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Das Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962
Das Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962
Das Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962
eBook699 Seiten10 Stunden

Das Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962

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Über dieses E-Book

Seit 700 Jahren steht mitten auf dem Stadtplatz im niederbayerischen Straubing ein mittelalterlicher Wachturm. Seine markanten fünf Spitzen sind längst zum Wahrzeichen der Stadt geworden. Für Helga Seitz war der Turm lange Zeit mehr als nur eine Sehenswürdigkeit. Schließlich fand die 1940 in Nürnberg geborene Tochter einer Pfälzerin und eines Niederbayern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als »Ausgebombte« Unterschlupf in einer Mansardenwohnung im Straubinger Stadtturm. In »Das Stadtturmmäderl« erzählt die Autorin liebevoll und authentisch das oft nicht leichte Nachkriegsleben im Straubinger Stadtturm, gleichzeitig lässt sie an der Lebendigkeit und dem Glück einer Kindheit und Jugend trotz materieller Nöte und Existenzängste teilhaben.
SpracheDeutsch
HerausgeberAllitera Verlag
Erscheinungsdatum20. Apr. 2016
ISBN9783869068701
Das Stadtturmmäderl: Erinnerungen an ein Leben im Straubinger Stadtturm 1945-1962

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    Buchvorschau

    Das Stadtturmmäderl - Helga Seitz

    Helga Seitz, geborene Ziegler, wurde 1940 in Nürnberg geboren. Die Mutter war Pfälzerin, der Vater Niederbayer. Die Eltern siedelten aus beruflichen Gründen nach Straßburg im Elsaß über, nach der Bombardierung der Stadt durch die Amerikaner kehrten sie als »Ausgebombte « nach Deutschland zurück zur Großmutter in Niederbayern. Nach Beendigung des Krieges zog die Familie nach Straubing, in den Ostanbau des Straubinger Stadtturms, in dem die Familie vom Herbst 1945 bis August 1962 wohnte. Mit 19 Jahren begann sie nach dem Abitur das Studium in textilem Gestalten und Ernährungslehre an der Pädagogischen Hochschule München, nach dem Ersten Staatsexamen ein weiteres Studium an der Sportakademie München-Grünwald zur Ausbildung als Sportlehrerin. Nach dem Zweiten Staatsexamen war sie bis zu ihrer Pensionierung im gymnasialen Bereich als Fachlehrerin tätig.

    pg3

    Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

    Zur Erinnerung an meinen Bruder Karl-Heinz

    und für meine Nichte Eva

    April 2016

    Allitera Verlag

    Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

    © 2016 Buch&media GmbH, München

    Herstellung und Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg,

    unter Verwendung einer Ansichtskarte von Straubing aus dem Jahr

    1960 (Stadtarchiv Straubing, Postkartensammlung)

    Printed in Europe. ISBN 978-3-86906-869-5

    Warum ich dieses Buch geschrieben habe

    Von Herbst 1945 bis August 1962 war der Straubinger Stadtturm, genauer gesagt die Mansardenwohnung über der ehemaligen Trinkstube der Ratsherren, für unsere Familie das Zuhause.

    Seit unserem Auszug hat sich viel verändert im und am Stadtturm. Das Goldschmiedegeschäft und der Bürsten- und Besenladen im Durchgang sind verschwunden, die Türen zugemauert. Auch die Mansardenfenster gibt es nicht mehr.

    Vor Jahren bin ich bei einem Besuch in Straubing zu unserer alten Wohnung hinaufgestiegen. Die Türe war zu meiner Freude nur angelehnt. Auf die Dunkelheit wegen der fehlenden Fenster war ich nicht vorbereitet. Mit klopfendem Herzen bin ich in unsere ehemalige Küche gegangen, dem einzigen hellen Raum. Auch hier eine Veränderung. Die Wand zum Elternschlafzimmer fehlte.

    Ich hatte keinen Mut mehr, weiter zu gehen. Es war alles so ohne Licht und Leben. Tot. Nur eins hat mich getröstet: Über den Küchenfenstern hingen noch unsere alten Gardinenstangen.

    Ich verspürte plötzlich den Wunsch, über das Leben während der Nachkriegszeit zu schreiben. Festzuhalten, wie der Stadtturm mit seinen Anbauten Flüchtlingen und Ausgebombten ein Dach über dem Kopf bot, Lebensmittelpunkt war und für uns Kinder der Ausgangspunkt zur Eroberung der Innenstadt, zum Kennenlernen der Stadt Straubing.

    Helga Seitz, geb. Ziegler

    März 2016

    Zum ersten Mal im Turm

    Jedes Mal, wenn mich Mama am Arm ein bißl lupft, schaff ich eine neue Stufe. Die breiten und niedrigen unten aus Stein hab ich ganz allein raufsteigen können, aber jetzt, bei den hohen Holzstufen muß mir Mama helfen.

    Es ist eng und dunkel, es riecht komisch und ich kann fast nichts sehen, weil kein Fenster da ist und nur ganz oben ist »e Funzl, die ke bißl hell macht«, wie Mama sagt.

    »Ich hab Angst. Ich will da net nauf.«

    »Stell dich doch net so oo!« Mama zieht an meinem Arm, sie gibt nicht nach. »Mach jetz, deu Bruda isch schun längscht owe.«

    Sie zieht mich an einer dunklen, spitzbogigen Tür vorbei, noch einen Treppenabsatz rauf, noch enger als der vorher. Sie schiebt mich durch eine enge Tür. Endlich ist es wieder hell. Wir sind in unserer neuen Wohnung.

    Papa ist jeden Tag mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren und Mama und Tante Berta haben jedes Mal gefragt: »Und, hosch was gekriegt, hosch was gfunde?«

    Einmal ist er mit bester Laune heimgekommen und Mama war glücklich, weil er wieder bei der Polizei arbeiten kann und wir eine Dienstwohnung kriegen und im September ist es soweit.

    »Sie is net schön«, sagt er, »bloß eine Mansarde. Niedrige Decken, drei kleine Zimmer, eine kleine Küche mit winzigen Fenstern, aber ein riesiger Speicher und mitten auf dem Stadtplatz.«

    »Nimm se, egal wie se isch.« Mama will unbedingt weg von da, wo wir jetzt wohnen, und Tante Berta auch.

    »Alles isch besser als do zu bleiwe. Deu Mutta macht einem des Leewe mit jedem Dag schwerer.« Tante Berta nickt. »Ich will au net für de Rescht von mim Läwe ufm Land bliewe.«

    Papa geht auf ein Amt für eine Zuzugsgenehmigung für Straubing. »Ohne die braucht man sich dort gar nicht sehen zu lassen, da muss man gleich da bleiben, wo man grad ist.«

    Er kümmert sich um ein Umzugsauto, fragt den Mann, der jeden Tag die große Milchkanne bei der Oma abholt mit einem großen Auto, das sehr laut rattert und zu dem man Holzvergaser sagt. Es hat einen großen Kessel, in dem ein Feuer brennt, hinter dem kleinen Haus, wo der Fahrer drin sitzt. Manchmal steigt der Mann auf seinen Lastwagen und schaufelt kleine Holzwürfel in den Kessel.

    »Warum machst du das, Herr Knott?«

    Mama will, dass wir immer Herr und Frau sagen, wenn wir mit jemand reden, den wir nicht so gut kennen wie Oma und Opa oder die Schwester von Papa, die Tante Resl heißt. Sonst glauben die, wir haben keine Erziehung.

    »Wart, da, schau nei.« Er macht das Türl oben im Kessel auf, hebt mich hoch. Ich krieg fast keine Luft mehr, weil es so qualmt und stinkt. Der Herr Knott lacht. »Gell, da muaßt huastn. Mir macht des bißl Rauch nix mehr aus. Des Holz verschwelt jetzt zu Gas und mit dem Gas könna ma wida weiterfahrn.« Er läßt mich wieder runter auf den Boden. Tante Berta packt mich am Arm, zieht mich weg. »Sei net so wunderfitzig, hör emol uff mit dinnere Frogerei.« Das klingt gefährlich.

    Ich troll mich lieber, obwohl ich gern noch fragen tät, was verschwelen heißt. Es hat keinen Sinn, weiter Fragen zu stellen, wenn sie einem sagen, man steht dauernd im Weg und fragt zu viel, und man sicher gleich einen Schubser kriegt.

    Der Herr Knott hat noch nicht genug Gas im Kessel. »Das dauert noch«, sagt er, »da kemma uns no a bißl unterhoitn.« Er holt eine Zigarette hinterm Ohr hervor und dreht ein Röllchen aus Zeitungspapier, das am Kessel gleich zu brennen anfängt, und zündet sie damit an. »Des spart Streichhölzer, de ma heitzudags sowieso nimma kriagt.«

    Er lehnt sich an seinen Lastwagen, saugt an der Zigarette. »Ah, des duad guat.«

    Rauch kommt ihm aus Mund und Nase, was lustig ausschaut. Ich schaue, ob vielleicht die Möglichkeit besteht, einen Platz zu finden, wo ich hören kann, was geredet wird, und Tante Berta mich nicht sieht.

    »Am Vormittag hol i de Mili vo de Bauern, de abgliefert wern muaß, und brings in d'Molkerei auf Straubing nei, am Nachmittag fahr i andere Sachn, Möbl, Hoiz, manchmal aa Koin und so Zeig. Vo de Amis hab i de Lizenz kriagt. Des war gar ned so leicht.«

    Er hält jetzt seine Zigarette ganz vorsichtig mit seinem Daumen und Zeigefinger und macht ganz spitze Lippen, wenn er dran saugt, weil sie schon so kurz ist. Ich glaub, er verbrennt sich gleich was, die Finger oder den Mund, so wie der Herr Schwegler, der nur noch ein Bein hat wegen dem Krieg und der Oma im Stall hilft und der auf dem einen Bein herumgesprungen ist und seine Hand geschüttelt und geblasen hat, damit das Brennen wieder aufhört.

    Tante Berta brummelt und nickt. »Sie hawe Recht, in dene Zite isch alles schwierig. Und ma muß luie, wie ma zu was kommt. Für en jede Furz brücht ma e Erlaubnis odr en Schin.« Sie sagt wirklich Furz, obwohl das ein unanständiges Wort ist, für das man eine auf den Mund kriegt von den Erwachsenen.

    Der Herr Knott drückt seine Zigarette am Lastwagen aus, wickelt den Stummel in ein Stückl Stanniolpapierl, steckt ihn in die Jackentasche. Mir wird langweilig. Und ich versteh auch nicht alles, was geredet wird, weil der Herr Knott ganz anders redet als Mama und Tante Berta. Tante Berta sagt auch immer, sie versteht nur die »Hälft vun dem, was die Bayere redde«.

    Ich suche Mama. Sie ist im Haus, Sachen packen.

    »Mama, was ist die Lizenz?«

    »Eine Erlaubnis.«

    »Und warum kriegt man die von den Amis?«

    »Weil man heutzutags für alles die Amis fragen muß, um was zu kriegen. Die sind jetzt schließlich die Herren im Land.«

    An dem Nachmittag, wo wir umziehen, bringt der Herr Knott noch Männer mit, und sie schleppen unsere Möbel aus dem Haus und aus dem Stadel von der Oma, wo auch die Sachen von Tante Berta untergestellt sind.

    »Das Wohnzimmer«, sagt Mama, »dafür war ke Platz in de zwei Zimmerle. «

    Tante Berta geht die ganze Zeit hinter den Männern her.

    »Owacht uff de Korb, do sin Gläser un Gschirr drin, owacht uff de Schpiegl, owacht uff des Eck vom Büffe. Owacht, owacht, uffbasse, owacht.«

    Der Herr Knott dreht sich zu ihr um. »Guade Frau, mir macha des ned zum erschdn Moi.«

    Tante Berta schaut ihn an, sagt aber nix.

    Dann ist der Lastwagen voll und schaukelt davon, mit Papa und Tante Berta hintendrauf, mitten unter den Möbeln.

    Am nächsten Nachmittag holen die Männer den Rest, unsere Betten und was sonst noch rumsteht und uns gehört. Sie beschweren sich bei Mama über das enge Treppenhaus. »Nauf in zwoatn Stock und die Schinderei mit dene schwarn Möbel und da muaß schon no a bißl was draufglegt wern. Möglichst a paar Zigarettn.«

    Oma steht die ganze Zeit an der Haustür und schaut zu. Sie hat die Hände über ihrem Bauch übereinander gelegt und macht ihr mißmutiges Gesicht. Der Herr Pfarrer ist auch gekommen zum Beichtzettel und ein Stückl Geräuchertes abholen. Oma ist eine sehr fromme Frau, der Herr Pfarrer ist oft bei ihr. Und jedes Mal geht er mit einem Päckchen unterm Arm ins Dorf zurück. »Ah, ihre Flüchtling ziagn aus.«

    Papa dreht sich mitten im Aufladen um. Sein Kopf ist ganz rot. »Jawoll Herr Pfarrer, der Sohn von der Frau Daschner und sei Familie ziagn aus.«

    Der Herr Pfarrer schaut ganz komisch den Papa an und dann die Oma. Die schaut nur gerade aus und sagt nichts.

    »Ist das Ihr Sohn? Das habe ich ja gar nicht gewußt. Soso, Sie sind der Sohn. Das hab ich wirklich nicht gewußt.«

    Papa gibt ihm keine Antwort.

    Die Schwester vom Papa kommt aus dem Stall und sie und Opa schauen auch zu, wie wir ausziehen. Oma tätschelt meinem Bruder Heinz den Kopf, dann sagt sie »Pfüad enk« zu Mama und Tante Berta, hält ihnen die Hand hin und schaut dabei auf die andere Seite. Mich sieht sie gar nicht. Der Herr Pfarrer sagt »gesegnete Reise«. Tante Resl, die Schwester vom Papa, zupft an ihrer Schürze und sagt nichts.

    Papa wischt sich sein Gesicht am Ärmel ab. »So, jetz seids ihr dran.« Er hebt Heinz und mich auf den Lastwagen und wir sitzen neben Tante Berta und Mama auf einer Barrasdecke auf dem Boden. Wir haben es ganz bequem so, mit dem Rücken gegen das Küchenbuffet zum Anlehnen. Heinz und ich müssen viel lachen, wie wir fahren, weil wir hin- und herfallen und hochhopsen. Tante Berta sagt: »Hört endlich uff demit« und daß sie froh ist, »wenn diese Umzieherei endlich e End hat und alles unter Dach und Fach ist.«

    Heinz ruft: »Schau, schau«, und streckt den Arm aus und ich schau auf das Haus mit bloß zwei Mauern und einem großen Steinhaufen daneben und einem Steinhaufen mitten im Haus mit vielen kaputten Holzbalken drauf. Es hat keinen ersten Stock wie das Haus von Oma und es ist auch kein Dach drauf und eigentlich ist es gar kein Haus, weil man bei einem richtigen Haus nicht von einem Lastauto aus in die Zimmer schauen kann und bunte Wände sieht.

    Heinz ist aufgeregt. »Tante Berta, warum sind da so viele Häuser kaputt? « Er zeigt nach vorn und nach hinten, die Straße rauf und runter.

    »Ach Jesses Kinder, des isch von de Bombe, des isch alles kaputt durch de Krieg.« Zu Mama sagt sie: »Straubing ham se in de letschde Däg jo noch schnell bombardiere misse.«

    Das Lastauto hält vor einem riesengroßen Haus mit einem riesenhohen Turm. Papa hebt uns runter, einer der Männer hilft Mama und Tante Berta. Mama sagt, sie ist ganz kreuzlahm von dem »Geschockl wesche de viele Löcher in der Schtroß«.

    Nachdem wir alle oben sind in der neuen Wohnung samt dem Rest unserer Möbel, fragt Papa den Herrn Knott: »Und was bin i jetzt schuldig für des Ganze?« Er will eine Stange Zigaretten, Lucky Strike, und Reichsmark, »obwohl ma für die heitzudags sowieso nix mehr kriagt«.

    Heinz zupft mich am Ärmel und flüstert: »Warum will er sie dann?« Aber laut sagt er das natürlich nicht wegen Papa, der einem wegen so was Vorlautem gleich eine runterhaut.

    Meine Eltern laufen in der Wohnung hin und her und schieben die Möbel immer wieder woanders hin, weil man sie so schlecht stellen kann wegen der schrägen Decke und weil überhaupt so wenig Platz ist. Mama sagt, da waren die Zimmer in Straßburg ganz was anderes und die Möbel haben da was gleichgesehen.

    »Sei froh, daß mir jetz des do hän.« Tante Berta geht das Gejammere auf die Nerven. »Odder willsch widr zruck zu dinnere Schwiegermutter?« Sie zieht laut die Luft durch die Nase. »Ich wär a liewer in Schtroßburi gebliewe.«

    O Straßburg, du wunderschöne Stadt ...

    In Straßburg haben wir gewohnt, bevor wir zur Oma gezogen sind. Wenn Tante Berta gute Laune hat, singt sie manchmal »o Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt«. Und von einem Soldaten, der darin »gewohnet hat«.

    Ich erinnere nur noch ganz wenig von der Wohnung in Straßburg. An ein großes Zimmer, in das die Sonne gescheint hat, und man ist durch eine weiße Tür mit Glasfenster auf einen Balkon gegangen und hat auf kleinen Stühlen an einem kleinen Tisch gesessen und der Tisch und die kleinen Stühle haben nur dem Heinz und mir gehört. Und zwischen Stäben durch haben wir auf Menschen und Hunde und Frauen mit Kinderwagen und manchmal auf einen Mann auf einem Motorrad geschaut und es war einem nie langweilig, wenn Mama uns erlaubte, draußen zu sitzen und zu schauen und zu spielen. Einmal hat mich Mama lange nicht auf den Balkon gehen lassen zur Strafe, weil ich meine Puppe vom Balkon auf die Straße hab fallen lassen. Mama war schrecklich bös auf mich und Papa hat mir gleich eine runtergehauen, weil ich die Puppe, »noch dezu aus Porzellan«, hat Mama gesagt, »und geschtern hosch se erscht von Dorothee gekrischt«, gleich kaputt gemacht hab.

    Ich wollt sie aber gar nicht kaputt machen, ich wollt nur hören, ob sie aua schreit, wenn sie unten auf dem Pflaster ankommt. Aber Mama und Papa haben das nicht verstanden und Papa hat gesagt: »Was du in die Finger kriegst, ist gleich kaputt. Dir sollt ma überhaupt nix gebn.«

    Heinz und ich sind in Straßburg auch in den Kindergarten gegangen. Der hat »École maternelle« geheißen. Die Kindergärtnerin hat einem gesagt, hier wird nur Deutsch gesprochen und alle Kinder haben gefälligst Kindergarten zu sagen. Sie hat uns bunte Knete gegeben und wir haben daraus Tiere geformt und Bäume und Häuser. Oder bunte Glasperlen zum Ketten auffädeln. Das war langweilig und ich hab mir davon ein paar in die Nase gesteckt. Die Kindergärtnerin hat geschrien: »Ach Gott, das Kind ist ja ganz blau im Gesicht!« Und dann war ich auf ihrem Arm und sie ist ganz schnell mit mir durch die Straße gerannt zum Haus vom Doktor. Der hat mit einem Ding, zu dem er Pinzette gesagt hat, in meine Nasenlöcher gelangt und die Perlen wieder rausgeholt. Dann mußte ich an der Hand von der Kindergärtnerin zur Mama heim. Mama hat ein ganz weißes Gesicht gekriegt und mich geschüttelt und geschrien, sie »dachtelt« mich, daß ich nicht mehr sitzen kann, »wenn du sowas nochemol machsch!«

    Ich bin dann nicht mehr gern in den Kindergarten gegangen. Ich hab hinter der großen Säule am Eingang gewartet, bis mein Bruder Heinz im Bubeneingang verschwunden war, und bin wieder heim. Mama hat geschimpft, sie möcht gern wissen, was da wieder in mich gefahren ist und womit sie so ein Kind mit so einem Dickkopf verdient hat und Heinz muß in Zukunft warten, bis ich ganz sicher in den Eingang für Mädchen hineingegangen bin. Mama ist dann zu dem Polizisten an der Straßenecke gegangen. Der ist immer da gestanden und hat auf die Leute aufgepaßt, damit sie nicht auf die Straße gehen, wenn sie nicht sollen, und er hat die Arme einmal dahin und einmal dorthin gestreckt oder hat gewunken mit seinen Händen in den weißen Handschuhen und sich dabei umgedreht und die Straßenbahn und die Autos fahren lassen, wie er wollte.

    Der Polizist war sehr nett zu Mama, weil mein Papa auch Polizist ist und er Mama kennt und er hat zu Mama gesagt, er wird in Zukunft aufpassen und mich gleich zurückführen, »wenn sie wieder ausbüxt«, und dann haben beide gelacht.

    Der Turmspeicher

    In unserer neuen Wohnung sind Heinz und ich überall im Weg. Aber Mama läßt uns nicht auf die Straße. »Ihr kennt euch überhaupt noch net aus und überall laufe amerikanische Soldate rum. Schtimmt doch, odder, Tante Berta?«

    Die nickt. »Joo, des schtimmt. Und ma weiß jo net, was die mache. Geht uff de Schpeicher und schpielt e bißl.«

    Wir gehen durch das Zimmer, das unser Wohnzimmer werden soll, in den Speicher. Man muß dazu nur durch eine schmale weiße Tür gehen und dahinter durch noch eine Tür und dann ist man schon drin.

    »Uiii!« Uns bleibt der Mund offen. »Da paßt ja des ganze Haus von der Oma nei!«

    Mein Bruder geht gleich auf Erkundigung. Bis zu den zwei kleinen Fenstern am Ende geh ich mit. Eins ist auf der einen Seite von einer runden Ausbuchtung, das andere auf der anderen.

    »Geh du an des Fenster, ich bleib an dem da!« Heinz sagt mir immer, was ich machen soll, er ist der Ältere, und die dürfen das.

    Wir schauen auf einen großen Platz, der so lang ist, daß er gar nicht mehr aufhört. Die Häuser an seiner Seite sind ganz hoch, mit Zacken an den Dächern und vielen Fenstern. In der Mitte ist was Rundes mit einer Figur. »Ein Springbrunnen«, sagt Heinz.

    »Und das da ganz unten? Da wo der Platz aufhört?«

    »Ein steinernes Tor oder so was.«

    Hinter dem Tor steht wieder ein Turm, fast so hoch wie unser Turm, zu dem sie Stadtturm sagen. Heinz sagt: »Des is der Wasserturm.«

    Ich frag ihn, ob der Turm voll Wasser ist, weil er so heißt, aber er sagt, das weiß er auch nicht.

    Neben dem Tor steht nur noch ein halbes Haus, durch die Fenster sieht man den blauen Himmel. Und ein Stück vorher ist ein großer Steinhaufen, Steine, zersplittertes Holz, Eisen, alles durcheinander und übereinander.

    »Ruinen, Schutthaufen«, sagt Heinz. Der Schutthaufen war auch einmal ein Haus.

    Mein Bruder Heinz ist viel älter als ich. Fünfzehn Monate, sagt Mama. Darum weiß er auch mehr. Und er darf sich auch viel mehr erlauben als ich. »Der isch älter als du un es isch e Bu.« Manchmal wünsch ich mir ganz fest, öfter als nur einmal im Jahr Geburtstag zu haben, obwohl die Erwachsenen von einem erwarten, daß man hoffentlich jetzt bald mehr Vernunft zeigt, weil man ja wieder ein Jahr älter ist. Aber dann hol ich ihn bald ein und bin sogar ein bißchen älter als er, weil er im Dezember geboren ist, und dann gibts keine Extras mehr.

    Wir haben bald genug vom Hinunterschauen und steigen auf eine Treppe, die mitten im Speicher ist und ausschaut wie die Hühnerleiter bei der Oma zum Hühnerstall hinauf, nur größer und mit einem Geländer an einer Seite zum Festhalten. Mitten auf der Treppe dreh ich mich um und schau runter. Mir wird im Kopf ganz komisch und meine Beine wackeln. Ich halt mich am Geländer fest, was mir aber nicht viel hilft, weil das Geländer auch wackelt. Wenn ich jetzt Heinz rufe und ihm sage, daß ich nicht weitergehe wegen wackelnder Beine, nimmt er mich wahrscheinlich nie mehr mit. Eine Schwester zu haben ist eine Plage, ein Bruder wäre ihm viel lieber.

    Wenn Mama oder Tante Berta uns jetzt holen zum Nachtessen und uns erwischen, dann gibt's was, weil wir nirgends raufsteigen sollen. Haben sie extra gesagt. Tante Berta schimpft gleich mit einem, wenn man nicht tut, was sie sagt. Und Mama gibt ihr immer recht.

    Ich setz mich auf die Stufe und warte.

    Heinz ist jetzt ganz oben.

    »Komm rauf!«

    »Wir dürfen doch nicht.«

    Wenn ich ihm sage, ich trau mich nicht, bin ich für den Rest meines Lebens ein Angsthase.

    »Dann bleib unten, und weh, du erzählst was!«

    Er spaziert oben auf den Brettern unterm Dach entlang.

    »Was isn da hinten?«

    »Weiß nicht, da seh ich nichts mehr, da ist es zu dunkel. Vielleicht geht's da um den Turm rum.« Er dreht sich um und geht ganz vorsichtig auf den Brettern zurück.

    »Morgen steig ich nochmal rauf, aber mit der Taschenlampe.«

    Da bin ich aber neugierig, wie er das machen will. Die Taschenlampe gehört Papa und der mag es überhaupt nicht, daß wir die nehmen. Es ist seine Diensttaschenlampe, mit weißem und rotem und grünem Glas vorne dran, je nachdem, wie rum man an dem Knopf oben dreht.

    Papa sagt, das ist zum Signalisieren, zum Zeichen geben. Und daß man ganz schlecht eine Batterie kriegt in der heutigen Zeit für »so a Lampn«. Und wenn er eins von uns »derwischt, das die Lampn nimmt und damit rumspielt, dann kann es was erlebn«.

    Endlich kommt Heinz die Leiter wieder runter, rückwärts. Ich geh ihm nach, auch rückwärts. Da geht das Runterkommen leichter.

    Wir laufen ein paar Mal auf dem Speicher hin und her und um die dicken Balken herum, die in der Mitte stehen und bis unters Dach hinaufgehen, und wir hupfen über den Balken, der in der Mitte auf dem Boden liegt, rüber, nüber, rüber, nüber. Es wirbelt mächtig Staub auf, wenn mir mit beiden Füßen auf den Dielen landen. Wir können ihn ganz gut sehen in den Sonnenlichtstreifen von den großen Fenstern an den langen Seiten vom Speicher. Und riechen kann man ihn auch.

    Mama holt uns zum Nachtessen. »Was isch denn des für e Gschrei, des ihr do macht.« Sie prophezeit uns, »daß mir net lang do hinne wohne dirfe, wenn ihr eich so uffiehrt. Und wie seht ihr denn aus, dreckisch wie e Kohleklau.«

    Wir müssen uns sofort am Ausguß in der Küche gründlich waschen, Gesicht und Hände bis rauf zu den Ellbogen. »Rubbl feschter, daß der Dreck weggeht, sonscht kommsch du mir net an de Disch.« Mama guckt sich unsere Hände genau an, dreht sie hin und her und dann sitzen wir schließlich alle am Küchentisch und essen Brot mit Apfelmus und trinken Pfefferminztee von der Pfefferminze vom Bach bei der Oma. Die Erwachsenen trinken Muckefuck. Tante Berta hat die Gerste dazu selber im Backofen geröstet und mit unserer Kaffeemühle gemahlen.

    »So, jetzt ab ins Bett!« Mama hält jedem von uns einen Schlafanzug hin. Die hat sie aus einem alten Tischtuch für uns genäht. »Schlafanzüg sin notwendiger als e Dischdeck.«

    »Och, Mama, s is doch noch ganz hell.« Heinz und ich sagen das wie mit einer Stimme.

    »Ke Widderred, sunsch loß isch eisch morsche de ganze Dag in de Küch uffm Stuhl sitze und ich hab dann endlich e Ruh.«

    Wir glauben nicht, Mama macht so was wirklich, aber es ist vielleicht doch besser, sie nicht zu reizen.

    Wir können uns im Bett ja noch was erzählen, bis Tante Berta kommt und wir den Mund halten müssen, damit sie einschlafen kann.

    Tante Berta schläft im Bett neben mir, im Bett von Mama, ich hab das Bett von Papa gekriegt. Mein Kinderbett hat Mama der Bauersfrau von der Haid gegeben und die gibt uns in Zukunft Eier dafür, wenn der Papa zum Hamstern kommt.

    Bevor ich mich umleg, schau ich mir noch ein bißl das große Bild über meinem Kopf an mit dem heiligen Schutzengel, der bei Blitz und Donner einen Buben mit seiner Schwester über eine Brücke führt. Durch seine Hilfe kommen sie wahrscheinlich hinüber, ohne in das Wasser zu fallen, das ganz wild unter ihnen dahinrauscht, daß es nur so schäumt. Genau kann man das aber nicht wissen, weil sie noch mitten auf dem halb kaputten Brückenbrett sind.

    Ich muß keine Angst haben in dem großen Bett und dem Zimmer mit der schrägen Decke über mir, weil der heilige Schutzengel und mein Bruder da sind. Für Heinz ist die Couch unten an unseren Füßen quergestellt. Wenn ich an mein Fußende krieche, kann ich mich über die Bettstatt lehnen und mit ihm flüstern und die Großen können uns nicht hören.

    Mama und Papa haben ihr Schlafzimmer gleich neben der Küche, sie schlafen im großen Bett von Tante Berta. »Es ist ein französisches«, sagt sie, und sie ist mächtig stolz darauf, weil es keine Ritze hat und: »So e Bett het mr in Dütschland selte, wenn sogar überhaupt net.«

    Papa sagt, sie soll nicht so angeben mit ihrem französischen Zeug und in dem Bett »schlaft ma um kein Deut besser als in jedem andern aa«.

    Es dauert ein paar Tage, bis alle Möbel ihren Platz haben. Die von Tante Berta, ihr runder Wohnzimmertisch und die Stühle mit der geschnitzten Lehne und ihr Küchenbuffet, »des hab ich nünzehhundertzwölf gekauft wie ich ghürot hab«, stehen auf dem Speicher hinter einer grauen Barrasdecke, die Papa an einem Balken aufgehängt hat. Zusammen mit der Wand auf der einen und dem Wohnzimmerbuffet auf der anderen Seite gibt das so was wie ein kleines Zimmer.

    Tante Berta ist entsetzt, weil bei zwei von ihren Stühlen Löcher in der geflochtenen Sitzfläche sind. Mäuse im Stadel von der Oma haben sie hineingefressen. »Ich hab min ganzes Leewe uffgebaßt druff und de Bombeangriff hän se au überstande. Und jetz des!« Sie langt mit dem Finger in eins der Löcher und dreht den Stuhl hin und her und begutachtet das Loch von allen Seiten. Ich bin froh, daß sie nicht sagen kann, daß eins von uns das war. An Löchern jeglicher Art sind immer Heinz oder ich schuld.

    Mama sagt, Tante Berta könne doch sicher die zwei Stühle verschmerzen, sie müsse sich »jetz da nicht so uffhalte driwwer«. Es ist sowieso ein Wunder, daß so viele Möbel die Bomben überstanden haben. »Die Buwe von der Hajott, der Hitlerjugend, sin jo a glei do gewese zum Lösche un hawe die Möbl iwer de Balkon noch unne abgseilt.«

    »De Flichtling« bei der Oma

    Mama hat Heinz und mir schon oft erzählt, daß wir bei Oma auf dem Land wohnen, weil wir ausgebombt worden sind. Sie war mit uns in Speyer bei der »Mudda«. Die Mudda ist die Mama von Mama, und da waren wir für ein paar Tage zu Besuch. In der Zeit haben die Amerikaner Bomben auf den Rheinhafen von Straßburg geworfen und auch noch gleich ein paar auf die Wohnviertel in der Nähe.

    »Eier Vadder hot immer gsagt, wenn ke Zeit mehr isch, um in de Luftschutzkeller zu gehe, setzt eisch bei em Bumbeangriff unner die Kellertrepp, des isch de sicherschte Platz im ganze Haus.«

    Wie wir wieder heimgekommen sind, war die ganze hintere Wand vom Haus weg samt der Hälfte vom Küchenschrank, der Herd, der Boiler fürs warme Wasser und die Kellertreppe. Die Bombe war schräg durchs Haus gegangen. Und ein paar Häuser am Rotkreuzplatz, da wo Tante Berta gewohnt hat, waren auch kaputt. Und der Kindergarten mitsamt der Schule. Bis auf den Eingang mit den hohen Säulen, der war noch ganz.

    »Wenn wir die Tante Berta net g'habt hätte, hätt ich net gewißt, was ich mache soll. Eier Vadder war im Kriesch un isch mit meune zwee Kinner alläh.« Mama sagt, Tante Berta sei sehr resolut, wovon ich nicht weiß, was das heißt, und sie ist ganz resolut zu jemand auf der Bahn gegangen und nach zwei Tagen hatte sie einen leeren Güterwaggon organisiert für zwei Stangen Zigaretten und eine Stange Geld und »wir sind grad noch rauskomme, bevor die Bombardierung weitergange isch«. Und alles deswegen, weil die Tante Berta so resolut war und nicht nachgegeben hat. Und wir sollen dankbar dafür sein, »daß des alles so gut geloffe isch«.

    Papa hat gesagt, wir sollen zu seiner Mutter aufs Land. Die hat ein halbleeres Haus und dort in Niederbayern sind wir sicher. Mama hat Oma ein Telegramm geschickt, daß wir kommen, weil wir keine Wohnung mehr haben. Papa ist nicht mit uns gefahren, weil er im Krieg bleiben hat müssen.

    Der Güterwaggon hat unsere Sachen nach Straubing gebracht und der Herr Knott von Heidersbach mit seinem Lastauto alles bis zur Oma. Oma steht vor dem Haus als wir ankommen, mit einem langen Rock an und einem weißen Tuch auf dem Kopf. Das ist komisch, weil in Straßburg haben nur die Schwestern im Kindergarten einen langen Rock angehabt. Normale Frauen nicht. Neben Oma steht eine andere Frau, mit einer komischen Frisur. Sie hat sich die Haare um den Kopf gewickelt und ihr Rock ist fast genauso lang wie von der Frau, die meine Oma ist. Und sie hat rote Haare. Mama sagt: »Des isch eier Tante Resl, die Schwester von eierm Vadder. Und jetz gebt emol schön die Hand.«

    Oma will unsere Hände nicht. Sie hat ihre über ihrem Bauch gefaltet auf einer blauen Schürze und macht keinerlei Anzeichen, sich zu bewegen oder so. Unsere Tante Resl macht ein mürrisches Gesicht, so wie Tante Berta, wenn ihr was nicht paßt, und sie will unsere Hände auch nicht. Das ist sehr ungezogen, weil man eine ausgestreckte Hand nehmen muß und dazu vielleicht noch einen Knicks macht.

    Oma schaut erst Mama und dann Tante Berta an. »Und des is oiso de Elsässerin, de s etzat aa no daherbringts. I hab sowieso s Haus scho voi mit dene eiquartiertn Offiziere. Und etzat ös aa no, noamoi vier Leit mera.«

    Oma redet ganz anders als Mama und Tante Berta. So wie Papa, wenn er sich wieder über uns ärgern muß. Ich muß sehr aufpassen, daß ich sie verstehe, damit ich weiß, was sie von mir erwartet, wenn sie mit mir redet. Erwachsene erwarten immer was von einem, wenn sie mit einem reden. Und vielleicht schaut Oma dann auch ein bißchen freundlicher, wenn ich mache, was sie will.

    Oben im Zimmer sagt Tante Berta zu Mama, sie hofft, »daß des net so lang dürt, daß mir do hinne sin«. Ob die Mama gesehen hat, mit was für »em giftige Blick« uns die Alte fixiert hat?

    Wir sind nicht die einzigen Fremden bei Oma im Haus. Ganz nah im Wald sind ein Munitionsdepot und ein Truppenübungsplatz und Soldaten, die im Wald in Erdhöhlen hausen und auf die Munition aufpassen müssen. Die Herren Offiziere wohnen bei Oma im großen Zimmer mit dem Kachelofen und in einem kleineren Zimmer daneben. Sie haben komische Hosen an und Schuhe bis zu den Knien rauf, Reithosen und Stiefel, sagt Mama, und die knallen beim Gehen fürchterlich laut auf dem Pflaster im Flez, was der Gang bei Oma ist. Omas Mizi und Opas Waldi verschwinden immer ganz schnell bei dem Krach und ich hab auch Angst und versteck mich unter dem Treppenaufgang, wo mich keiner sieht, bis sie vorbei sind und in ihrem Zimmer verschwinden.

    »Und geht ja nie in eins von dene Zimmer, sonsch gibts was!« Mama schaut uns streng an. Und vor allem sollen wir keinen Krach machen. Wir versprechen es hoch und heilig, wir werden leise sein, um den Herrn Kommandeur und seinen Adjutanten nie zu stören. Und wir müssen auch ganz fest versprechen, nie etwas draußen auf der Wiese oder im Wald aufzuheben, wenn wir etwas finden. Schon gar nicht, wenn es aus Metall ist, aus Eisen oder sowas. »Und aa net, wenns noch so schee glitzert. Ich will net dauernd Angscht um eich hawe misse.«

    Mama und Tante Berta reden jetzt oft über irgendwas, von dem ich überhaupt nicht weiß, was das heißt, und wenn ich frage: »Was heißt'n des?«, sagt Tante Berta immer: »Des sin Wunderfitzli in Essig gedunkt«, und ich soll nicht so neugierig sein, sonst muß ich aus dem Zimmer. Kinder sollen nicht so viel fragen. Wer nichts weiß, kann auch nichts verraten. Und basta.

    Weil wir keine Küche haben, kocht Mama für alle in der Küche von Oma. Oma sagt, wir sind Flüchtlinge. Mama wird dann jedes Mal rot vor Zorn. »Die wees ganz genau, daß mir ausgebombt sin un ke Flichtling. Die sagt des mit Absicht, weil Flichtling e Schimpfwort isch für die Alte. Die loßt uns iwerall schbiere, daß se uns net hawe will.«

    Tante Berta hilft Oma überall, wo sie gebraucht wird, im Haus und im Garten. Oma braucht Tante Berta fast den ganzen Tag. Nur in den Stall geht Tante Berta nicht. »Um ihri Viecher muß se sich selber kümmere, ich kann net au noch melke und d' Sei fittere un de Schtall usmischte.« Tante Berta ist oft wütend über Oma, »die loßt mich schufte und butze und mache. Un samstags muß ich a noch ihre Kich butze un sie sitzt mit em Romanheftl uffem Sofa hinterm Disch und schlenkert mit de Fiß un ich muß unter ihr de Dreck wegbutze un um sie rumdackle. Ich könnt ere grad de Butzlumbe um die Ohre haue.« Sie fuchtelt mit den Armen durch die Luft.

    Oma sagt, es kann sich »niemand vorstelln, wia ihr oft der Kopf wehduat«, und sogar »der Kambe duat auf der Kopfhaut weh und des laßt sich nur ertragn, wenn i mi ganz ruhig auf'd Ottoman setz«. Sie langt sich dabei an die Stirn und schaut ganz wehleidig.

    Tante Berta sagt zu Mama: »Die kämmt sich sowieso net, die wescht ihre Grind sowieso bloß einmal im Johr, des sieht ma doch, wie schpekkig die Hoor sin und für die Kopfhaut wärs viellicht s beschte Mittl, wenn se öfter Wasser und Seif sehe dät.« Und wer lesen kann, dem tut auch nicht der Kopf weh.

    Mama macht unser Zimmerle sauber und sie strickt für die Kinder von der Bauersfrau auf der Haid Pullover und kurze Hosen und Jacken, alles aus handgesponnener Schafwolle, mit grünen Nußschalen gefärbt, damit sie braun wird.

    »Die Woll macht em die ganze Finger kaputt, so rauh isch die.« Sie betrachtet den roten Striemen an ihrem Zeigefinger. »E Salb, daß se widda heile, hama net.«

    Tante Berta bringt Mama Kernseife, »des isch unser letzter Rescht«. Lauwarmes Wasser mit Kernseife soll sie sich machen, das heilt auch, sogar »besser wie jedi Salb«. Wenn Mama nicht mehr stricken kann wegen dem kaputten Zeigefinger, näht sie aus alten Kleidern neue für die Kinder von dem Bauernhof, wo wir manchmal hingehen, und sie kriegt dafür Eier und Milch und Mehl und manchmal ein Stückl Butter von einem länglichen goldgelben Laibl. Oma gibt Mama auch manchmal Milch. Mama ist dann immer wütend. »Die sollt sich schäme, daß sie für ihre Enkelkinder net emol en Liter Milch iwerisch hot un ich den jedesmol mit fünfzig Pfennig bezahle muß. Un Miet miße ma aa zahle für des Loch do.«

    Mama mag Oma nicht und Oma mag Mama nicht und uns auch alle nicht, »Stodterer, de ko ma aufm Land ned braucha«, sie mag nur meinen Bruder Heinz. Der braucht sie nur anzuschauen mit seinen großen blauen Augen und seinem Kopf voll mit den schönen goldglänzenden Locken, »Hat er net Locke wie Gold?«, sagt Mama immer, wenn sie ihn kämmt. Er braucht nur seinen Kopf ein bißchen schief halten und ein bißchen den Mund verziehen, dann kann er alles von ihr kriegen. Sogar Pfannkuchen mit Zucker drauf. Oma stellt sich dann selber an den Herd mit dem großen Feuer drin und tut Teig in eine eiserne Pfanne. Wenn dann der Pfannkuchen so wunderbar riecht und sie ihn gleich auf den Teller tun wird und man schon schlucken muß, damit die Spucke im Mund wieder weniger wird, dann dreht sich Oma zu mir um und sagt: »Und du gehst etzat zu deina Muada, de soi da wos zum Essn macha.« Und sie schiebt mich zur Tür hinaus und macht von innen den kleinen Riegel vor. Ich schau dann durch das Schlüsselloch auf meinen Bruder, ob er wirklich den ganzen Pfannkuchen allein ißt oder für mich ein kleines Stückl aufhebt.

    Mama sagt, ich soll aufhören mit Weinen, wenn sie wieder Eier hat, macht sie auch Pfannkuchen und ich kann davon soviel verdrücken, wie ich nur in mich hineinbring.

    Opa sehen wir nur ganz selten. Er geht jeden Tag in den Wald. Tante Berta sagt, das macht er nur, »damit er sich net de ganze Dag des Gekeif von sinnere Alte anhöre muß«. Ich schau ihm zu, wie er seine Lederstutzen um die Wadeln schnallt und es dann ausschaut wie die Stiefel vom Herrn Kommandeur, nur nicht so fein und glänzend. Dann nimmt er seinen Rucksack, und Dackel Waldi springt von seinem Platz auf und hupft um Opa rum, weil er mitdarf. Ich hoffe, daß vielleicht diesmal die Möglichkeit für mich besteht, daß Opa mich auch mitnimmt.

    »Opa, darf ich mitgehn?« Er nimmt seine Pfeife zwischen den Zähnen raus.

    »Naa, di konn i net braucha.«

    Betteln nützt nichts, das macht ihn nur richtig fuchtig.

    Vielleicht nimmt mich Opa nur deswegen nicht mit, weil er gar nicht mein richtiger Opa ist. Mein richtiger Opa tät mir ganz bestimmt den Wald zeigen und mir sagen, wie die Schwammerl heißen, die er zum Kochen mit heimbringt, und im Wald gibt's ja auch viele Tiere, die er mir zeigen könnt. Füchse und Rehe und Hasen gibt's da, sagt Tante Berta. Aber mein richtiger Opa ist schon lange tot, »im Erschte Weltkrieg gfalle wie minr Mann au«. Tante Berta wischt sich immer die Augen, wenn sie vom »Erschte Weltkrieg« und ihrem Mann redet, der »nimme heimkomme isch«. Und er hat auch nicht ein einziges Mal seine kleine Tochter gesehen, weil er da schon tot war, wie sie auf die Welt gekommen ist.

    Opa hat einen riesigen Schnauzbart und darunter immer seine Pfeife. Die hat er im Mund, aber den sieht man nicht, so mächtig ist sein Schnauzer. Der Tabak für seine Bip wächst im kleinen Garten neben dem Haus, dem Krautgartl von Oma. Wenn die Äpfel reif sind, ist auch die Zeit für die Tabakblätterernte. Opa schneidet die Blätter ab und ich darf ihm helfen, sie auf eine Schnur aufzufädeln. Es macht froh, Opa helfen zu dürfen, weil er da auch ein bißchen mit mir redet. Aber Mama mag das gar nicht, »guck bloß deune Finger o, wie braun die sin, un schtinke dun se aa«.

    Wenn die Blätter trocken sind, macht Opa aus jedem ein kleines Röllchen und schneidet es in feine Streifen mit seinem scharfen Messer. Er sagt, das ist sein Hirschfänger und ich frage mich, wie man mit einem Messer einen Hirsch fangen kann, der doch bestimmt genauso schnell oder vielleicht noch schneller laufen kann als das Reh, das Oma gestern aus ihrem Garten gejagt hat, weil es ihre Erbsen gefressen hat. Fragen tu ich lieber nicht, sonst schickt er mich vielleicht weg und ich darf nicht mehr zugucken.

    Bomben auf Straubing

    »Es ist Frühling«, sagt Mama, »geht e bißl uff de Hof, damit ihr e bißl frischi Luft und Sonn kriegt«, und weil sie sich mit Tante Berta »emol in Ruhe unterhalten« will, ohne daß jemand zuhört und gleich wieder neugierig fragt. Erst müssen wir aber noch stillsitzen, »schlenker net immer mit deune Fieß«, weil die Musik im Volksempfänger aufhört zu spielen und der Kuckuck ruft. Der Regensburger Kuckuck, sagen die Großen. Wenn der ruft, weiß man, daß irgendwo in Bayern der Feind ist mit seinen Bombern, irgendwo in der Luft, und seine Bomben abwerfen will auf Häuser und Menschen und alles, was in den Häusern lebt. So wie sie das Haus in Straßburg kaputt geschmissen haben und wir haben nicht mehr drin wohnen können und sind darum evakuiert worden.

    Tante Berta massiert ihre Hände, das tut sie immer, wenn sie was aufregt. Mama ist ganz weiß im Gesicht. Ihre Hand zittert, als sie am schwarzen Knopf dreht. Heinz und ich wissen, sie sucht solang, bis sie die Welle Laibach gefunden hat und die Luftlagemeldungen hören kann. Tick – tack – tick. »Pscht, jetzt kommts«, Mama geht ganz nah mit dem Ohr an den schwarzen Kasten.

    Feindliche Flugzeugstaffeln über Mühldorf, Kurs Nord!

    Tante Berta sagt. »Die komme viellicht zu uns.« »Um Gotteswille, sag sowas net.« Mama zittert noch mehr, geht im Zimmerle hin und her vor lauter Aufregung. Und dann heult die Sirene vom Dorf, auf und ab, auf und ab, Fliegeralarm. Das kennen wir von Straßburg. Das ist der Voralarm, alle Menschen müssen in den Luftschutzkeller rennen. Heinz nimmt seinen Teddy, weil der mit muß in den Luftschutzkeller, Mama holt das Luftschutzköfferle aus dem Kleiderschrank, »da sin all unsere wischtische Babiere drin«. In Straßburg sind wir bei Alarm immer in den Luftschutzkeller gelaufen, wo wir dann mit vielen Menschen zusammengesessen sind und auf das Pfeifen und Heulen und Wumm der Bomben gehorcht haben und auf die Entwarnung, daß man jetzt wieder naufgehen kann und in die eigene Wohnung.

    Tante Berta sagt: »Des kenne ma uns schbare, do gibts ken Luftschutzkeller. «

    Mama läuft mit uns auf den Gang und wieder zurück ins Zimmerle und wieder auf den Gang. Oma hat nur einen ganz kleinen Keller, da hebt sie Milch und Butter und andere Eßsachen und die Knollen von den Dahlien drin auf, aber wir haben da keinen Platz.

    »In de Schtadl brüche mir aa net laufe, der brennt glich wie Zunder und im Bunker bei de Soldate im Wald fliegsch sowieso glich in die Luft mit dere ganze Munition.« Tante Berta hat sich schon x-mal überlegt, wo wir sicher sind, »wenns emol zunem Angriff kommt. Mir bliewe do am Fenschter und luie, wo se hifliege.« Tante Berta macht das Gangfenster auf, wir horchen auf das Brummen in der Luft, das bis in meinen Bauch runtergeht und immer lauter wird und meinen Bauch zum Zittern bringt. Tante Berta hängt den Kopf aus dem Fenster, um genau zu sehen, wo die Bomber jetzt sind.

    »Tante Berta, net, net, tu de Kopf wieder nei, wenn se dich sehn, schmeißen sie gleich e Bomb auf dich ab.« Ich zieh Tante Berta am Kleid.

    »Loß des, die könne mich net sehe, minr Kopf isch viel zu klein. Un die sin noch witt eweg.«

    Ich laß ihr Kleid los, ich muß weinen, weil ich so Angst hab, daß sie vielleicht doch eine Bombe Tante Berta auf den Kopf fallen lassen.

    »Jetz sin se über Straubing un fliege witersch, die lade ihre Bumbe Gottseidank woandersch ab.« Mama und Tante Berta wechseln immer wieder den Platz am Fenster, jede will sehen, ob die Gefahr »Gottseidank wieder emol vorbei isch«.

    »Die meine net Straubing«, sagt Mama, »die fliege bestimmt dohi, wo Industrie isch, in Straubing gibts jo nix.«

    »Mama, derf ich a amal schaun?« Sie hebt mich hoch, »weil du sonsch sowieso ke Ruh gibsch. Do niwwer musch gucke.« Sie dreht meinen Kopf in eine gewisse Richtung. Ich schau in den blauen Himmel, ich seh lauter kleine silbrige Vögel, die immer größer werden. »Mama, da sind lauter farbige Kugeln in der Luft!« Mama läßt mich fast auf den Boden fallen, so schnell setzt sie mich ab. »O Gott, Chrischtbäum! Die markieren ihr Ziel, die markieren Straubing!«

    Und dann ist da, wo die Stadt Straubing liegt, der Himmel voll mit Flugzeugen und aus ihnen fallen Striche und schwarze Wolken steigen auf und die Luft kracht und pfeift und das Haus von Oma wackelt.

    »Hör uff zu hile, uns passiert nix, die sin zu witt eweg von uns.« Tante Berta nimmt mich auf den Arm, wischt mir die Tränen aus dem Gesicht. »Jesses Gott, Jesses Gott, die arme Mensche in der Schtadt.«

    »So vieli Bumbe, so vieli Einschläg. Un die höre immer noch net uff.«

    Am Abend ist der Himmel rot, da wo Straubing ist, und eine große Wolke über der Stadt ist gelb und grau und Tante Berta sagt, es brennt noch immer.

    »E dreiviertelte Stund hän se bombardiert, ich möcht bloß wisse, was, was da so wichtig gewäse isch.« Mama und Tante Berta und Oma und Opa und sogar die Resl macht einmal ihren Mund auf, sagt Mama, und sie reden nur noch von den vielen Bombern und dem Ami, der wahrscheinlich die ganze Stadt zamghaut hat.

    Später suchen Mama und Tante Berta wieder am Volksempfänger Empfang. Es kracht und krächzt und dann hört man doch was und Tante Berta ruft ganz laut: »Gottseidank, die Amerikaner sin schun iwwer de Rhin, de Krieg isch bald üs.«

    Mama wird wieder ganz weiß im Gesicht. »Um Gotteswille, bisch net ruhig, wenn dich einer hört!« Am Volksempfänger drehen und Feindpropaganda hören kann einen den Kopf kosten, sagen die Erwachsenen. Und Heinz und ich dürfen nie, nie darüber reden, daß sie das machen, sonst werden wir alle eingesperrt, bis wir tot sind oder so oder wir sterben schon vorher, weil sie uns windelweich schlagen.

    Mama geht auf den Gang und schaut, ob vielleicht jemand draußen ist und zugehört hat. Tante Berta dreht derweil noch ein bißl am schwarzen Knopf vom Volksempfänger und das Krachen und Krächzen hört auf. Dafür gibt's schöne Marschmusik und dann redet ein Mann über einen Endsieg und das deutsche Volk wird weiterkämpfen und durchhalten bis zum letzten Atemzug. Tante Berta sagt: »Dem dreh ich jetz den Hals um«, und sie schaltet den Volksempfänger aus.

    Hochverrat!

    Nach dem Bombenangriff auf Straubing hat der Herr Kommandeur noch fürchterlich mit Tante Berta gestritten, weil sie ein Leintuch am Besenstiel aus dem Fenster gehängt hat. Er hat mit seiner Pistole vor ihrem Gesicht rumgefuchtelt und gesagt, daß er sie erschießt, wenn sie es nicht sofort wieder reinholt, und er hat geschrien: »Das ist Hochverrat! « Tante Berta hat einen ganz roten Kopf gehabt und auch geschrien: »Sie hän grad s Meß, sich die ganz Zit ufm Baurehof zu verkrieche und die anderen werden an der Front zum Krüppel geschossen un jetz wolle Sie de Helde schpiele«, und er soll »gottverdammich mache, daß er fortkommt«, bevor ihn die Ami schnappen. Ob er nicht glaubt, daß uns die Amerikaner alle erschießen und ihn zu allererst und er soll seine Beine in die Hand nehmen und abhauen, bevor sie da sind. »Der Krieg isch sowieso schun längscht verlore.« Der Herr Kommandeur schreit, sie soll ihr Schandmaul halten, das ist Hochverrat, Hochverrat, und seine Stimme überschlägt sich und er ringt nach Luft und fuchtelt immer noch mit der Pistole. Tante Berta ist auf einmal ganz ruhig: »Drehen Sie sich um und schauen Sie die Kinder an, die da hinter Ihnen stehen, und dann schießen Sie, wenn sie Ihnen nicht leid tun.«

    Der Herr Kommandeur war dann auf einmal verschwunden und der Herr Adjutant auch, ihre schönen Uniformen haben sie aber vergessen. Die sind im Zimmer auf der Bank neben dem Kachelofen gelegen. Tante Berta hat sie genommen und ist damit in den Kuhstall gegangen. Als sie wiederkommt, setzt sie sich auf die unterste Stufe der Treppe, was sie sonst nie macht. »Der war wirklich so borniert und hat geglaubt, er kann den Krieg noch gewinne. Und der hat riskiert, daß mir mit der ganzen Munition und allem in die Luft fliegen.« Sie legt den Kopf auf die Arme auf ihren Knien, was sie auch noch nie gemacht hat, und ihre Schultern fangen an zu wackeln und man hört ein seltsames Geräusch. Mama setzt sich auch auf die Stufe und fängt an zu weinen und weil Mama und Tante Berta so traurig sind und wir Tante Berta noch nie haben weinen sehen, müssen Heinz und ich auch weinen und so sitzen wir alle auf der Treppe und weinen.

    Tante Berta holt später noch ein Leintuch und hängt es an den Telegrafenmasten an der Hofeinfahrt.

    Am Abend sagt ein Mann im Volksempfänger, unser Führer Adolf Hitler ist heute am Nachmittag auf den Stufen der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen. Ich versteh gar nix von dem, was der meint, aber Tante Berta strahlt, »Gottseidank, jetz isches vorbi«. Mama aber hat Angst vor dem, was jetzt noch alles auf uns zukommt.

    Die Sieger kommen!

    Die Amerikaner kommen mit zwei Panzern. Sie springen auf den Boden und schreien: »out, out, come out«, und fuchteln mit Pistolen und Gewehren herum. Wir sind aber sowieso schon alle auf dem Hof, weil die Panzer so einen Krach gemacht haben, daß wir alle herausgelaufen sind, um zu sehen, was da los ist. Nur Tante Resl ist gleich in der Holzleg verschwunden, wie sie die Soldaten gesehen hat. Zwei Amerikaner bleiben an der Haustür stehen, sie halten sich das Gewehr vor den Bauch, und zwei gehen ins Haus, »out, out, come out«. Die anderen laufen in den Stall zu den Kühen und den Schweinen, »out, out, come out«, und einer schnappt sich die Mistgabel und stochert damit im Heu im Stadel herum. Wir stehen immer noch im Hof, die Amis an der Haustür schauen zu uns her und dann wieder in den Hausgang, immer noch mit den Gewehren vor dem Bauch. Tante Berta sagt: »Wie lang dürt denn des noch, do holt ma sich jo de Bips bei dem Rege.« Ich brüll auf einmal los, weil mir so kalt ist und der Matsch auf dem Hof geht durch meine Hausschuhe und macht meine Füße zu Eis und aufs Häusl muß ich auch, wenn nicht alles im nächsten Moment in meine Unterhose gehen soll. Dann kann ich was erleben von Mama. So ein Kind, das die Hosen vollmacht, ist das Letzte, was sie jetzt braucht.

    Einer von den Amerikanern nickt mit dem Kopf zu denen an der Haustür hin und Tante Berta und Mama und mein Bruder und ich dürfen wieder ins Haus. »Geh uf de Botschambr, ufs Hisl kenne ma jetz net gehe.« Das Potschamperl ist sonst nur im Notfall in der Nacht erlaubt. Das Häusl steht im Hof bei der Odlgrubn, da kann man in der Dunkelheit nicht hingehen. Und allein geh ich da sowieso nicht hin. Tante Berta geht immer mit und hält mich ab. Das Loch im Brett ist zu groß für meinen kleinen Hintern, da kann ich vielleicht durchrutschen und lande im Odl und muß dadrin ertrinken.

    Die Amis sind immer noch im Haus und suchen jetzt im Kleiderschrank und im Küchenschrank und unterm Bett. Mama sagt: »Ogottogott, die were doch nix finde und uns alle mitnemme.«

    Fast jeden Tag kommen jetzt Amerikaner und suchen im Haus und im Wald und schließlich kommen sie mit einem Lastwagen und nehmen alles mit, was die Soldaten im Wald dagelassen haben. Mama sagt, die suchen eigentlich Soldaten, aber gottlob ist keiner mehr da.

    Den Opa haben sie nach seinem Gewehr gefragt, aber der hat keins mehr gehabt, weil er es im Wald vergraben hat. Wir haben strengstes Stillschweigen geloben müssen, »ihr seid mucksmäuschenstill, wenn euch einer was fragt, gebt ja ke Antwort, habt ihr des verschtande?«, weil wir des eigentlich überhaupt als solches nicht wissen dürfen und das den Opa um einen Kopf kürzer macht.

    Ein Fremder im Hof

    Heinz kommt ins Zimmerle. »Mama ,da ist ein Mann auf dem Hof, der will zu uns.«

    »Isch es e Amerikaner?«

    »Nein, ein Fremder mit einem Fahrrad.«

    »Jesses Gott, de Kari!« Mama und Tante Berta laufen zu dem Mann hin und umarmen ihn und Mama sagt: »Des isch eier Babba.« Der Mann sagt zu mir: »Da is ja mei Herzkäferl«, und hebt mich hoch und drückt sein Gesicht an mein Gesicht. Ich mach mich ganz steif und drück ihn mit den Armen weg, weil das so stachelt und weil ich mich auf keinen Fall von jemand auf den Arm nehmen lassen darf, hat Tante Berta gesagt, »wenn du's net mit mir zu dun hawe wilsch«.

    »Die kennt mich gar nimma, ja, kennst du dein Vadder nimmer?« Der Mann stellt mich auf den Boden und nimmt Heinz auf den Arm.

    »Du bist vielleicht schwer worn. Kennst du mi a nimmer?«

    »Doch.« Heinz nickt. »Bleibst du jetzt bei uns?«

    Papa schläft in einer kleinen Kammer oben unterm Dach, weil in unserem Zimmerle kein Platz mehr für ihn ist.

    »Ich mecht wisse, warum die Alt net gseit het, er kann im Zimmer vom Adjudant schlofe.« Tante Berta sagt, daß es einfach net zu verstehen ist, daß man als Mutter so zu seinem Sohn sein kann. »Die wird emol zu allerunderscht in der Höll lande.« Hoffentlich.

    Papa hat von jemand gehört, der Krieg ist aus, und hoppladihopp hat er seinen Karabiner weggeworfen und nix wie weg, sich ein Fahrrad geschnappt, das einfach so rumgestanden ist, und ist immer in der Nacht ein Stück gefahren, von Holland bis zu uns. Am Tag hat er sich versteckt, damit ihn keiner über den Haufen schießen kann.

    Mama und Tante Berta sitzen am Küchentisch und hören ihm zu und sagen: »O Jesses« und »gibts des«, und schütteln den Kopf oder nicken. Heinz und ich wissen nicht, wo Holland ist, aber wir fragen nicht, sonst müssen wir vielleicht aus dem Zimmer gehen und wir hören nicht, was erzählt wird. Wir hätten nie geglaubt, daß sich ein Erwachsener versteckt oder daß man ihn erschießen will. Papa sagt, er ist einige Wochen unterwegs gewesen, weil es welche gegeben hat, die einfach nicht geglaubt haben, daß der Krieg aus ist, und so verrückt waren, ihre eigenen Landsleute als Deserteure zu erschießen. Heinz und ich wissen schon wieder nicht, was ein Deserteur ist. Aber die Erwachsenen kann man nicht fragen, die sagen einem bloß: »Das ist sowieso nicht für deine Ohren bestimmt und weh ihr erzählt auch nur einen Mucks.« Sie reden vor einem über alles, obwohl sie nicht wollen, daß man zuhört, weil sie glauben, man versteht sowieso nichts, weil man noch so klein ist.

    Es sind noch oft Amerikaner auf den Hof von Oma gekommen und haben überall rumgesucht, im Haus und im Stall und im Stadel und in der Holzleg. Papa hat sich derweil in den Brennesseln unten an der Quelle vom Bach versteckt. Mama ist jedesmal kreidebleich und zitternd dagestanden. »Ich schwitz jedesmol Blut und Wasser vor Angscht, daß sich eins von de Kinner verplappert oder irgendeine andere Person ihn hinhängt. Man weiß jo nie, ob net jemand so boshaft isch!« Und sie fragt sich sowieso, wieso einer von dene Ami so gut deutsch kann und alles Mögliche wissen will.

    Wie färbt man Wolle?

    Mama und Tante Berta sitzen jede an ihrem Küchenfenster, von wo aus man so schön in die Simon-Höller-Straße schauen kann, und reden über das Leben in der Stadt und das Leben jetzt nach dem Krieg als solchem.

    »Sie hawe die Läwensmittelratione schun widda gekürzt, nume noch tausendzweihundert Kalorie.«

    Tante Berta holt tief Luft und bläst sie durch den Mund wieder raus, daß es zischt.

    »Zum Läwe zu wenisch und zum Sterwe zu viel. Wie soll unsereiner da noch arweite könne.« Sie

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