Wissen, Bildung und Schule neu denken: Zugänge zu einem franziskanischen Bildungskonzept
Von Udo F. Schmälzle
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Über dieses E-Book
Udo F. Schmälzle zeigt auf, dass sich bei Franz von Assisi Impulse zu einer modernen Pädagogik finden lassen. Der Heilige aus Umbrien war gewiss kein ausgewiesener Erzieher, aber sein Gottes- und Menschenbild, seine Einstellung zur Schöpfung und nicht zuletzt sein Umgang mit Menschen fremder Kulturen geben hilfreiche Impulse für eine tragfähige Erziehungs- und Bildungsarbeit.
Das in diesem Buch dargelegte franziskanische Bildungskonzept bleibt nicht in der Theorie, es ist durch die Praxiserfahrung des Autors im Schulalltag und in der Bildungsarbeit gedeckt.
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Buchvorschau
Wissen, Bildung und Schule neu denken - Udo F. Schmälzle
1. Einführung
War Franziskus ein „Bücherstürmer"?
Die Biographen des hl. Franz von Assisi (1182-1226) lassen keinen Zweifel: Das Streben von Brüdern nach Wissen und Bildung und der Besitz von Büchern haben ihn wenig interessiert. Brüder, die Bücher haben wollten, waren ihm verdächtig und erhielten meistens eine kräftige Abfuhr. „‚Viele‘, sprach er, ‚macht Wissen ungelehrig‘ (2C 194,2; FQ 404). Beim Mattenkapitel 1218, an dem sich eine große Zahl von Brüdern, auch auf Betreiben des mächtigen Kardinals Hugolin, an der Regel des hl. Benedikt orientieren wollte, kontert er mit einer nicht zu überbietenden Schärfe: „Durch eure Wissenschaft und Weisheit aber wird euch Gott zuschanden machen!
(Per 18,6, FQ 1106). Was ist das für ein „Wissen, vor dem Franziskus warnt? Welche „Wissenschaft
macht „ungelehrig? Wir treffen auf seltsame Widersprüche. Franziskus ermahnt die Brüder, jedes Fitzelchen Papier zu retten, auf dem auch nur ein Wort aus dem Munde Jesu zu lesen war. Auf der anderen Seite versperrt er mit dem Bücherverbot den Analphabeten unter den Brüdern den Zugang zur eigenständigen Urteilsbildung mit der Bibel. „Den anderen [Laien], die des Lesens unkundig sind, soll es nicht gestattet sein, ein Buch zu haben
(NbR 3,9; FQ 72). Lediglich die Bücher zum Beten des Stundengebetes wollte er unter seinen Brüdern wissen. Dem hl. Antonius von Padua erlaubte er zwar, Brüdern die heilige Theologie vorzutragen, ermahnte ihn jedoch ausdrücklich, „durch dieses Studium [nicht] den Geist des Gebetes und der Hingabe auszulöschen" (Ant 2; FQ 108).
Warum solche Abgrenzungen?
Wenn Franziskus bestimmte Formen der Wissenschaft und Bildung von seinen Brüdern fernhalten wollte, hat dies vermutlich mehrere Gründe.
Immer wieder warnt er vor der „Weisheit dieser Welt, vor „jeglichem Stolz und eitlem Ruhm
, einer Grundhaltung, die alles Können und Wissen sich selber zuschreiben will und damit blind wird für die Erkenntnis, dass wir alles Wissen und Können Gott verdanken. Dazu kommt, dass die „Weisheit dieser Welt dazu verführt, nur „Worte zu machen, weniger aber zum Wirken
(NbR, 17,9–11; FQ 83).
Mit seinen klaren Anweisungen in der Regel wollte er ferner verhüten, dass sich seine Brüder den „Minores, den Ungebildeten, Analphabeten und Armen, entfremden und unfähig werden, als Arme unter den Armen zu leben. Deshalb seine Hermeneutik des Verdachts gegen die geltende Bildungs- und Wissenschaftspraxis seiner Zeit, die er sicher in seiner Jugend selbst erlebt hatte. Franziskus war jedoch kein Bücherstürmer! Ihm ging es um ein anderes und neues Bildungsverständnis, um eine neue Sinn- und Zielbestimmung für die Ausbildung seiner Brüder. Er verlangte von seinen Brüdern, dass sie die Lebensform der Menschen in Armut und Bildungsferne teilen, um dann an der Seite der Armen Gott zu finden und mit ihnen Kirche und Gesellschaft neu zu gestalten. Er wollte Arme und Analphabeten seiner Zeit jedoch an Bildung und Kultur teilhaben lassen, deshalb dichtete er nicht in Latein, der Sprache der Literaten, sondern in der Sprache der Illiteraten, des einfachen Volkes. „Il cantico del sol
, der Sonnengesang, gilt unter Romanisten als das älteste altitalienische Sprachdokument.
Franziskus ist also kein kleingeistiger und naiver Analphabet! Er kannte die Bibel, schuf mit dem Sonnengesang Weltliteratur, entwickelte für seine Brüder ein völlig neues Regelwerk, ermahnte in Briefen alle „Lenker der Völker und „Kleriker
und scherte sich nicht um die Meinung von Papst und Bischöfen, wenn er sich nur auf sein Gewissen, die Bibel und die Offenbarungen „seines allerhöchsten Herrn berufen konnte! Wissen, das ihm und den Brüdern half, die Bibel besser zu verstehen, war ihm heilig. Für Helmut Feld wurde der Orden der Franziskaner bereits hundert Jahre nach Franziskus zur „Domäne der exegetischen Wissenschaft
.¹ Nicht erst Martin Luther hat aus der Unmittelbarkeit seiner Gotteserfahrung gelebt und sich auf sein Gewissen berufen. Dass wir es bei Franziskus mit einem höchst gebildeten Menschen zu tun haben, der sicher mehrere Sprachen beherrschte, messerscharf denken und urteilen konnte und über ein Höchstmaß an Empathie und Einfühlungsvermögen verfügte, zeigt sich in seinem Umgang mit den Gelehrten und Mächtigen seiner Zeit, aber noch mehr in seinen Verhaltenskonzepten, die wir aus den Berichten und Erzählungen zu seinem Leben, Denken und Handeln erschließen können. Weshalb kommt es dann zu diesen heute unverständlichen Attacken gegen Bücher, Studium, Wissenschaft und Bildung?
Was steht hinter seiner
„Hermeneutik des Verdachts"?
Eins ist ganz sicher: Franziskus grenzt sich klar und unmissverständlich von dem ab, was die Menschen seiner Zeit als, Wissen suchten und wofür sie in Kirche und Welt dieses „Wissen
einsetzten. Damit opponiert er gegen die damalige Wissenschaftspraxis und tut alles, um seine Brüder von diesen Strukturen fernzuhalten. Diese Abgrenzung ist wissenssoziologisch für das Verständnis seines Denkens und Handelns von größter Bedeutung. Er steigt aus den Formen aus, wie Menschen damals zu Wissen und Erkenntnis und damit auch zu Macht und Geltung kommen konnten. Jahrhunderte später stellt Michel Foucault fest, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, dass die Macht dieser oder jener Entdeckung, dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor, sie sammelt und verwertet Informationen."² Franziskus hat in seiner Zeit und auf seine Weise auch Macht ausgeübt. Was sind nun die „Wissensgegenstände, die für ihn verbindlich sind und auf die er in seinen Briefen an die „Lenker der Völker
, die „Gläubigen und die „Kustoden
Bezug nimmt?
Hat Franziskus Jahrhunderte vor Lyotard und Foucault bereits diesen verhängnisvollen Interessenmix von Wissen und Macht erkannt und durchschaut und bereits für seine Zeit nach Alternativen gesucht? Wenn ja – und vieles spricht dafür –, dann ist zu klären, wann und wo er diese Alternativen anspricht und wie er sie begründet. Damit stellt sich definitiv die Frage, wie Franziskus sich selbst in den damaligen Wissens- und Gesellschaftsstrukturen verstand und wie er sich mit seiner Bruderschaft in diesen Strukturen neu positionieren wollte. Es geht um alternative Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, um die Schaffung einer neuen Ordnung und eines neuen Zugangs, um sich selbst, die Menschen, die Welt und die Kirche zu verstehen. Mit der Abgrenzung von den scheinbar objektiv gültigen und das Leben der Menschen bestimmenden Weltsichten, Menschenbildern und Ordnungen macht sich Franziskus an die Arbeit, die Wirklichkeit neu zu denken und zu konstruieren. Wenn sich ein Mensch oder eine Gruppe in dieser Weise abgrenzt, wenn er aussteigt und sich gegenüber den geltenden kulturellen Standards seiner Zeit