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VON ZEIT ZU ZEIT
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eBook229 Seiten3 Stunden

VON ZEIT ZU ZEIT

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Über dieses E-Book

"Die Vergangenheit ist vergangen, aber nicht vergessen. Wie ein Blitz fuhr mir ein Gedanke in den Kopf, brannte sich unauslöschlich in mein Hirn: Es ist völlig bedeutungslos, was geschehen ist und ganz egal, was noch passieren wird – das Einzige, was zählt, ist – hier, jetzt und für alle Zeit."

Was zunächst wie ein surrealer Albtraum erschien, erweist sich für Daniel Damberg bei einer Reise an den Bodensee als verstörende Realität: Die Zeit hat sich extrem verlangsamt.
Auf einem Kurzurlaub bei Überlingen strandet er mit seiner Freundin Iris in einem Zeitverzögerungsfeld, das die beiden wie eine Brandungswelle verschlingt. Die verstörenden Erfahrungen stellen Daniel und Iris in einen einzigartigen Überlebenskampf – wie macht man zeitverlangsamtes Wasser wieder flüssig, wie steinharte Lebensmittel genießbar? Wie kommuniziert man mit der Außenwelt? Zugleich hängt über dem in der Zeit gestrandeten Paar ein in die Zeitanomalie geratenes Flugzeug fest. Das Unglück scheint nicht aufzuhalten zu sein. Werden die beiden die Katastrophe überleben und je wieder in ihre eigene Normalzeit zurückfinden?
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum30. Mai 2021
ISBN9783957658531
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    Buchvorschau

    VON ZEIT ZU ZEIT - Hans Jürgen Kugler

    1

    1 – Albtraum

    Der Wahnsinn begann am Morgen des 6. Juli 2022. Ich wachte früh auf, weil ich jämmerlich fror. In meiner Bude war es eiskalt, und das mitten im Sommer. Ich versuchte die Bettdecke enger um mich zu ziehen, aber das erwies sich als unmöglich. Schlaftrunken schüttelte ich den Kopf. Meine kuschelige Bettdecke lag vollkommen starr und unbeweglich auf mir. Nur eine dünne Schicht, die unmittelbar mit meinem Körper Kontakt hatte, schmiegte sich noch ein wenig an meine Haut. Der Rest war steif wie ein Pappkarton. Und wie mir der Rücken wehtat! Auch die Matratze schien über Nacht hart wie Stein geworden zu sein.

    Leicht benommen machte ich Anstalten aufzustehen. Ich wollte die Decke zur Seite werfen und erlebte gleich die nächste Überraschung: Das dämliche Ding bewegte sich keinen Millimeter und klemmte mich regelrecht unter sich ein. Ich atmete tief durch, um meine aufkommende Panik unter Kontrolle zu bekommen. Ein Albtraum?

    Ich versuchte es erneut, und diesmal gelang es mir, das störrische Ding Zentimeter um Zentimeter hochzustemmen, bis ich einen schmalen Spalt zwischen mir und der Decke geschaffen hatte, aus dem ich mich herauszwängen konnte. Ich landete hart auf dem Boden und atmete erleichtert aus. Mein Atem schien auf der Stelle schockgefroren zu sein und schwebte wie eine Wolke bewegungslos vor mir. Ich blickte auf mein unheimliches Nachtlager zurück, über dem die Decke schwebte wie an Bindfäden aufgehängt. Jetzt war ich endgültig wach – und zugleich sicher, dass das nur ein Traum sein konnte.

    Ich kämpfte mich auf die Beine und ging vor Verwirrung und Kälte schlotternd ins Bad. Der Wasserhahn am Waschbecken klemmte. Mit viel Kraft und Ausdauer bekam ich ihn schließlich auf, hatte aber noch lange kein Wasser. Eingefroren?

    Verwirrt blickte ich zum Fenster. Draußen schien hell und klar die Sommersonne, hier drinnen jedoch war es geradezu frostig. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun.

    Ich wollte den Wasserhahn gerade wieder zudrehen, da sah ich im Licht der Morgensonne am unteren Ende des Hahnes etwas hervorglitzern. Neugierig beugte ich mich hinab und konnte beobachten, wie ganz allmählich ein Tropfen aus der Öffnung hervorquoll. Er wurde größer, löste sich vom Hahn und … schwebte in aller Seelenruhe majestätisch in der Luft, bevor er langsam nach unten sank.

    Beim nächsten Tropfen das gleiche Spiel. Fast unmerklich bildete sich ein dünner Strahl, der zu einer kräftigen Säule aus Wasser wurde, die in der Luft zu stehen schien und gemächlich dem Waschbecken entgegenwuchs. Dieses Schauspiel wurde von einem grummelnden Geräusch begleitet. Die Vibrationen des tieffrequenten Bebens, das direkt aus der Erde zu kommen schien, konnte ich deutlich in der Bauchdecke spüren. Ich zwickte mich noch einmal kräftig in den Oberarm – kein Zweifel, ich konnte neuerdings in Zeitlupe gucken …

    Vorsichtig berührte ich mit den Fingerspitzen dieses »stehende Gewässer«. Seine Konsistenz erinnerte mich an Kunststoff. Ich drehte den Wasserhahn wieder zu und wartete gespannt, was nun passieren würde. Nichts. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann zeigte sich ein feiner Spalt zwischen Hahn und Wasser. Ganz langsam wurde er größer, und die Wassersäule begann, in sich zusammenzusacken. Es schien ewig zu dauern, bis sich das verbliebene Wasser zu größeren Tropfenansammlungen teilte, die einige Zeit noch in der Luft standen, ehe sie allmählich nach unten schwebten. Endlich auf dem Porzellan des Waschbeckens angekommen, zerplatzten sie zeitlupenartig in sternfunkelnde, kronenartige Ringe, die kleine glitzernde Perlen auf ihren Spitzen trugen und wie fremdartige Pflanzen aus dem Waschbecken emporwuchsen, bis sie in sich zusammensackten und wie überdimensionale Amöben langsam Richtung Abfluss krochen.

    Wahnsinn! Ich war von dem ungewöhnlichen Schauspiel so gebannt, dass ich fast die arktische Kälte vergessen hätte. Was auch immer hier drin los war, vielleicht war die Welt draußen ja noch normal? Oder wenigstens wärmer? Immerhin schien die Sonne, also nichts wie raus.

    An der Tür die nächste Überraschung: egal, wie kräftig ich daran zerrte – nichts. Als ob sie sich über Nacht in eine tonnenschwere Tresortür verwandelt hätte. Verzweifelt rannte ich zur Balkontür. Zum Glück war Hochsommer und da hatte ich sie gewohnheitsmäßig offen stehen lassen. Ich schwang mich über die Brüstung und landete unsanft auf der Kiesfläche im Garten.

    Hier draußen wurde es schlagartig wärmer. Die Sonne strahlte, wie es sich für einen ordentlichen Sommertag gehörte, hell und heiß auf mein Gesicht. Die kalte Luft schien also lediglich auf die Innenräume beschränkt zu sein. Heilfroh, der arktischen Kälte meiner Wohnung entkommen zu sein, sah ich mich um.

    Die Landschaft war in einen satten rotgoldenen Ton getaucht. Ich blickte auf die Straße. Alles war ruhig. Die Szenerie, die sich mir bot, hatte was von einem Standbild. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg standen ein paar Leute wie Schaufensterpuppen herum, die auf ewig mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schienen. Ein Pärchen ging, oder vielmehr stand, Hand in Hand auf dem Bürgersteig. Der Mann hatte seinen linken Fuß etwas in die Luft gestreckt, wie um einen Schritt nach vorn zu tun. Sie blickten einander an. Die Frau hielt ihren Mund leicht geöffnet, weil sie wohl gerade etwas sagen wollte. Ein tiefer, gedehnter Brummton war zu hören, der aus ihrem Mund zu kommen schien.

    Ein eiskalter Schauer kroch mir langsam das Rückgrat hoch. Von nacktem Grauen erfüllt sah ich mich Hilfe suchend um. Mitten auf der Straße stand ein blauer Toyota. Ich wunderte mich, warum dieser Idiot hier mitten auf der Fahrbahn parkte, da bemerkte ich, dass sich dieses Auto doch bewegte. Nur ganz wenig, aber dennoch deutlich zu erkennen. Es fuhr buchstäblich im Schneckentempo.

    Dieser Anblick nahm mich so gefangen, dass ich mir um ein Haar eine Fliege ins Auge gerammt hätte, die direkt vor meiner Nase in aller Seelenruhe stoisch ihre Bahn zog. Und zwar ebenfalls im Zeitlupentempo, ich konnte deutlich das langsame Auf und Ab der gläsernen Flügel erkennen. Schnell trat ich einen Schritt zurück und der Brummer schwebte wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen gemächlich an mir vorüber.

    Allmählich dämmerte es mir: Ich hatte in meinem Leben genügend Science-Fiction-Romane gelesen, um zu wissen, was los war: gar kein Zweifel – Zeitdehnung! Die Welt um mich herum hatte sich aus irgendeinem Grund verlangsamt. Oder ich mich in ihr beschleunigt. Was auf dasselbe hinauslief.

    Davon zu lesen war eine Sache, es am eigenen Leib zu erfahren eine ganz andere. Heiße Panik stieg in mir auf und mit einem Mal fühlte ich mich verdammt einsam. Was, wenn dieser Zustand anhielt – bis in alle Ewigkeit gar? Die in diesem Fall ziemlich lang werden könnte.

    Ich betrachtete noch einmal die Fliege. In den letzten zwei, drei Sekunden war sie vielleicht gerade mal ein paar Fingerbreit vorangekommen. Wie schnell flog so eine Stubenfliege für gewöhnlich? Und wie hoch lag eigentlich die Schlagfrequenz ihrer Flügel?

    Ich hatte keine Ahnung. Hoch vermutlich. Hätte ich im Biologieunterricht bloß besser aufgepasst, dann hätte ich daran abschätzen können, in welchem Maß sich die Welt um mich verlangsamt hatte.

    Ich überquerte die Straße, um mir das in ewiger Innigkeit verbundene Pärchen genauer anzusehen. Der linke Fuß des Mannes hatte mittlerweile Bodenkontakt, während der rechte nur noch mit der Zehenspitze den Boden berührte. Die Frau hatte den Mund wieder geschlossen, der tiefe Brummton aus ihrer Kehle war zu einem hauchenden Laut verebbt.

    Kein Zweifel, das waren keine Schaufensterpuppen. Beide zeigten eindeutig Leben, wenn auch um ein Vielfaches verlangsamt. Solange ich einigermaßen in Bewegung blieb, musste ich für die beiden ja unsichtbar sein. Vielleicht spürten sie kurz einen Windhauch, wenn ich um sie herumhuschte. Vielleicht auch nicht. Würde ich lange genug auf einer Stelle stehen bleiben, könnten sie eventuell schattenhaft meine Kontur erahnen. Wie ein Gespenst, das schneller wieder aus dem Gesichtsfeld verschwindet, als es aufgetaucht war.

    Ich entschloss mich zu einem kleinen Spaziergang in den nahe gelegenen Park. Auf dem Weg dorthin musste ich hin und wieder einigen Insekten ausweichen, die wie festgeleimt mitten in der Luft schwebten. Hauptsächlich Fliegen und kleinere Mücken. Einmal konnte ich von allen Seiten sehr schön eine Wespe begutachten, die eine fette grüne Raupe mit ihren Beinen gekrallt hatte und wohl auf dem Weg zu ihrem Stock war.

    Diese extrem verlangsamte Welt hatte ihre eigenen, nicht ganz ungefährlichen Tücken. Ich war mit der Hand nur ganz kurz an ein Grasbüschel gekommen, schon hatte ich mir an den rasiermesserscharfen Halmen einen tiefen Schnitt geholt, aus dem das Blut hervorquoll. Weit kamen die paar Tropfen indes nicht; kaum dass sie die Haut meines Körpers verlassen hatten, schwebten sie als rote Kügelchen regungslos in der Luft. Also Vorsicht!

    Das Gras, auf dem ich stand, war hart und starr wie Kristall. Aber ganz egal, wie fest ich auch darauf herumtrampelte, es brach nicht, kein Hälmchen splitterte. Erst wenn ich einige Zeit auf einer Stelle stehen blieb, konnte ich spüren, vielmehr erahnen, wie sich die Grashalme allmählich dem Gewicht beugten. Zum Glück war die Wiese erst frisch gemäht worden.

    Gegenüber entdeckte ich einen jungen Mann mit seinem Hund, beide wie ein Standbild in die Landschaft hineingemeißelt. Der Mann hielt den rechten Arm in gestreckter Haltung, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Ein paar Meter vor ihm hing ein kleiner Ast in der Luft, den er gerade geworfen hatte. Sein Hund, eine gewöhnliche Promenadenmischung, war eben vom Boden abgesprungen und schwebte nun wie gebannt in der Luft, das Maul aufgerissen, um das Stöckchen zu packen.

    Ich weiß nicht warum, aber irgendwie kam ich auf die Idee, das Stöckchen zu nehmen und es dem Hund genau in dem Moment auf den Kopf fallen zu lassen, wenn er danach schnappen wollte. Ich nahm den kleinen Ast … aber der blieb wie festgemauert in der Luft hängen und war einfach nicht von der Stelle zu bewegen. Ich zog mit aller Kraft an diesem lächerlichen kleinen Ast, aber das verdammte Ding rührte sich keinen Millimeter. Erstaunlich! Das Ästchen verhielt nicht nur einfach stur in der Luft, sondern beschrieb in aller Ruhe seine einmal eingenommene Parabelbahn. Ich konnte beobachten, wie sich der Kopf des Hundes langsam seinem Stöckchen näherte, bis er es schließlich zu fassen bekam.

    Offensichtlich beharrten die Dinge störrisch auf ihrer eigenen Zeit. Die Dinge verschwinden ja nicht einfach aus der Welt, bloß weil ein unglaublich in der Zeit beschleunigtes unsichtbares Wesen wie ein Verrückter daran zerrt. Tatsächlich müsste ich meine Energie, mit der ich das Stöckchen ein Stückchen zur Seite schieben wollte, erst allmählich seinem eigenen Zeitablauf anpassen, bis der gewollte Effekt hätte eintreten können. Und das konnte dauern – wie lange, wusste ich nicht. Ebenso wenig, wie viel Energie ich aufbringen müsste, um unter diesen Umständen auch nur ein Staubkorn entgegen seiner Eigenzeit zu bewegen.

    Ich nahm jetzt besser den Gehweg. Solange man sich nicht bewegte, schien eigentlich alles ganz wie gewohnt zu sein. Die Luft war warm und absolut windstill. Ein ganz normaler Sommertag, könnte man denken. Bis auf die seltsamen Geräusche. Ein bedrohliches Dröhnen hing in der Luft, das an die tiefsten Pedaltöne einer Orgel erinnerte. Ganz in der Nähe hörte ich einen eigentümlich knarzenden Laut, als wenn ein Brett aus einem Holzboden gestemmt würde. Der Laut kam offensichtlich von dem Rotkehlchen auf dem Zweig vor mir. Das Vögelchen saß bewegungslos mit aufgesperrtem Schnabel und geplustertem Gefieder auf seinem Ast, als ob es ein Exponat im Naturkundemuseum wäre. Kein Zweifel, dieses tiefe Knarzen, das es von sich gab, musste die um ein Vielfaches verlangsamte Version seines zirpenden Balzrufes sein. Vorsichtig, um nicht an ein unerwartet im Weg schwebendes Objekt zu stoßen, drehte ich mich um und ließ meinen Blick erneut über diese eigenartige, erstarrte Welt schweifen.

    Wie aus dem Nichts packte mich nackte Angst. So faszinierend das alles auch sein mochte, so verstörend war es auch. Ich wollte nur noch weg und rannte einfach drauflos. Allzu weit kam ich nicht. Schon nach wenigen Hundert Metern musste ich anhalten und nach Luft schnappen. Diese dicke, zeitverlangsamte Luft eignete sich wohl nicht zum hektischen Einatmen. Allmählich beruhigte ich mich. Meine kopflose Flucht hatte mich mitten in den Park geführt.

    Der See darin lag still und klar direkt vor mir und glänzte in der Sonne. Die gekräuselte Oberfläche war ein sicheres Zeichen dafür, dass sehr wohl eine Brise wehen musste, wovon wegen der Zeitverlangsamung natürlich nichts zu merken war. Zögerlich trat ich vor und berührte mit der Schuhspitze vorsichtig die Wasseroberfläche. Dann setzte ich den ganzen Fuß auf. Wie ich es mir gedacht habe – das Wasser hatte gar keine Zeit, unter mir nachzugeben. Ich stand sicher und fest auf dem glitzernden Untergrund. Großartig!

    Auch wenn mir nicht so ganz wohl bei der Sache war, machte ich einen weiteren Schritt vorwärts. Ohne das Wellenmuster auf dem See hätte man denken können, auf einer Eisfläche spazieren zu gehen. Nach einer Weile ging ich in die Knie und befühlte vorsichtig eine der Wellen.

    Dabei fielen mir zuerst die enormen Temperaturunterschiede auf. Die sonnendurchflutete obere Wölbung fühlte sich warm an, ganz im Gegensatz zu den verschatteten Bereichen in den Wellentälern, die so eisig waren, dass ich mir fast daran die Finger verbrannt hätte.

    Ich richtete mich wieder auf und spazierte mit großen Schritten weiter. In der Mitte des Sees blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte mich um. Ich fühlte mich großartig. Mir wurde klar, dass ich in meinem beschleunigten Zustand anstellen konnte, was ich nur wollte, die Menschen würden noch nicht einmal bemerken, dass ich da wäre. Losgelöst von den Fängen der Zeit wäre alles möglich. Die ganze Welt lag mir zu Füßen!

    Doch da war noch diese Sache mit der Eigenträgheit der Dinge. Ich wollte mich gerade in Richtung Ufer aufmachen, aber ich konnte meinen Fuß nicht mehr bewegen. Ich steckte fest! Ich zog und zerrte an meinem Fuß – zwecklos.

    Festgefroren in der Zeit. Ich hatte zu lange auf derselben Stelle verharrt und nicht gemerkt, wie ich Millimeter für Millimeter allmählich in die Wasseroberfläche eingesunken bin. Alles eine Frage der Zeit. Ich wollte allerdings nicht herausfinden, wie lange es wohl dauern würde, bis mich der See vollständig verschlungen hatte. Und das genüsslich in Zeitlupe.

    Jetzt ganz ruhig! Noch war ich nicht tiefer als vielleicht ein, zwei Millimeter eingesunken. Was allerdings tief genug war, um mich ein für alle Mal hier mitten auf dem See festzuhalten. Erneut zerrte ich mit aller Kraft an meinem Bein, aber keine Chance. Mit Gewalt war da nichts zu machen. Es gab nur eine Lösung: Ich musste versuchen, meine Schuhe auszuziehen und schauen, dass ich von hier wegkam. Und zwar schnell.

    Ich vollführte also eine formvollendete Rumpfbeuge und machte mich an meinen Schnürsenkeln zu schaffen. In der Hektik verhedderte ich mich noch und zog den Knoten fester. Ich atmete einmal tief durch und zwang mich zur Ruhe. Endlich hatte ich es geschafft. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen und machte mich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Socken, und zwar so schnell wie möglich zurück ans Ufer.

    Dabei achtete ich sorgsam auf jeden meiner Schritte. Der schmale Sandstreifen am Uferrand bedeutete keine Gefahr, ich hütete mich aber davor, einem der kristallharten Grasbüschel zu nahe zu kommen. Nach ein paar Metern drehte ich mich noch einmal um und schaute nach meinen Schuhen. Für einen Außenstehenden musste es ein seltsamer Anblick sein, wenn sich plötzlich ein Paar alte Nikes wie aus dem Nichts auf dem See materialisieren und gemächlich vor sich hin dümpelten.

    Allmählich verspürte ich ein zunehmend trockenes Gefühl im Mund. Kein Wunder, ich war nun schon einige Zeit in der brennenden Sonne unterwegs – wie lange eigentlich? Bestimmt schon ein paar Stunden, zumindest gefühlt. Aber in »Wirklichkeit« – also in der anderen, der Weltzeit? Vielleicht nur ein paar Sekunden. Zu dumm, dass ich zu Hause nicht auf die Uhr geschaut hatte.

    Die Sonne brannte unbarmherzig. Mir wurde schlagartig klar,

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