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Die Stimmen des Abends
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eBook133 Seiten1 Stunde

Die Stimmen des Abends

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Über dieses E-Book

'Es ist der schönste Roman, den Natalia Ginzburg geschrieben hat. Dieses Gespür für Familiengeschichten und ihre Verflechtung, das ist etwas, das nur noch sie besitzt.' sagte Italo Calvino über dieses Buch.

Eines von 12 bisher vergriffenen Meisterwerken aus der ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher.
SpracheDeutsch
HerausgeberEder & Bach
Erscheinungsdatum15. Okt. 2015
ISBN9783945386309
Die Stimmen des Abends

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    Buchvorschau

    Die Stimmen des Abends - Natalia Ginzburg

    EBook_Ginzburg.jpg

    Natalia Ginzburg

    Die Stimmen des Abends

    Aus dem Italienischen

    von Alice Vollenweider

    In dieser Erzählung sind die Orte und Personen erfunden. Die einen finden sich auf keiner Landkarte, die anderen leben nicht, noch haben sie je gelebt, auf keinem Fleck der Erde. Und es tut mir leid, dies zu sagen, denn ich habe sie geliebt, als wären sie wirklich.

    Titel der Originalausgabe: »Le voci della sera«

    Copyright © Giulio Einaudi Editore S.p.A., Torino 1961

    Copyright © für die deutsche Übersetzung: 1996 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

    Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

    Umschlaggestaltung: hilden_design, München

    Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

    ISBN: 978-3-945386-30-9

    Ich hatte meine Mutter zum Arzt begleitet, und wir kehrten auf dem Fußweg zurück, der an General Sartorios Wäldchen und dann an der hohen bemoosten Mauer der Villa Bottiglia vorbeiführt.

    Es war Oktober, es begann schon kühler zu werden; im Dorf hinter uns wurden die ersten Lampen angezündet, und die blaue Leuchtkugel des Hotels Concordia warf ihr gläsernes Licht auf den verlassenen Dorfplatz.

    Meine Mutter sagte: »Ich habe einen Knoten im Hals. Wenn ich schlucke, tut es mir weh.«

    Sie sagte: »Guten Abend, Herr General.«

    General Sartorio war an uns vorbeigegangen, den Hut auf dem silbernen Lockenschopf, das Monokel im Auge und den Hund an der Leine.

    Meine Mutter sagte: »Was für ein schöner Haarwuchs in diesem Alter!«

    Sie sagte: »Hast du gesehen, wie hässlich sein Hund geworden ist? – Jetzt habe ich einen Geschmack wie von Essig in der Kehle. Es ist dieser Knoten, der immer noch wehtut.«

    »Wieso hat er mir hohen Blutdruck gemessen? Ich hatte immer niederen.«

    Sie sagte: »Guten Abend, Gigi.«

    General Sartorios Sohn war vorbeigegangen im weißen Dufflecoat. In einer Hand trug er eine Salatschüssel, die mit einer Serviette bedeckt war, sein anderer Arm war in einem Gipsverband nach außen gewinkelt.

    »Er hat einen wirklich schlimmen Sturz getan. Wer weiß, ob er seinen Arm je wieder richtig bewegen kann«, sagte meine Mutter.

    Sie sagte: »Wer weiß, was in dieser Salatschüssel war?«

    »Irgendwo wird ein Fest sein«, sagte sie dann.

    »Bei Terenzis wahrscheinlich. Und wer hingeht, muss etwas mitbringen. Viele machen es heute so.«

    Sie sagte: »Aber dich laden sie nie ein.«

    »Sie laden dich nicht ein«, sagte sie, »weil sie finden, du bist blasiert. Nicht einmal in den Tennisklub bist du mehr gegangen. Wenn einer nicht unter die Leute geht, sagen sie, er sei blasiert, und kümmern sich nicht mehr um ihn. Die Bottigliakinder dagegen, die werden überallhin eingeladen. Letzthin haben sie bei Terenzis bis drei Uhr früh getanzt. Es waren Leute von auswärts dabei, sogar ein Chinese.«

    Bei uns zu Hause spricht man immer noch von den Bottigliakindern, obwohl die Jüngere nun neunundzwanzig Jahre alt ist.

    Sie sagte: »Ich werde doch wohl nicht Arteriosklerose haben?«

    Sie sagte: »Kann man sich denn auf diesen neuen Arzt verlassen? Der alte war alt, das wusste man; er interessierte sich für nichts mehr. Wenn man ihm von irgendwelchen Beschwerden sprach, sagte er sogleich, er habe sie auch. Er schreibt alles auf; hast du gesehen, wie er alles aufschreibt? Hast du gesehen, wie hässlich seine Frau ist?«

    Sie sagte: »Aber kannst du nicht auch einmal ein Wort sagen?«

    »Was für eine Frau?«, sagte ich.

    »Die Frau des Arztes.«

    »Die, die uns geöffnet hat«, sagte ich, »war nicht seine Frau. Das war die Krankenschwester. Die Tochter des Schneiders von Castello. Hast du sie nicht erkannt?«

    »Die Tochter des Schneiders von Castello? Wie hässlich sie ist.«

    »Aber warum trug sie denn keinen weißen Kittel?«, sagte sie. »Sie ist wohl Dienstmädchen und nicht Krankenschwester bei ihm …«

    »Sie trug keinen weißen Kittel«, sagte ich, »weil sie ihn schon ausgezogen hatte; sie wollte eben weggehen. Der Arzt hat weder Dienstmädchen noch Frau. Er ist Junggeselle und isst im Concordia.«

    »Er ist Junggeselle?«

    Sofort verheiratete meine Mutter mich in Gedanken mit dem Arzt.

    »Wer weiß, ob es ihm hier besser gefällt als in Cignano, wo er vorher war? Wahrscheinlich gefiel es ihm besser in Cignano. Dort gibt es mehr Leute und mehr Leben. Wir werden ihn einmal zum Mittagessen einladen müssen. Mit Gigi Sartorio.«

    »In Cignano«, sagte ich, »hat er seine Braut. Sie heiraten im Frühling.«

    »Wer?«

    »Der Arzt.«

    »So jung und schon verlobt?«

    Wir waren auf dem ganz mit Blättern bedeckten Weg unseres Gartens; man sah das erleuchtete Fenster der Küche und unser Dienstmädchen Antonia, das Eier zu Schaum schlug.

    Meine Mutter sagte: »Nun ist mir dieser Knoten in der Kehle ganz eingetrocknet und geht weder hinauf noch hinunter.«

    Seufzend setzte sie sich im Flur und schlug die Galoschen aneinander, um den Schmutz abzuschütteln, und mein Vater erschien auf der Schwelle des Arbeitszimmers mit der Pfeife und seiner Hausjacke aus Pyrenäenwolle.

    »Ich habe hohen Blutdruck«, sagte meine Mutter mit ein wenig Stolz.

    »Hoch?«, sagte Tante Ottavia oben an der Treppe und steckte ihre beiden schwarzen Zöpfchen fest, die so filzig waren wie diejenigen einer Puppe.

    »Hohen, nicht niedrigen.«

    Tante Ottavia hatte eine rote und eine blasse Wange, wie immer, wenn sie im Lehnstuhl nahe beim Ofen mit einem Buch der Bibliothek ›Selecta‹ eingeschlafen ist.

    »Von der Villa Bottiglia«, sagte Antonia an der Küchentüre, »haben sie herübergeschickt, weil sie Mehl brauchten für Ofenküchlein. Ich habe eine Schüssel voll gegeben.«

    »Schon wieder! Immer fehlt ihnen das Mehl. Wieso machen sie auch Ofenküchlein? Für den Abend ist das zu schwer verdaulich.«

    »So schwer verdaulich sind sie nicht«, sagte Tante Ottavia. »Sie sind schwer verdaulich.«

    Meine Mutter zog Hut, Mantel und das Katzenpelzfutter, das sie immer unter dem Mantel trägt, aus und legte den Schal weg; sie pflegt ihn mit einer Sicherheitsnadel auf der Brust zu befestigen.

    »Vielleicht«, sagte sie, »machen sie die Ofenküchlein für das Fest, das bei Terenzis sein muss. Wir haben auch Gigi Sartorio gesehen mit einer Salatschüssel. Wer kam das Mehl holen? Carola? Erzählte sie dir nichts von einem Fest?«

    »Nein, mir hat sie nichts erzählt«, sagte Antonia.

    Ich ging in mein Zimmer hinauf. Mein Zimmer ist im obersten Stock, wo man einen weiten Blick über das Land hat. In der Ferne sieht man die Lichter von Castello und oben auf dem Hügel die wenigen Lichter von Castel Piccolo. Jenseits der Hügel ist die Stadt.

    Mein Zimmer hat ein Alkovenbett mit Musselinvorhängen, einen niedrigen Lehnsessel aus mausgrauem Samt, eine Spiegelkommode und einen Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Weiter gibt es da einen braunen Majolikaofen, einen Korb mit Holzscheiten und ein drehbares Büchergestell, auf dem ein Gipswolf steht. Der Sohn unseres Pächters, der im Irrenhaus ist, hat ihn gemacht. An der Wand hängt eine Reproduktion der Madonna della Seggiola, eine Ansicht von San Marco und eine große Strumpftasche aus Spitzen und mit hellblauen Schleifchen, ein Geschenk von Frau Bottiglia.

    Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt.

    Ich habe eine Schwester, die ein bisschen älter und in Johannesburg verheiratet ist; und meine Mutter liest immer die Zeitung, um nachzusehen, ob etwas von Südafrika drinsteht. Sie macht sich Gedanken über alles, was dort unten vorgeht. Nachts wacht sie auf und sagt zu meinem Vater:

    »Aber dort, wo Teresita ist, da werden doch wohl die Mau-Mau nicht hinkommen?«

    Ich habe einen Bruder, der etwas jünger ist, und in Venezuela arbeitet. Im Garderobenschrank sind noch seine Fecht- und Tauchermasken und seine Boxhandschuhe, denn er war von klein auf sportlich; wenn einer den Schrank öffnet, fallen ihm die Boxhandschuhe auf den Kopf.

    Meine Mutter beklagt sich immer, dass ihre Kinder so weit weg sind; und häufig weint sie sich deswegen aus bei ihrer Freundin, Ninetta Bottiglia.

    Freilich sind das Tränen, die sie ganz gerne vergießt; denn es sind Tränen, die ihr schmeicheln, Tränen, in die sich der Stolz mischt, dass sie ihren Pollen an so weit entfernte und gefährliche Orte verstreut hat. Der größte Kummer meiner Mutter ist aber, dass ich noch nicht verheiratet bin. Dieser Kummer demütigt sie und lässt sie nur in der Tatsache Trost finden, dass auch die Bottigliakinder mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet sind.

    Lange Zeit hegte meine Mutter den Traum, dass ich General Sartorios Sohn heiraten würde, ein Traum, der sich in Luft auflöste, als man ihr sagte, Gigi Sartorio sei morphiumsüchtig und interessiere sich nicht für Frauen. Manchmal denkt sie jedoch wieder daran, erwacht nachts und sagt zu meinem Vater:

    »Wir müssen den Sohn des Generals zum Mittagessen einladen.«

    Dann sagt sie: »Glaubst du, er ist pervers?«

    Mein Vater sagt: »Wie soll ich das wissen?«

    »Man sagt das von vielen und vielleicht sagte man es auch von unserem Giampiero.«

    »Wahrscheinlich«, sagt mein Vater.

    »Wahrscheinlich? Wieso wahrscheinlich? Weißt du, dass jemand das gesagt hat?«

    »Wie soll ich das wissen?«

    »Wer konnte nur so etwas sagen von meinem Giampiero?«

    Wir wohnen seit vielen Jahren im Dorf. Mein Vater ist der Notar der Fabrik. Der Advokat Bottiglia ist der Verwalter der Fabrik. Das ganze Dorf lebt von der Fabrik. Die Fabrik stellt Stoffe her.

    Ihr Geruch erfüllt die Straßen des Dorfes, und bei Schirokko dringt er fast bis zu unserem Haus, das in der offenen Landschaft steht. Es ist ein Geruch, der manchmal an angefaulte Trauben, manchmal an geronnene Milch erinnert. Es gibt kein Mittel dagegen, sagt mein Vater, da er von den Säuren kommt, die sie in der Fabrik verwenden.

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