geahnt, was wir waren, denn sie hatten uns während des Essens hauptsächlich von ihren Sagen und Mythen erzählt. Von Kreaturen, die zur einen Hälfte Mensch und zur anderen Hälfte aus Fisch bestanden und über ein eigenes Königreich im Meer verfügten. Geschöpfe mit übernatürlicher Schönheit.

    Jonathan hatte während dieser Erzählungen nur die Stirn gerunzelt und kein einziges Wort gesagt, während Chiara und ich uns mehrmals unwohle Blicke zugeworfen hatten. Obwohl wir Kontaktlinsen trugen, die unsere wahre Augenfarbe verbargen, war mir der Ausdruck der jüngsten Tochter nicht entgangen. Sie hatte uns die ganze Zeit über merkwürdig gemustert.

    Joshua hatte uns alle möglichen Fragen gestellt: Woher wir kämen, und wie lange wir bleiben würden. Er hatte von den karibischen Köstlichkeiten geschwärmt und uns Orte genannt, die wir im Laufe unseres Urlaubs unbedingt besichtigen mussten. Zum Abschied hatte er uns Halsketten mit grünen Perlen und Muscheln geschenkt, die Glück symbolisierten.

    Ich konnte mich nicht sattsehen, wenn morgens der gelbrote Feuerball am Horizont erschien, um mich den ganzen Tag über zu begleiten. Hohe Palmen und immergrüne Gartenanlagen zierten die Insel. Die Einheimischen machten es mir leicht, mich willkommen und heimisch zu fühlen.

    Die Sorgen bezüglich unseres Regelverstoßes waren mir anfangs weit entfernt erschienen. Dass wir seit dem letzten Opfer keine Reaktion aus dem Himmelreich erhalten hatten, war Chiara und mir ganz recht gewesen und hatte uns in dem Gedanken gestärkt, richtig gehandelt zu haben.

    Drei Wochen nach unserer Ankunft hatte das Wetter begonnen, verrückt zu spielen. Zuerst sanken die Temperaturen dramatisch ab, sodass man ohne Pullover und Jacke nicht aus dem Haus gehen konnte. Das war für diese Jahreszeit äußerst ungewöhnlich.

    Woher der plötzliche Temperaturabfall kam, konnte niemand beantworten. Nicht einmal jene reinblütige Engel aus dem Himmelreich, die für die Angelegenheiten der Erde zuständig waren. Chiara hatte ihnen noch am selben Abend einen Besuch abgestattet, aber sie hatten sie lediglich mit den Worten abgewimmelt, selbst keine Erklärungen zu haben.

    Harbour Island verfiel in einen Ausnahmezustand. Beinahe jeder Fernsehkanal im Ort und im Ausland hatte von der schlagartigen Temperatursenkung berichtet, und jeder Reporter schien eine andere Erklärung dafür zu haben.

    Alle hatten sich die gleichen Fragen gestellt: War die Klimaerwärmung für das Phänomen verantwortlich? Wenn ja, warum hatten nicht einmal die Meteorologen das kommen sehen?

    Erst nach zwei Wochen waren die Temperaturen wieder auf die üblichen Sommergrade angestiegen. Die Straßen von Dunmore Town hatten sich erneut mit Touristen gefüllt, die die Kolonialstadt besichtigen wollten, ebenso die zahlreichen Badeplätze und Strände, die während der kalten Temperaturen wie ausgestorben gewirkt hatten.

    Ich hatte meine Freizeit damit verbracht, Spaziergänge an pinkfarbenen Sandstränden entlang des Meeres zu unternehmen oder mich in einer Hängematte zwischen zwei Kokospalmen wiegen zu lassen. Manchmal besuchte ich die verschiedenen Fischrestaurants, die es auf der Insel reichlich gab, da Harbour Island für seine Fischgerichte bekannt war.

    Vor einer Woche hatte dann der Regen eingesetzt. Seitdem regnete es ununterbrochen – bis heute.

    Wieder war die Ursache unklar. Niemand wusste, wie lange dieser mysteriöse Regen andauern würde. Es gab Tage, an denen nur leichte Tropfen vom Himmel fielen, und man aus dem Haus treten konnte, ohne pitschnass zu werden. An solchen Tagen schien sogar die Sonne.

    Dann wiederum regnete es in Strömen und das stundenlang.

    Die Einheimischen sprachen von einem Fluch, während die internationalen Wetterexperten von einem weiteren Phänomen ausgingen, das nicht lange andauern würde.

    Für mich gab es keine logische Erklärung für die Temperaturschwankungen und den Regen. Die Regenzeit war längst vorüber, Dezember galt als die beste Reisezeit, in der es so gut wie keine oder nur wenige Niederschläge gab.

    Lenk dich ab!, befahl ich mir und sog tief die Luft ein.

    Und das tat ich.

    Ich dachte über die Gespräche nach, die Chiara und ich in den vergangenen Wochen miteinander geführt hatten.

    Sie hatte mir erklärt, dass Harbour Island und Bozen magische Orte waren, an denen alle unsichtbaren Kraftfelder aufeinander trafen. Sie verfügten über Portale zur Himmelswelt wie auch zur Unterwelt, die uns vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung standen. In anderen Städten öffneten sich Portale in der Regel nur alle paar Jahre.

    Nachdem das erste Opfer in Gries-Quirlein vollzogen worden war, hatte sich ein Siegel geöffnet. Die Aufgabe eines Siegels war es, dem jeweiligen Land oder Ort Schutz zu gewähren. Die freigesetzte Energie der ermordeten Menschen hatte dem Gleichgewicht der drei Siegel erheblich geschadet und dafür gesorgt, dass unser Geheimquartier in Bozen uns keinen Schutz mehr bieten konnte.

    Wir hatten darüber hinaus über unsere Gefühle und Ängste geredet. Meine Freundin befürchtete, alles zu verlieren. Unser Titel als Malakhim hatte ihr damals eine neue Identität verschafft, ein neues Leben. Feststellen zu müssen, dass dieses Leben auf Lügen und Intrigen basierte, musste erdrückend sein.

    Chiaras Angst war begründet. Was würde mit uns Malakhim geschehen, wenn wir unsere Mission ab sofort verweigerten? Hatten wir überhaupt eine Wahl? Schließlich wurde das zweite und dritte Opfer erfolgreich verhindert! Das bedeutete, dass es keinen Garant mehr dafür gab, dass Luzifer ins Himmelsreich gelangen konnte. Die Prophezeiung war somit ungültig.

    Tief seufzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht in die Kissen. Plötzlich spürte ich eine Hand, die mir sanft über den Hinterkopf strich, und ein Atem, nahe meinem Ohr.

    „Georgie …"

    Sobald ich Cedrics Stimme vernahm, richtete ich mich auf. Ich sah ihn rechts von mir auf der Bettkante sitzen. Seine Augen, die wie die Farbe eines kräftigen Steins im Glanz der Sonne aussahen, waren auf mich gerichtet. Sie leuchteten aufreizend im Licht des Mondes.

    Mein Herz pochte unerwartet schnell, was bei seinem Anblick nicht verwunderlich war. Seine glatten, dunklen Haare waren in der Nacht kaum zu sehen. Ein dünnes Lächeln umspielte seine geschwungenen Lippen, das erst wärmer wurde, nachdem sich meine Mundwinkel nach oben gezogen hatten. Er entblößte schöne, weiße Zähne.

    Cedric streckte den Arm aus und fasste mir vorsichtig unter das Kinn, als wäre ich eine zerbrechliche Puppe. Ich erschauerte. Seine Finger waren kühl. Er kam mir näher und beugte sich zu mir vor. Das Tempo meines Herzschlags nahm zu. Seine Lippen fanden meine. Wie seine Hand waren sie kalt, aber weich, und ich ging in Flammen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns an, unsere Blicke verschmolzen ineinander, bis ich die Lider schloss, um den Kuss in vollen Zügen auskosten zu können. Das waren die wenigen Augenblicke, die meine Haut prickeln und meine Sorgen ruhen ließen.

    Cedric küsste auf eine besondere Art und Weise. Seine Küsse verursachten mir eine Gänsehaut und ließen meinen Atem stocken. Wenn er mich wie jetzt an sich zog, und seine Hand über meinen Rücken wanderte, klopfte mir mein Herz bis zum Hals, und das Blut begann, in mir zu pulsieren.

    Als er seine Lippen von meinen löste, wollte ich sie am liebsten wieder auf meine drücken. Er küsste mein Ohr, dann nahm er meine Hand in seine Hände und hob sie an seine Lippen, um sie mit einem weiteren Kuss zu bedecken.

    Freudig atmete ich seinen ungewöhnlichen Duft von frischer Erde ein und musterte sein, für mich, perfektes Gesicht.

    Cedric besaß eine magische Anziehungskraft, der ich mir von Anfang an nicht entziehen konnte. Da er jetzt lächelte, wirkten seine Züge nicht ganz so kalt. Ich war erleichtert, dass ich inzwischen zu den Leuten gehörte, denen er seine sanftmütige Seite offenbarte.

    Vor einem Jahr wäre mir niemals in den Sinn gekommen, mich in jemanden wie ihn – einen Verstoßenen aus dem Himmelsreich – zu verlieben. Wie denn auch? Noch vor einem Jahr war ich ein 16-Jähriger Mensch gewesen, der in der Hauptstadt Arizonas aufgewachsen und so ziemlich alles gewesen war außer selbstbewusst.

    Neben meinen Minderwertigkeitskomplexen hatte ich mit zwei meiner Mitschüler, Isabella Morris, die inzwischen verstorben war und zu den Bewohnern der Hölle zählte, und Rendall Edwards, dem ich nur haarscharf dasselbe Schicksal erspart hatte, zu kämpfen gehabt. Wie es Ren mittlerweile ging, nachdem Jonathan sein Gedächtnis gelöscht hatte, wusste ich nicht.

    Ich hatte mit Phoenix und meiner Familie abgeschlossen. Nur David …nur er ging mir nicht aus den Kopf, was hauptsächlich an den Träumen lag. Sie beunruhigten mich nicht nur, sondern bereiteten mir große Sorgen.

    „Deine Gedanken sind weit weg, sagte Cedric, und seine Augen musterten mich mit der typischen Intensität. „Was beschäftigt dich?

    Was mich an Cedric besonders verwunderte, war die Tatsache, dass er sich in vielen Dingen zwar bedeckt hielt, aber wenn es um meine Person ging, sehr neugierig schien. Noch bevor ich antworten konnte, erriet er, was in mir vorging.

    „Du hast wieder schlecht geträumt."

    Ich nickte seufzend. „Es scheint kein Ende nehmen zu wollen. Es ist immer derselbe Albtraum, immer dieselben Bilder. Es muss doch einen Grund geben, warum ich das alles träume, nicht wahr? Die unsagbare Hitze, diese Fratzen, die nach mir greifen und Davids Leichnam … Glaubst du, er wird sterben?" Ich rief mir das damalige Gespräch mit Chiara in Erinnerung. War das der Ursprung meiner jetzigen Albträume?

    Cedric fuhr mit den Fingern über die Innenseite meiner Hand und schwieg. Sein Lächeln war längst einer ernsten Miene gewichen.

    Heute war er wieder in seinem düsteren Outfit gekleidet, fiel mir auf. Dunkles Hemd, dunkle Hose, dunkle Stiefel. Er war groß gebaut, aber weder schlaksig noch zu muskulös. Mein Blick fiel auf seinen linken Zeigefinger, an dem ein sonderbarer Ring mit einem Drachenkopfsymbol steckte. Dieser Ring war mir zuvor nie aufgefallen. Verwundert legte ich die Stirn in Falten. Ich hatte Cedric das letzte Mal vor vier Tagen gesehen. Was hatte er während dieser Zeit getan?

    Obwohl es mich interessierte, sprach ich das Thema nicht an. Ich wusste allzu gut, dass er es nicht leiden konnte, ausgefragt zu werden.

    „Der Tod ist Teil des Lebens, Georgie. Falls er tatsächlich sterben sollte, was für dich bedauerlich wäre, wirst du nichts dagegen unternehmen können. Nach dem Leben folgt stets der Tod, ewig lebt nur der Schöpfer, sagte er endlich und ließ meine Hand los. „Und bedenke … auch du bist gestorben – und das vor seinen Augen. Sein aufreizender Blick ruhte auf mir. Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz.

    „Ja …", gab ich zu, und es fiel mir schwer, seinem Blick standzuhalten. Er sprach einen Punkt an, den ich gern verdrängte. Ich war diejenige gewesen, die mich für den Tod entschieden und David somit tief verletzt hatte.

    Nichtsdestoweniger bereitete mir der Gedanke, dass David sterben könnte, Magenschmerzen. Dabei kam mir jene Szene meines Albtraums in den Kopf, in der er blutüberströmt am Boden gelegen hatte. Mitten in der Nacht. Das Wort Mord lag mir auf der Zunge. Würde er umgebracht werden? Wie gern ich ihn wiedersehen würde, wenigstens ein letztes Mal …

    Ich vermisste sein ausgelassenes, ehrliches Lächeln und seine Frohnatur. Er hatte sich nie über sein Leben beklagt, da er auch nie etwas zu beklagen gehabt hatte. Als Mensch hatte ich ihm viele Dinge nicht anvertrauen können, da ich zu schüchtern gewesen war. Ein letztes Mal … ein letztes Mal mit ihm reden, das wäre mein größter Wunsch.

    Ich spürte Cedrics Hand, die mein Kinn in die Höhe hob. „Was beschäftigt dich?, fragte er leise, als ich ihn musterte. „Ist es dieser David, der dir im Kopf herum spuckt? Ich weiß, dass ihr euch während deiner Menschenzeit sehr nahe standet. Das Leben ist manchmal seltsam. Es nimmt merkwürdige Wendungen an. Ich bin sicher, dass du irgendwann die Möglichkeit erhalten wirst, ihn jene Fragen zu stellen, die dir gerade durch den Kopf schwirren.

    Meine Augen weiteten sich. „Woher-"

    „Es ist nicht schwer, deine Gedanken zu erraten, meinte er mit einem schwachen Lächeln und nahm die Hand von meinem Kinn. Sein Blick glitt Richtung Fenster. Für einige Sekunden wirkte er geistesabwesend. Fast hätte ich die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn zu mir zurückgeholt. Nach längerem Warten wechselte er das Thema: „Hat sich ein Engel aus dem Himmelreich derweil bei euch gemeldet?

    Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Wir werden nach wie vor ignoriert."

    „Sonderbar", entgegnete er, und in seinen Augen sah ich so etwas wie leichte Irritation. Er nahm eine einzelne Strähne meines Haars in die Hand und begann mit ihr zu spielen. Wie gern ich mich einfach in seine Arme gelegt hätte. Stattdessen sog ich seinen frischen Duft ein. Ich konnte bis heute nicht nachvollziehen, wie meine Mitstreiter seinen Geruch als abstoßend und widerlich bezeichnen konnten, während ich mich am liebsten in seinem Duft gebadet hätte. Cedric verströmte Sicherheit, trotz seiner manchmal distanzierten Art.

    „Normalerweise zögert die Erste Triade das Gerichtsverfahren nie heraus", fügte er mit nachdenklicher Miene hinzu.

    „In den letzten Monaten sind so viele merkwürdige Dinge vorgefallen. Zuerst der plötzliche Temperaturabfall, dann der Regen, der bis heute andauert, und schließlich meine Albträume. David …"

    Cedric ließ von meiner Strähne ab. „Liebst du ihn noch?"

    Verwundert über seine Frage starrte ich ihn an. Er wich meinem Blick nicht aus.

    „Liebst du ihn?", wiederholte er, während er forschend mein Gesicht studierte. Der Ton seiner Stimme stand im Widerspruch zu seinem Gesichtsausdruck. Seine Worte klangen reserviert, als ob er über das morgige Wetter reden würde, während sein Ausdruck unruhig, nein, grimmig wirkte.

    Als ich nichts darauf erwiderte, stand er auf und ging zum Fenster hinüber.

    Sein Verhalten verunsicherte mich. „Ja, David bedeutet mir viel, aber nicht so, wie du denkst." Bisher war ich ihm gegenüber stets offen und ehrlich gewesen, wenn es um meine Gefühle ging. Ich empfand keine Liebe mehr für David, zumindest nicht die Art von Liebe, die Cedric meinte. Außerdem war doch er derjenige, der mir essentielle Dinge verheimlichte. Er war es, der sich tagelang, manchmal wochenlang nicht meldete, nicht nach mir schaute. In den zwei Monaten Inselaufenthalt hatten wir uns keine fünf Mal zu Gesicht bekommen. Er war es, der beschlossen hatte, unsere Liebe geheim zu halten, und ich hatte es ohne zu murren akzeptiert.

    Ich atmete tief durch, um mich nicht von meinen Emotionen beherrschen zu lassen, stand auf und bewegte mich auf Cedric zu.

    Er stand im Licht des Mondes und konnte schöner nicht aussehen.

    Als ich nur wenige Zentimeter hinter ihn stand, schlang ich die Arme um seinen Oberkörper, roch seinen besonderen Duft und vernahm das rhythmische Schlagen seines Herzens. Mein Kopf ruhte auf seinem Rücken. Genau jene Stelle, an der sich das Mal des Verrats befand. Das Zeichen des Skarabäus, das zu den ungünstigsten Zeiten zu bluten und schmerzen begann.

    Cedric schwieg, und ich hörte nichts außer dem Prasseln des Regens, das Schlagen seines Herzens, das Ticken meiner Schrankuhr und das gleichmäßige Ein- und Ausatmen unserer Lungen. Irgendwann gab er ein tiefes Seufzen von sich.

    „Siehst du den Mond?, fragte er flüsternd, und ich hob den Kopf und blickte aus dem Fenster. „So wie wir ihn gerade bewundern, so habe ich die Menschen damals aus der Ferne beobachtet. Ihr seid sonderbare Wesen mit sonderbaren Wesenszügen. Er machte eine Pause, und ich verlor mich fast im silbrigen Licht des Mondes.

    „Eure Handlungen sind die der Engel sehr ähnlich, aber dennoch habe ich viele eurer Beweggründe nicht begriffen, fuhr er fort. „Am wenigsten eure Art zu lieben. Auf dem ersten Blick erscheint sie unerschütterlich, aber in Wirklichkeit hält sie nur so lange an, bis Schwierigkeiten eintreten … oder eine andere, bessere Person. Menschen, denen ihr ein Stück eures Herzens geschenkt habt, ein Stück eures Seins, lasst ihr gehen, als hättet ihr nie etwas für sie empfunden. Und ohne es zu ahnen, habt ihr einen Teil eures Lebens hergegeben, einen Teil eurer kostbaren Lebenszeit. Diese Art der Liebe ist mir fremd. Im Himmelsreich mag es viele verwandte Probleme geben, aber wenn wir reinblütigen Engel lieben, lieben wir ewiglich. Unser Versprechen hält ein Leben lang. Ich will nicht heute geliebt und morgen verachtet werden, aus welchen Gründen auch immer. Am wenigsten möchte ich gegen jemand anderes ausgetauscht werden.

    Ich schluckte schwer. So aufrichtig hatte Cedric nie mit mir gesprochen. Viel zu oft vergaß ich, wie viel Schmerz er in der Vergangenheit hatte erdulden müssen, wie oft er gedemütigt und erniedrigt worden war. Man hatte ihm alles genommen. Seinen Titel, seine Kraft, sein Leben und vermutlich auch seinen Glauben zu Gott.

    „Aber dann kamst du und mein ganzes Leben wurde neu geschrieben, sagte er, und die Wärme seiner Worte durchströmte mein Herz. „Am Anfang glaubte ich, meine Gefühle zu dir unter Verschluss halten zu können, aber das Schicksal hatte seinen eigenen Plan für mich geschmiedet. Ich versuchte, dir aus dem Weg zu gehen und mich ausschließlich auf meine Mission zu konzentrieren, da du der Inbegriff von allem warst, was ich verachtete. Nur gingst du mir nie aus dem Kopf. Die ganze Zeit nicht. Ich verabscheute dich und deine Mission. Auch hasste ich, dass du einen Menschen wie David einfach aus deinem Herzen verbannen konntest und dich stattdessen in mich verliebt hast. Es gab so viele Gründe, dich auszulöschen, aber ich zog nicht einen dieser Gründe je in Erwägung.

    Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

    Mir war äußerst unwohl zumute. Cedric hatte nicht unrecht. Wie konnte ich Davids Liebe so fahrlässig wegwerfen? Er hatte mir seine Liebe offenbart, und ich hatte mich für den Tod und somit gegen ihn entschieden. Wie hart musste ihn mein Tod getroffen haben! Wie schlimm musste es für jemanden sein, eine geliebte Person zu verlieren? Dann, als ich Cedric kennengelernt hatte, war die einst so süße Liebe verpufft, die ich für ihn empfunden hatte. Ja, Cedric machte sich zurecht Sorgen. Wusste ich überhaupt, was Liebe war? War ich denn bereit, eine Liebe für die Ewigkeit zu führen, zusammen mit ihm?

    Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte.

    „Liebe … Als Cedrics dieses Wort aussprach, zuckte ich merklich zusammen. „Früher habe ich Engel belächelt, die sich in Menschen verliebt haben. Ich sah sie als schwach an und die Menschen als dumme Geschöpfe, die sich von Dämonen an der Nase herumführen ließen. Nun sieh mich an. Auch ich habe mein Herz an einen ehemaligen Menschen verloren und sie ihr Herz an mich. Nur …, er stockte, und ich wusste, was er gleich sagen würde, „… nur glaube ich nicht, ihre Liebe in irgendeiner Weise verdient zu haben."

    Ich schüttelte heftig den Kopf. „Wenn einer meine Liebe verdient hat, dann du, Cedric!"

    „Nein, Georgie. Bitte höre mir zu. Er nahm meine Arme von seinem Körper und drehte sich zu mir um. Sein Ausdruck war ernst, er lächelte nicht. „Georgie, ich möchte ehrlich zu dir sein. Er machte eine Pause. „Ich werde dir in naher Zukunft großes Unglück bescheren. Eigentlich hat unsere Liebe keine Zukunft. Keine Zukunft, keine Chance. Versuche, das zu begreifen. Du bist nach wie vor ein Mensch. Dein Herz ist das eines Menschenkindes, selbst wenn du über Engelskräfte verfügst. Ich weiß, dass du den Schmerz, den ich dir zufügen werde, nicht wirst stemmen können. Deshalb gebe ich dir jetzt die Möglichkeit, zu gehen."

    Ich war bestürzt über seine Worte.

    „Du sagtest doch gerade, dass du dir eine Liebe wünschst, die unendlich hält. Ich werde versuchen, dir diese Liebe zu geben.

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